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Wer war Rosa Parks wirklich?

Von Paul Rogat Loeb - ZNet 31.10.2005

Wie stellen wir unsere Helden dar? Daraus lässt sich so Einiges lernen. Vor ein paar Jahren wurde ich am ‘Martin Luther King Day’ von CNN interviewt - gemeinsam mit Rosa Parks. Sie war uns aus Los Angeles live per Telefon zugeschaltet. Der TV-Host sagte: “Es ist uns eine Ehre, Sie bei uns zu haben. Rosa Parks - das ist die Frau, die nicht in den hinteren Teil des Busses steigen wollte. Sie wollte nicht aufstehen und ihren Sitzplatz im Weißenbereich einer weißen Person überlassen. Dies hat den Busboykott von Montgomery ausgelöst, der ein Jahr lang dauerte und Rosa Parks den Titel ‘Mutter der Bürgerrechtsbewegung’ eintrug”.

Ich fand es natürlich spannend, Parks Stimme zu hören und an einer Veranstaltung mit ihr teilzunehmen, aber dann fiel mir auf, dass der Host den Montgomery-Busboykott völlig aus dem Zusammenhang riss. Er schilderte die Standardversion, die heute selbst in vielen Trauerfeierlichkeiten für Parks wiederholt wird. Vor jenem Vorfall, als Parks sich weigerte, ihren Sitzplatz freizugeben, war sie bereits 12 Jahre im NAACP 1 von Montgomery aktiv, sogar als Sekretärin. Im Sommer vor ihrer Verhaftung hatte sie ein zehntägiges Trainingsprogramm im Highlander Center absolviert. Das Center war eine Organisierungseinrichtung der Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegung in Tennessee. Dort traf Parks auf die ältere Bürgerrechtlergeneration - Menschen, wie Septima Clark, eine Lehrerin aus South Carolina. Man diskutierte die aktuelle Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, mit der Schulen von der Sorte “separate but equal” verboten wurden. In jener Zeit lernte Parks viel, sie engagierte sich und machte sich mit früheren Kämpfen gegen die Rassentrennung vertraut: Schon vor 50 Jahren hatte es in Montgomery einen Busboykott gegeben, der prompt zur Lockerung einiger Verbote geführt hatte. In Baton Rouge hatte es zwei Jahre zuvor einen Busboykott gegeben, der bedingt erfolgreich war. Und im Frühjahr vor Parks Aktion hatte eine junge Frau aus Montgomery sich geweigert, in den hinteren Teil eines Busses zu steigen. Der NAACP hatte damals überlegt, mit dem Fall vor Gericht zu gehen. Als sich allerdings herausstellte, dass die junge Frau schwanger und ledig war, war man davon abgerückt, weil sie kein gutes Aushängeschild für eine Kampagne gewesen wäre.

Kurz gesagt, es stimmt nicht, dass Rosa Parks Entscheidung spontan und aus dem Bauch heraus erfolgte. Sie war nicht die einzige Mutter des Bürgerrechtsaktivismus, sie war Teil einer Bewegung für Wandel - einer Bewegung, die schon existierte, als noch wenig Aussicht auf Erfolg bestand. Wir alle kennen den Namen Rosa Parks, aber nur Wenige kennen E.D. Nixon (Vorsitzender des NAACP Montgomery). Nixon war der Erste, der Martin Luther King ins Spiel brachte und einer von Parks Mentoren. Er arbeitete als Zuggepäckträger und war aktiv in der Brotherhood of Sleeping Car Porters (Bruderschaft der Schlafwagengepäckträger), einer Gewerkschaft gegründet von dem legendären Bürgerrechtsaktivisten A. Philip Randolph. Auch Randolph spielte bei der Buskampagne eine entscheidende Rolle. Dennoch spricht heute keiner mehr von ihm - oder von JoAnn Robinson, die damals in einem unterfinanzierten segregierten College für Schwarze unterrichtete. Das College lag gleich um die Ecke, und die ersten Flugblätter nach Parks Verhaftung wurden vom ‘Women’s Political Council’ des College verteilt. Ohne die oft sehr einsame Arbeit von Leuten wie Nixon, Randolph oder Robinson hätte Parks es wohl nie durchgezogen - und wenn doch, dann nicht mit dieser Wirkung.

