Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Fluchtwege im Atomzeitalter

Von Wolfgang Sternstein

Eine schlechthin neue Situation
ist durch die Atombombe geschaffen.
Entweder wird die gesamte Menschheit
physisch zugrundegehen,
oder der Mensch wird sich in seinem
sittlich-politischen Zustand wandeln.
Karl Jaspers
——-

Wenn ein Arzt einem Patienten eröffnet, er habe Krebs und werde nach menschlichem Ermessen höchstens noch ein halbes Jahr leben, so löst er damit gewöhnlich einen schweren Schock aus. Ist er überwunden, beginnt sich der Patient auf die eine oder andere Art zu verändern. Er kann nicht so weiterleben wie bisher. Entweder setzt er alle Hebel in Bewegung, um die Krankheit zu überwinden, oder er versinkt in einer abgrundtiefen Depression, oder er findet sich resignierend mit seinem Schicksal ab, oder er verändert sein Leben so, dass er ohne Furcht dem Tod ins Auge blicken kann. Kurzum, er reagiert auf die ärztliche Diagnose. Wenn dagegen Wissenschaftler, Schriftsteller, Philosophen von Rang mit dem Blick auf die Atomwaffen eine tödliche Krankheit der Menschheit diagnostizieren, so geschieht nichts, obwohl wir doch alle und spätestens unsere Kinder und Enkel von dieser tödlichen Bedrohung betroffen sein werden. Dieser Widerspruch ist erklärungsbedürftig. Folgende Fragen drängen sich auf:

Werden die Warnungen nicht ernst genommen, weil die Warner unglaubwürdig sind?

Dagegen spricht, es sind so bedeutende Persönlichkeiten darunter, wie Albert Einstein, Albert Schweitzer, Bertrand Russell, Günther Anders, Carl Friedrich von Weizsäcker, Robert Jungk, Karl Jaspers und Mahatma Gandhi. Selbst unter den Politikern und Militärs gibt es Stimmen, die mit überzeugenden Argumenten die Gefahr eines nuklearen Holocaust beschwören, so der ehemalige Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow und der Oberkommandierende der amerikanischen Atomstreitmacht unter George Bush senior, General George Lee Butler sowie 61 Generäle und Admiräle aus den USA, Russland und anderen Ländern. An ihrer Kompetenz gibt es keinen Zweifel, selbst wenn die Möglichkeit des Irrtums auch bei ihnen niemals ausgeschlossen werden kann.

Erreichen die Warnungen die Adressaten überhaupt?

In dieser Hinsicht sind Zweifel angebracht. Die Massenmedien, zu denen sich seit einigen Jahren als ultimativer Hit der “Informationsgesellschaft” das Internet gesellt, produzieren eine Flut von Informationen, in denen die Warnungen untergehen. Sie erreichen bestenfalls die wenigen Menschen, die durch ihre Einstellung und ihre Lebensweise aufnahmebereit sind.

Das war schon einmal anders. In den frühen Achtzigern griffen die Massenmedien die Warnungen der Fachleute auf. Sie thematisierten die Existenzbedrohung der Menschen in Mitteleuropa durch einen Atomkrieg zwischen den Supermächten und erzeugten dadurch ein Bewusstsein der Betroffenheit in weiten Kreisen der Bevölkerung. Dabei blieb es nicht. Viele wurden aktiv. Sie nahmen an Demonstrationen teil, in geringerer Zahl auch an gewaltfreien Aktionen. Diese Massenbewegung könnte, ungeachtet mancher Schwächen und Konflikte im einzelnen ein Vorbild für eine weltweite Massenbewegung mit dem Ziel der völligen Abschaffung der Atomwaffen sein. Dagegen spricht: Die tödliche Gefahr, in der wir alle schweben, müsste erst zum Bewusstsein gebracht werden. Dem stehen mächtige Interessen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik entgegen. Selbst wenn es gelänge, dieses Bewusstsein zu schaffen, lässt es sich nicht auf Dauer stellen. Vielmehr besteht die Gefahr einer Übersättigung der Öffentlichkeit, die zum Teil auch eine Reaktion auf hysterische Übertreibungen auf Seiten der Warner sein mag, wie das Mitte der achtziger Jahre ja auch der Fall war. Zusätzlich verstärkt wurde der Übersättigungseffekt durch das scheinbare Verschwinden der Bedrohung mit dem unverhofften Ende des Kalten Krieges.

