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Inferno aus Versehen

Unermessliches Risiko: Durch Havarien, Irrtümer und Fehlalarmierungen steht die Welt immer wieder an der Schwelle zur nuklearen Selbstvernichtung

Von Wolfgang Kötter

Die Menschheit läuft Gefahr, sich durch einen Atomkrieg selbst zu vernichten, warnten bereits vor 50 Jahren die Nobelpreisträger Bertrand Russell und Albert Einstein in ihrem denkwürdigen Manifest . Leider ignoriert die Politik diesen von neun weiteren renommierten Wissenschaftlern unterzeichneten Appell bis heute, auch wenn die Menschheit seither immer wieder am Abgrund eines Nuklearkrieges stand. Die Apokalypse droht nicht allein durch die Hybris und Machtgier skrupelloser Politiker, sondern vor allem deshalb, weil Warnsysteme versagen oder Irrtümer zu Fehlalarmierungen in den Kernwaffenstaaten führen. Nur zu oft konnte in den vergangenen Jahrzehnten eine thermonukleare Konfrontation erst in buchstäblich vorletzter Minute abgewendet werden.

In der Nacht zum 26. September 1983 beispielsweise befehligte der 44-jährige Oberstleutnant Stanislaw Petrow die diensthabende Einheit der Kommandozentrale im Raketenwarnsystem Serpuchow-15 bei Moskau. Nach Mitternacht wird plötzlich Atomalarm ausgelöst. Der sowjetische Oko-Satellit aus der Kosmos-1382-Klasse meldet gegen 0.40 Uhr den Anflug einer amerikanischen Minuteman-Rakete. Sekunden darauf folgen Hinweise auf den Start eines zweiten, dritten, vierten und fünften Geschosses, die alle geradewegs auf die UdSSR zusteuern. Dem diensthabenden Offizier bleiben in einem solchen Fall nur fünf bis zehn Minuten, um die Flugkörper zweifelsfrei zu identifizieren. Danach muss Juri Andropow 1 , KPdSU-Generalsekretär und Oberkommandierender, informiert werden. Hätte der sich zum Abwehrschlag entschlossen, wären sieben Minuten später Interkontinental-Raketen des Typs SS-18 in Richtung Washington, New York und diverser US-Militärbasen gestartet - wie es die geltende Doktrin von der “gesicherten gegenseitigen Zerstörung” vorsah. Doch Oberstleutnant Petrow zögert, weil das Bodenwarnsystem das vom Sputnik ausgesandte Signal nicht bestätigt. Möglich, dass der Satellit durch die Einwirkung kosmischer Strahlung irritiert wurde. “Man kann die Vorgänge unmöglich in ein paar Minuten gründlich analysieren”, erklärt er den Vorfall 20 Jahre später, “sondern sich nur auf seine Intuition verlassen”. Also entscheidet Petrow intuitiv und geht von einem Fehlalarm aus. Ein nuklearer Schlagabtausch wäre ein “Atomkrieg aus Versehen”, aber mit dramatischen Konsequenzen gewesen.

Stanislaw Petrow wurde für sein Handeln weder gerügt noch ausgezeichnet. Erst über zwei Jahrzehnte später verlieh ihm die amerikanische Association of World Citizens am 21. Mai 2004 “für die Verhinderung des III. Weltkrieges den ‘Weltbürgerpreis’”.

Ein anderes Beispiel: Am 5. Oktober 1960 meldet ein amerikanisches Frühwarnradar auf Grönland einen sowjetischen Angriff mit ballistischen Raketen auf die USA. Ein Fehler im Computersystem hat zwei Nullen aus den Messkomponenten des Radars entfernt. Dadurch wird der vermeintliche Raketenangriff bei einer Distanz von 2.500 Meilen dargestellt. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Spiegelung des Mondlichts in 250.000 Meilen Entfernung.

Ein weiterer gefährlicher Zwischenfall ereignet sich am 9. November 1979 als die Wachhabenden in der Kommandozentrale des Pentagon, in den Cheyenne Mountains, sowie im zweiten Zentrum, in Fort Ritchie (Maryland), eine atomare Attacke der Sowjetunion auf ihren Computern ausmachen. Erste Angriffswarnungen gehen an die Kontrollzentren für die Minuteman-Raketen und die ebenfalls alarmierte Luftwaffe startet unverzüglich zehn atomar bestückte Kampfflugzeuge, um die feindlichen Missiles abzufangen. Gerade noch rechtzeitig stellt sich heraus - der Fehlalarm ist durch ein irrtümlich eingelegtes Trainings-Tonband ausgelöst worden.