Damit soll die Kraft, die historische Bedeutung, die von Parks Weigerung, ihren Sitzplatz aufzugeben ausging, keineswegs herabgewürdigt werden. Aber wir sollten uns aufgrund obiger Fakten daran erinnern, dass dieser so ungeheuerlich konsequente Akt und alles, was daraus erfolgte, letztendlich auf jener bescheidenen, frustrierenden Arbeit beruhte, die Parks und viele andere im Vorfeld leisteten. Und wir sollten uns daran erinnern, dass Parks Entscheidung, sich zu engagieren, nicht minder mutig und wichtig war wie ihre Standhaftigkeit im Bus, von der wir alle erfahren haben.

Menschen wie Rosa Parks dienen uns als Rollenvorbilder für unser soziales Engagement. Aber aus den Reaktionen auf meine Vorträge, die ich im ganzen Land halte, lässt sich schließen, dass nur wenige amerikanische Bürger die ganze Story von Parks und ihrem Engagement kennen. Die konventionelle, abgedroschene Geschichte, die ständig wiederholt wird, nährt die Vorstellung eines unerreichbaren Standards. Es wäre sogar möglich, dass dieser hohe Standard uns unser Engagement erschwert und dass die Hoffnung - Parks machtvollste Lektion - unweigerlich unter die Räder gerät.

Die konventionelle Version der Geschichte suggeriert: Soziale Aktivisten kommen aus dem Nichts - um urplötzlich ihren dramatischen Auftritt zu haben. Sie suggeriert, wir sind immer dann am erfolgreichsten, wenn wir als Einzelkämpfer auftreten (zumindest am Anfang), dass Veränderung über Nacht kommt und nicht aus einer Serie von Aktionen, die oft nicht einmal wahrgenommen werden. Der Mythos Rosa Parks, der Mythos der einsamen Aktivistin, stärkt die Vorstellung, dass wer sich engagiert und öffentliche Standhaftigkeit beweist - oder zumindest öffentliche Wirkung - überlebensgroß sein muss, dass diese Personen stets über ein Mehr an Courage, Wissen, Energie, Zeit und Visionen verfügen als wir Normalbürger. Dieser Glaube durchdringt die Gesellschaft - was zum Teil auch daran liegt, dass unsere Medien dazu neigen, historische Veränderung nicht als Werk des kleinen Mannes / der kleinen Frau darzustellen (dabei ist Veränderung so gut wie immer deren Werk).

Aber sobald wir unsere Helden auf ein Podest stellen, fällt es Normalsterblichen schwer, in unseren Augen zu bestehen. Hält einer eine Rede, sind wir geneigt, den Motiven, dem Wissen und dem strategischen Ansatz dieser Person zu misstrauen. Es fehle ihm/ihr an Größe und Heroismus. Wir mäkeln herum, weil diese Person vielleicht nicht alle Zahlen und Tatsachen parat hat oder weil sie nicht auf jede Frage die passende Antwort weiß. Und wir zweifeln an uns selbst, weil wir nicht über jedes Detail verfügen, weil wir uns unsicher fühlen, weil wir Zweifel haben. Für uns ist es unvorstellbar, dass in einem edlen sozialen Kampf ganz normale Menschen mit ganz normalen Macken den Ausschlag geben könnten.