Sind wir überhaupt in der Lage, das Ausmaß der atomaren Bedrohung zu erfassen?

Günther Anders beantwortet die Frage mit einem klaren Nein. Er sagt, wir seien außerstande, uns vorzustellen, was wir anzustellen imstande sind. Die biologische Ausstattung des Menschen, die sich in Jahrmillionen entwickelt habe, beschränke sein Vorstellungsvermögen auf das räumlich und zeitlich Naheliegende. Eine Bedrohung würde folglich erst wahrgenommen, wenn sie in diesen engen Raum- und Zeithorizont eintrete. Das klingt plausibel, erklärt aber nicht, weshalb Einzelne zumindest ahnungsweise das Ausmaß der Bedrohung zu erfassen vermögen, inklusive Günther Anders selbst. Mir scheint ein anderer Erklärungsansatz weiter zu führen.

Angesichts der Vielzahl von Anforderungen, die das Leben an uns stellt - Sorge um die Familie, den Arbeitsplatz, die Karriere, das tägliche Brot, die Erziehung der Kinder, die Konflikte in Familie, Verwandtschaft und Bekanntschaft sowie der berechtigte Wunsch nach Erholung und Unterhaltung - erstellen wir bewusst und mehr noch unbewusst eine Prioritätenliste, in der die uns unmittelbar betreffenden Anforderungen ganz oben und die zeitlich und räumlich entfernteren Anforderungen weiter unten rangieren. Die Bedrohung der Existenz der Menschheit durch Atomwaffen, durch die Ökokatastrophe, durch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Mächtig und Machtlos in der Welt rangieren deshalb auf der Prioritätenliste des Einzelnen, wenn überhaupt, weit unten. Das erklärt auch, weshalb die Protestbewegung gegen die “Nachrüstung” die Massen ergriff, denn die atomare Bedrohung trat damals in den zeitlich und räumlich engen Kreis der Anforderungen des Lebens an den Einzelnen ein und wurde folglich als solche wahrgenommen. Hinzu kam, dass eine Verhinderung der Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen durch Proteste und Aktionen möglich erschien.

Es bleibt indes nicht nur beim niedrigen Rang in der Prioritätenliste. Die atomare Gefahr wird, wie andere Gefahren auch, nicht selten völlig aus dem Bewusstsein verdrängt, sofern sie überhaupt jemals dort einen Platz gehabt hat. Anders nennt das treffend die “Apokalypseblindheit” der meisten Menschen. Es gibt sogar eine Steigerung der Apokalypseblindheit. Er nennt sie “Apokalypsestumpfheit” und glaubt sie bei den Menschen beobachten zu können, die von ihm und anderen eindringlich auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht wurden und dennoch in einem Zustand psychisch-moralischer Gefühllosigkeit verharren. Die Warnungen stoßen, wie die berechtigten Rufe der Kassandra bei ihren Landsleuten, auf Ablehnung, Unglauben und Spott.

Warum verdrängen wir die atomare Bedrohung?

Eine erste Antwort lautet: Aus einem Gefühl der Inkompetenz heraus, dem nur durch intensive und zeitaufwändige Beschäftigung mit dem Thema abgeholfen werden könnte. Die Zeit dazu haben aber nur wenige. Die meisten Menschen fühlen sich außerstande, in einer Diskussion mit redegewandten und informierten Kontrahenten zu bestehen.

