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Mythen der Alliierten

Zwiespältige Motive: Für Roosevelt und Churchill war das Nazi-Regime nicht von Anbeginn das absolute Böse und die Befreiung nicht Zweck, sondern Folge des Krieges

Von Ekkehart Krippendorff

Unvergesslich werden die Bilder bleiben - die von der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Dachau durch amerikanische Soldaten. Weniger dramatisch dokumentiert ist die Befreiung von Bergen-Belsen durch die Engländer, auch weil es dort nur die furchtbaren Leichenberge zu sehen gab. Und kaum ins bildliche Bewusstsein gelangte die Übernahme jenes weitgehend geräumten Lagers am 27. Januar 1945 durch sowjetische Truppen, das zum Inbegriff der Nazi-Herrschaft und des europäischen Traumas geworden ist: Auschwitz. Wer diese Bilder sieht - und es dürfte kaum mehr jemanden geben, der nicht zu irgendeinem Zeitpunkt mit ihnen konfrontiert worden wäre - und in ihnen nicht das mit Worten unbeschreibliche Glücksgefühl der Befreiung nacherlebt, dem ist nicht zu helfen.

Der 8. Mai 1945 war nicht nur objektiv der Tag der Befreiung, er ist es inzwischen auch subjektiv für die nachgeborenen Deutschen, die sich ihrer Geschichte gestellt haben. Wir wurden befreit, von amerikanischen, englischen, russisch-sowjetischen, aber auch französischen, polnischen, tschechoslowakischen Soldaten, die - spätestens als sie die Lager betraten - dramatischer als es ihnen die eigene Kriegspropaganda hätte erklären können, erkannten, wogegen sie gekämpft hatten. Sie waren Befreier, und dürfen sich auch bis heute zu Recht so sehen.

Aber schon bei Teilen der amerikanischen Armee schlichen sich Zweifel und Fragen ein, bei den schwarzen Regimentern nämlich. Die US-Army kämpfte den Zweiten Weltkrieg “segregated”, in rassisch getrennten Einheiten, und die schwarzen Soldaten wussten sehr genau, dass sie nicht nur oft in die gefährlichsten und verlustreichsten Operationen geschickt wurden, sondern auch, dass sie Soldaten zweiter Klasse waren, so wie sie es als Bürger auch zu Hause gewesen waren und weiter sein sollten. Wie ließ sich diese unverhüllte rassische Diskriminierung vereinbaren mit dem Kriegsziel, das rassistische Regime der Nazis zu vernichten? Es war nicht vereinbar - und tatsächlich musste die Rassentrennung in der Armee 1947 aufgegeben werden (die bürgerliche sollte noch mehr als zehn Jahre halten…).

Aber der Widerspruch löst sich auf, wenn wir die historische Frage stellen: War die Zerstörung des menschenverachtenden NS-Regimes denn überhaupt der politische Zweck dieses Krieges - oder nicht lediglich seine unvermeidliche Folge? Wäre es der amerikanischen Regierung um die Vernichtung des Faschismus gegangen, so hätte sie dem Dritten Reich sehr bald nach der Machtergreifung den politischen Krieg erklären können und müssen. Wohlgemerkt: den politischen, den diplomatischen und auch den ökonomischen Krieg, nicht den mit Waffen. Schon mit dem Reichstagsbrand, dem Ermächtigungsgesetz und der anschließenden Errichtung der ersten KZs zeigte das neue Regime seinen brutalen Charakter. Parteienverbot, Austritt aus dem Völkerbund und Aufrüstung folgten rasch. Die amerikanische Öffentlichkeit - und folglich auch die Regierenden - war sehr genau über die Mord- und Entrechtungspolitik der Nazis informiert, nicht zuletzt über die Diskriminierung, Verfolgung und Enteignung der Juden. Aber diplomatische oder gar regierungsamtliche Proteste blieben aus.

Einer der Gründe dafür - und nicht der unwichtigste - war der nicht immer nur verdeckte Antisemitismus in den Medien und in der politischen Klasse. Ein anderer, strategisch wichtiger Grund war die nicht ganz falsche Erwartung, das Dritte Reich werde die Gefahr des Kommunismus in Europa bannen und seine kriegerischen Energien nach Osten wenden. Und man vergesse nicht: Die USA waren der einzige große Staat, der das (rassistisch-antikommunistische) Satellitenregime von Vichy diplomatisch anerkannte.