Am 3. Juni 1980 signalisieren die Computer erneut: Die Sowjetunion beginnt mit einem massiven atomaren Angriff auf die USA. Wieder erhalten US-Interkontinentalraketen “Startwarnung”, wieder steigen die Crews in die Abfangflugzeuge, aber anders als beim Zwischenfall mit dem Übungsband erscheint der Angriff von Anfang an nicht überzeugend. Die Nachrichtensysteme vermitteln widersprüchliche Daten, einmal werden zwei Raketen angezeigt, dann wieder 200 - bis die Frühwarnsatelliten die Lage entschärfen. Wenig später wird ein fehlerhafter Computerchip als Auslöser geortet.

Am 25. Januar 1995 starten norwegische und amerikanische Wissenschaftler eine Rakete für die Datensammlung in der Erdatmosphäre. Die Flugbahn erscheint russischen Radartechnikern der einer US-Trident-Rakete zum Verwechseln ähnlich. Für einige Minuten steht Russland kurz davor, zum nuklearen Gegenschlag auf die USA auszuholen, bevor sich der Irrtum aufklärt.

1980 listete die bis heute letzte Studie des Pentagon in Sachen Nuklearhavarien für die Zeit seit 1950 32 größere Unfälle auf. Die Recherchen von Greenpeace und der norwegische Umweltstiftung Bellona lassen hingegen keinen Zweifel, dass sich bis 1989 mindestens 1.200 schwere Unglücksfälle ereigneten - von Schiffskollisionen über U-Boot-Havarien bis zu Explosionen und Bränden. Als Langzeitfolgen dieser Vorfälle lagern schätzungsweise mehr als 50 Atomsprengköpfe auf dem Meeresboden. Alle diese Zwischenfälle hätten sich zu einer Katastrophe auswachsen können - manche mögen es gewesen sein, ohne dass die Öffentlichkeit je davon erfuhr.

Inzwischen ist der Kalte Krieg längst vorbei und die weltweiten Kernwaffenarsenale sind um mehr als die Hälfte, auf etwa 28.000 Sprengköpfe, verringert worden. Ist damit die Gefahr eines irrtümlichen Atomwaffenkrieges gebannt? “Die atomaren Arsenale wurden zwar verkleinert, aber noch immer sind genügend Sprengköpfe mit hochempfindlichen Auslösern bestückt, die durch falschen Alarm oder durch einen anderen Zwischenfall abgefeuert, unabsehbare Folgen haben würden”, warnt der letzte noch lebende Unterzeichner des Russell-Einstein-Manifests , Joseph Rotblat. Gemeinsam mit 30 weiteren Nobelpreisträgern unterschrieb der 96-Jährige jüngst den Aufruf Take Nuclear Weapons Off Alert Status ( Nehmt Atomwaffen aus der Alarmbereitschaft). Der Appell ist nur zu berechtigt, denn tatsächlich befinden sich noch 4.000 strategische Kernwaffen der USA und Russlands in höchster Alarmstufe. Bei Frankreich liegt die vergleichbare Quote bei etwa 200 Systemen, auch Großbritannien lässt eines seiner strategischen U-Boote rund um die Uhr in den Weltmeeren patrouillieren. Selbst China rüstet schrittweise auf die sehr viel schneller startbereiten Feststoffraketen um.

Gemäß den Einsatzkonzepten einer sofortigen Abschussbereitschaft (“hair-trigger”) und eines Abschusses vor Eintreffen möglicher gegnerischer Flugkörper (“launch on warning”) sind inzwischen die fortgeschrittensten Raketentypen innerhalb von 15 Minuten startbereit. Diese kurzen Vorwarnzeiten steigern das Risiko einer irrtümlichen Anwendung ins Unermessliche.

Anmerkung:

1 Nach dem Tod Leonid Breschnews 1982-1984 KPdSU-Generalsekretär

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 25 vom 24.06.2005.

Veröffentlicht am

26. Juni 2005

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