Eine zweite Antwort ist: Wir fühlen uns nicht zuständig, voll in Anspruch genommen durch Beruf, Familie und Freizeitbeschäftigungen, die der Wiederherstellung unserer Arbeitskraft dienen, wie wir sind. Wir sagen mit einigem Recht, wir können uns nicht um alles kümmern. Diese Probleme fallen in die Zuständigkeit der Politiker, die wir dafür teuer bezahlen.

Eine dritte Antwort lautet: Wir fühlen uns als Einzelne und selbst als Gruppe machtlos angesichts der überwältigenden Übermacht des Militärisch-Industriellen-Komplexes mit seinen Ausläufern in Politik, Gesellschaft, Massenmedien und Wissenschaft. Wir haben weder das Geld noch die Ausdauer, die nötig sind, um einen solchen Konflikt durchzuhalten.

Eine vierte Antwort könnte sein: Mehr unbewusst als bewusst fühlen wir, dass Atomwaffen nötig sind, um unseren Besitz gegenüber den berechtigten Ansprüchen der Armen, denen er aufgrund der Mechanismen der Weltwirtschaft geraubt wurde, zu verteidigen. Diese Einsicht hat schon Franz von Assisi in zeitlos gültiger Form zum Ausdruck gebracht, als er dem Bischof von Assisi auf seine Bemerkung: “Euer Leben scheint mir hart: nichts Irdisches zu besitzen ist schwer”, entgegnete: “Herr, wollten wir etwas besitzen, so müssten wir auch Waffen zu unserer Verteidigung haben. Daher kommen ja die Streitereien und Kämpfe, die die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen hindern. Darum wollen wir in dieser Welt nichts Irdisches besitzen.” Die Forderung nach Abschaffung der Atomwaffen, ja der Kriegswaffen überhaupt, kann folglich nur glaubwürdig erhoben werden, wo sie verbunden ist mit der Bereitschaft, auf Reichtum, Macht und Privilegien zugunsten der Armen zu verzichten.

Eine fünfte Antwort könnte schließlich sein: Wir erkennen, dass Widerspruch und Widerstand gegen Atomwaffen mit beträchtlichen Risiken verbunden ist. Wir ziehen es daher vor, lieber zu schweigen, als uns der Gefahr auszusetzen, benachteiligt und angefeindet, womöglich gar verfolgt und getötet zu werden. Wer als Lehrer, als Pfarrer, als Dozent, Journalist, Künstler oder Schriftsteller, als Wissenschaftler, Anwalt oder Arzt auf die atomare Gefahr hinweist und zum Widerspruch und Widerstand auffordert, eckt an, verliert Patienten oder Klienten, wird von Kollegen gemobbt oder von Vorgesetzten unter Druck gesetzt. Er verliert Privilegien, wird gesellschaftlich isoliert und beruflich in den Ruin getrieben, vielleicht sogar ins Gefängnis gesteckt. Wem wollte man es verdenken, wenn er Angst vor derartigen Folgen hat?

Für diejenigen, die sich dennoch, von ihrer Einsicht oder ihrem Gewissen getrieben, der Herausforderung der Atomwaffen stellen, bietet sich als Ausweg die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Gegenstand an. Sie ist meist risikolos, denn die Wissenschaft ist die Spielwiese, auf der Intellektuelle sich tummeln und einander die argumentativen Bälle zuwerfen dürfen. Ihre Forschungen sind meist gesellschaftlich wirkungslos, da sie sich einer Sprache bedienen, die nur von wenigen verstanden wird. Für die Herrschenden sind sie nützlich, wenn auch nicht so nützlich wie die Natur- und Sozialwissenschaftler, die Zerstörungswaffen und Herrschaftstechniken erfinden. Über sie hat Bert Brecht mit Recht seinen Galilei sagen lassen, sie seien “ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können”. Nützlich sind aber auch die kritischen Natur- und Sozialwissenschaftler, solange sie den wissenschaftlichen Elfenbeinturm nicht verlassen. Sie demonstrieren durch ihre Existenz die Liberalität des Systems und schaffen eine kreative Atmosphäre, die letztlich den Herrschenden zugute kommt. Soweit sie im Staatsdienst tätig sind, laufen sie an der kurzen Leine der Finanzierung durch den Staat, die sie durch ihre Kritik nur selten aufs Spiel zu setzen bereit sind.