Zwar begann die amerikanische Regierung nach dem Fall Frankreichs, England massiv militärisch zu unterstützen, aber noch Anfang 1940 - zu Recht empört über den sowjetischen Angriffskrieg gegen Finnland, aber zugleich vor dem Hintergrund des inzwischen weltweit bekannten deutschen KZ-Terrorsystems - hatte Präsident Roosevelt über eine “breite antisowjetische Front, der die Achsenmächte Deutschland und Italien ebenso angehören sollten wie alle westlichen Demokratien”, nachgedacht. Für ihn war das Nazi-Regime nicht von Anbeginn jenes auszugrenzende absolute Böse, zu dem es erst ab 1941 wurde, als Hitler den Vereinigten Staaten den Krieg erklärte - und nicht etwa umgekehrt. Der “menschenrechtliche Antifaschismus” war im Kalkül der Regierenden eine ideologische Spätgeburt zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerungen. Mit der Befreiung 1945 wurde er dann aufs Eindrucksvollste legitimiert - auf Kosten der bis heute nicht deutlich ausgesprochenen historischen Wahrheiten.

Mit Hitler hatten sie alle gespielt, wie er auch mit ihnen - nur war er dann der größere Vabanque-Spieler gewesen, der seinen eigenen Wahnvorstellungen erlag. Mit Stalins “Antifaschismus” war es ebensowenig weit her wie mit dem von Winston Churchill: Der eine machte bekanntlich zwecks Machterhalt seinen angeblich nur taktischen Pakt mit dem Teufel (und überstellte ihm geflüchtete prominente Nazi-Gegner), der andere spielte noch bis kurz vor dem Ende mit der auch von Hitlers Pathologen geteilten Wahnidee, die deutsche Armee gegen die Sowjetunion weiterkämpfen zu lassen, um die Bolschewisten wenigstens aus Mitteleuropa wieder herauszudrängen. Als man Churchill die Nachricht überbrachte, Hitler sei “bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend” gestorben, soll der britische Premier gesagt haben: “Ich finde, dass er absolut Recht damit hatte, so zu sterben.” Er war für Roosevelt und Churchill nur Beelzebub, der auszutreibende Teufel aber der antikapitalistische Kommunismus gewesen. Dass Hitler sich nicht instrumentalisieren ließ und eine radikal andere Qualität des Bösen in die Welt des Politikspiels gebracht hatte, das erkannten sie im Unterschied zu den meisten Nazi-Gegnern erst viel zu spät.

Außenpolitik, das “arcanum imperii”, der Geheimbezirk des Regierens, ist das Feld der entmoralisierten Abstraktionen, des Entwerfens von Weltbildern und Strategien in großen Dimensionen, ohne Bodenhaftung, aber mit schwerwiegenden Folgen für die Objekte, die Menschen. Ihnen erzählt man allerlei von Neuen Weltordnungen und globaler Demokratisierung, und meistens wird es auch, vermittelt über die Medien, geglaubt. So war es mit dem Krieg zur Befreiung vom Faschismus, mit der Eindämmung des Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg, und so ist es derzeit im Irak: Keine Frage, dass die Iraker von einer brutalen Diktatur befreit wurden - aber das war nicht Zweck, sondern logische Folge des ganz anders motivierten Krieges. Sozusagen ein Kollateralgewinn. 1945 waren wir die Nutznießer der mit dem Blut von Millionen erkämpften Befreiung vom Naziregime - sie verdienen unsere Dankbarkeit und unseren Respekt.

Die politischen Führungen aber haben kein Recht darauf - sie hätten, wenn es ihnen mit ihrer Nazi-Gegnerschaft wirklich ernst gewesen wäre, damit schon 1933 anfangen können und müssen. Das ist keine Einsicht des Nachhinein: Der Umgang mit Diktatoren wie Saddam Hussein oder Fanatikern wie Osama bin Laden - erst nützliche Beelzebubs gegen Dritte, dann, wenn sie aus dem Ruder laufen, zu Teufeln gemacht - reproduziert das Muster pragmatischer Außenpolitik, die kein Recht hat, sich für Befreiungen feiern zu lassen, die sie zwar bisweilen verursacht, aber nicht bezweckt hat - damals nicht, heute nicht.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 18 vom 06.05.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ekkehart Krippendorff und Verlag.

Veröffentlicht am

24. Mai 2005

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