Die, die tatsächlich handeln, sind keineswegs perfekt und haben allen Grund, zurückhaltend zu sein. “Ich denke, wenn Leute, die sich für soziale Veränderung engagieren, wie Heilige präsentiert werden, leistet uns das allen einen Bärendienst”, wenn sie präsentiert werden, “als seien sie viel nobler als der Rest von uns”, meint beispielsweise die junge afro-amerikanische Aktivistin Sonya Tinsley aus Atlanta. “Wir gewinnen dadurch den falschen Eindruck, sie seien vom Moment ihrer Geburt an zum Handeln berufen, sie hätten niemals Zweifel und wären in eine Art Heiligenschein gebadet. Viel inspirierender ist es, wenn ich erfahre, wie Menschen es trotz ihrer Zweifel und Unzulänglichkeiten geschafft haben. Ihr Image wirkt viel weniger einschüchternd. Es gibt mir das Gefühl, dass auch ich die Chance habe, etwas zu verändern”. Vor kurzem war Sonya auf einer Veranstaltung mit einem von Martin Luther Kings alten Morehouse Professoren. Der Professor erzählte, dass King in der ersten Zeit auf dem Morehouse College schwer zu kämpfen gehabt habe. Seinen ersten Philosophie-Kursus habe King nur mit einem mageren ‘C’ abgeschlossen. “Ich fand das sehr inspirierend”, sagt Sonya. “Wenn man bedenkt, was King alles erreicht hat. Es gibt mir das Gefühl, dass alles möglich ist”.

Dass unsere Kultur die Story der Rosa Parks fehlinterpretiert, zeugt von einer generellen und kollektiven Amnesie. Die besten Beispiele, die uns zu Mut, Hoffnung und Skrupeln inspirieren könnten - wir haben sie schlicht vergessen. So wissen die meisten von uns praktisch nichts mehr über die vielen Kämpfe, in denen Frauen und Männer für Freiheit fochten, für mehr Demokratie oder eine gerechtere Gesellschaft - es sei denn, diese Kämpfe fanden in (offensichtlichen) Zeiten des militärischen Konflikts statt. Aus der Zeit der Abolitionsbewegung oder aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung sind uns allenfalls noch die Namen einiger wichtiger Führer bekannt - wobei deren Geschichte häufig noch fehlinterpretiert wird. Noch weit weniger wissen wir beispielsweise über die sogenannten Populisten um die Jahrhundertwende, die gegen verfestigte Wirtschaftinteressen zu Felde zogen und für ein “Kooperatives Commonwealth”. Oder wer kann noch etwas über die Gewerkschaftsbewegung sagen, die die 80-Stunden-Woche bekämpfte - 80 Stunden Arbeit für einen Lohn, der fast zum Hungertod führte? Wer kennt sich noch mit den Ursprüngen unserer Sozialversicherung aus (die heutzutage bedroht ist durch systematische Privatisierungsversuche)? Oder wie konnte die Frauenbewegung - die sogenannten Suffragetten - genug Kräfte bündeln, um nicht unterzugehen und sich über Hunderte von Städten auszubreiten?

Mit der schwindenden Erinnerung an all diese Ereignisse verblasst auch das Wissen um die Mechanismen, mit denen soziale Graswurzel-Bewegungen in früheren Zeiten erfolgreich eine Veränderung des öffentlichen Bewusstseins herbeiführen und die institutionelle Macht in ihren Schützengräben herausfordern konnten. Es verblasst das Wissen darum, wie die Aktivisten jener Bewegungen es schaffen konnten, weiterzumachen und Situationen zu meistern, die mindestens ebenso harsch waren wie jene, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen. Ich möchte Sie nochmals daran erinnern, dass es unterschiedliche Arten gibt, Rosa Parks historische Tat zu porträtieren. Laut vorherrschendem Mythos handelte Parks isoliert, fast aus einer Art Laune heraus. Sie sei eine heilige Unschuld gewesen, jungfräulich in punkto Politik. Die Lehre, die wir anscheinend daraus ziehen sollen: Wenn es dich urplötzlich juckt, etwas vergleichbar Heroisches zu tun - toll, nur zu. Aber natürlich überkommt es die meisten von uns nicht, und so warten wir ein Leben lang auf den richtigen Moment.