Wissenschaftler können zwar wertvolle Fakten und Argumente liefern, um jedoch gesellschaftlich und politisch wirksam zu werden, bedarf es des lebendigen Beispiels. Das hatte wohl auch Gandhi im Sinn, als er schrieb: “Gandhische Gedanken können wohl kaum durch Bücher verbreitet werden. Am besten werden sie durch das lebendige Beispiel propagiert; nur dadurch werden Wahrheit und Gewaltfreiheit anschaulich. Wenn wir auf der einen Seite eine Million Bücher und auf der anderen nur ein einziges lebendiges Beispiel hätten: Das Beispiel wäre ungleich wertvoller.”

Obgleich ich mit der Analyse, die Karl Jaspers in seinem bereits 1959 in zweiter Auflage erschienenen Buch: “Die Atombombe und die Zukunft der Menschheit” vorlegt, und den Schlussfolgerungen, die er aus ihr ableitet, in wesentlichen Punkten nicht übereinstimme, ist doch vieles, was er schreibt, bedenkenswert. So auch das Folgende: “Unsere [Jaspers] Hoffnung ist, dass alle Menschen es [die drohende Selbstvernichtung der Menschheit] wissen werden, und dass dieses Wissen angeeignet wird und dann Folgen hat. Denn das aneignende Wissen kann allein das Unheil verhüten. Es ermöglicht nicht nur vereinzelte zweckmäßige Handlung, vielmehr dass der Mensch sich selbst und sein Leben wandelt, dass seine Grundverfassung neu geprägt wird.” Heute, fast vierzig Jahre nachdem diese Sätze geschrieben wurden, ist klar, dass nur wenige Menschen das Wissen besitzen und noch weniger es sich angeeignet haben. Für Einzelne und kleine Gruppen aber behält Jaspers’ Feststellung ihre Gültigkeit.

Die Frage bleibt, lohnt sich angesichts der pechschwarzen Wand am Horizont der Zukunft überhaupt noch die Mühe, “sich selbst und sein Leben zu wandeln”. Ist es nicht klüger, dem antiken Grundsatz des carpe diem zu huldigen? Ich denke nicht so. Unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit betrachtet, ist nichts von dem, was Gutes in der Welt geschieht, verloren, wohl aber ist alles verloren, was Böses geschieht. Mag das Böse in der Welt auch täglich tausendmal triumphieren und in der Vernichtung allen höheren Lebens auf der Erde seinen endgültigen Triumph feiern, so sind es doch lauter Pyrrhussiege, denn das Böse ist seinem Wesen nach nichtig, das Gute aber ist unvergänglich und unzerstörbar, weil es Teil hat am ewigen Sein Gottes.

Fazit: Zugegeben, diese Diagnose der tödlichen Krankheit, an der die Menschheit leidet, lässt für die Hoffnung auf Heilung wenig Raum. Wie der Patient, dem der Arzt eröffnet, er habe nach menschlichem Ermessen nur noch wenige Monate zu leben, können wir auf diese Nachricht verschieden reagieren. Durch hektische Betriebsamkeit, die die Gefahr abzuwenden sucht, durch Resignation, durch hemmungslose Lebensgier, durch abgrundtiefe Schwermut bis zum Freitod oder indem wir uns selbst und unser Leben wandeln, so dass wir nicht nur unserem individuellen, sondern auch dem kollektiven Tod ohne Angst ins Auge blicken können. Das aber ist eine pädagogische Aufgabe ohnegleichen uns selbst und anderen gegenüber.

Veröffentlicht am

26. Oktober 2005

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