Die wahre Geschichte der Rosa Parks kennt eine andere Moral - eine, die uns weit eher empowert. Parks startete mit vergleichsweise kleinen Schritten. Sie besuchte ein Meeting, dann noch eins. Sie half, eine Gemeinschaft aufzubauen - eine Gemeinschaft, die sie wiederum auf ihrem Weg unterstützte. Am Anfang war Rosa Parks eher zögerlich, aber als sie den Mund aufmachte, wuchs ihr Selbstvertrauen. Parks machte weiter - trotz extrem unsicherer Umstände. Sie und die anderen legten sich, so gut sie konnten, mit den tiefverwurzelten Ungerechtigkeiten an. Die Erfolgsaussichten waren mehr als zweifelhaft. Hätten Parks oder die anderen nach 10 oder 11 Jahren Arbeit aufgegeben, Montgomery wäre uns vermutlich heute kein Begriff.

Rosa Parks Beispiel sollte uns Mahnung sein. Eine Sache mag noch so aussichtslos erscheinen, es kann immer eine Person geben, die eine zweite Person unbewusst inspiriert, diese wiederum vielleicht eine dritte, und schließlich verändert es die Welt - oder zumindest eine Ecke davon. Es war Rosas Mann Raymond, der sie eines Tages überzeugte, ein Treffen des NAACP zu besuchen. Dies war der erste Schritt auf ihrem Weg nach Montgomery, der erste Schritt, an jenem schicksalhaften Tag in den Bus zu steigen. Wer hat Raymond Parks inspiriert und warum? Warum hat sich diese Person überhaupt die Mühe gemacht? Welche Erfahrungen formten die Perspektiven, die Überzeugungen all jener Personen? Jede Kette, die zu etwas Bestimmtem führt (chain of influence), besteht aus zahlreichen Gliedern - zu zahlreich und komplex, um identifiziert zu werden. Wir wissen um diese Kette, wir wissen, dass es uns freisteht, Teil dieser Kette zu sein und dass dauerhafte Veränderung ohne Ketten dieser Art unmöglich ist. Diese Erkenntnis ist mit die wichtigste Quelle, damit wir die Hoffnung nicht verlieren - vor allem in jenen Augenblicken, in denen uns unsere Taten zu nichtig erscheinen, um etwas bewirken zu können.

Letzter Punkt: Veränderung ist das Ergebnis unablässigen bewussten Handelns, zu dem wir uns verbünden, um eine bessere Welt zu schaffen - das zeigt uns Rosa Parks Reise. Manchmal wird unser Kampf scheitern. Auch Parks war zuvor mit vielen ihrer Anstrengungen gescheitert - ein Schicksal, das sie mit Zeitgenossen und Vorgängern teilte. Es wird Zeiten geben, da unsere Kämpfe uns bescheidene Früchte eintragen werden, und es wird Zeiten geben, da unsere Kämpfe, wie durch ein Wunder, eine Lawine an Mut und Beherztheit lostreten werden - wie damals, als Rosa Parks verhaftet wurde (und danach). Aber nur wenn wir handeln - trotz all unserer Unsicherheit und Zweifel -, haben wir letztendlich die Chance auf Veränderung der Geschichte.

Paul Rogat Loeb ist Autor von ‘Living With Conviction in a Cynical Time’ und ‘The Impossible Will Take a Little While: A Citizen’s Guide to Hope in a Time of Fear’ (ausgezeichnet mit dem Nautilus Award for ‘best social change book of the year’) www.paulloeb.org Sie können Paul Loebs monatlichen Artikel (auf Englisch) abonnieren über sympa@onenw.org (Stichwort: subscribe paulloeb-articles).

Anmerkung d. Übersetzerin:

1 National Association for the Advancement of Coloured People www.naacp.org

Quelle: ZNet Deutschland vom 05.11.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: The Real Rosa Parks

Veröffentlicht am

05. November 2005

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