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50 Jahre Wehrpflicht und kein Ende

Zukunft der Bundeswehr: Eine Freiwilligen-Armee könnte friedenstauglicher sein als Streitkräfte, die sich auf zwangsrekrutierte Statisten in Uniform stützen

Von Jürgen Rose

Kein Staat, keine nationale Telegrafenagentur hat das Recht, über das Leben derer zu verfügen, die sich nicht freiwillig darbieten”, so geißelte Deutschlands scharfzüngigster Militärkritiker Kurt Tucholsky einst regierungsamtlich verordneten Waffendienst. Doch unerschütterlich und inbrünstig legt die große Koalition wehrpolitischer Betonköpfe in diesem Lande ein ums andere Mal ihr quasi-religiöses Bekenntnis zur Allgemeinen Wehrpflicht ab - als ob deren Ableistung einem Gottesdienst gleichkäme.

Eine der häufigsten Begründungen, weshalb sie angeblich unverzichtbar sei, liefert eine offizielle Broschüre aus dem Hause Struck vom August 2004. Dort heißt es: “Ohne die Allgemeine Wehrpflicht würde eine entscheidende Rekrutierungsbasis für den Nachwuchs an geeigneten Zeit- und Berufssoldaten wegbrechen. Der Soldatenberuf müsste durch hohen zusätzlichen Kostenaufwand (werbewirksame und attraktivitätssteigernde Maßnahmen) als eine erstrebenswerte Berufsalternative im Bewusstsein unserer jungen Frauen und Männer verankert werden.” Im Klartext: Weil der Verteidigungsminister nicht geneigt oder fähig ist, seine Soldaten marktgerecht zu entlohnen, greift er, getreu dem Motto “Und bist Du nicht willig …”, zum Instrument der Zwangsrekrutierung. Reichlich skurril wirkt Strucks Argumentation allein schon deshalb, weil sich seit Jahren immer mehr junge Frauen und Männer um einen Job beim Militär bewerben.

Nun wenden die Wehrpflichtapologeten ein, dass sich die so günstige Bewerberlage künftig durchaus auch wieder verschlechtern könne. Als Indiz dafür werden die Rekrutierungssorgen der US-Armee sowie die daraufhin in den USA schwelende Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht angeführt. In der Tat gestaltet es sich für die US-Armee immer schwieriger, genügend Freiwillige für jene Teilstreitkräfte zu finden, die in besonderem Maße Lasten einer globalen Kriegführung zu tragen haben und am stärksten von Tod, Verwundung und Traumatisierung betroffen sind - nämlich Heer, Marine Corps und Nationalgarde. So starben seit März 2003 im Irak mehr als 1.500 US-Soldaten, über 15.000 wurden verwundet. Das Rekrutierungskommando in Fort Knock (Kentucky) prophezeit ein “hartes Jahr”, “weil die fortdauernden Kriege in Afghanistan und besonders im Irak bei potenziellen Rekruten und deren Eltern die Sorge vor Verwundung oder Tod im Kriegseinsatz steigern”.

Abstimmung mit den Füßen

Dass hinlänglich vernunftbegabte Menschen auf solche Weise reagieren, gibt zu Hoffnung Anlass. Blanken Zynismus hingegen demonstrieren die Hohepriester der Wehrpflicht, indem sie für ein vermeintliches Recht des Staates plädieren, auf zwangsrekrutiertes “Menschenmaterial” (von Moltke/Ludendorff) zurückzugreifen, sollte es nicht mehr genügend Freiwillige geben, wenn das “Vaterland auf Menschenmord ausgeht” (Dürrenmatt). Vollends unerträglich wird der Verweis auf das Personaldilemma der US-Army freilich, bedenkt man, dass im Irak ein Völkerrechtsverbrechen stattgefunden hat, dem sich zu verweigern, die eigentliche Pflicht der Soldaten gewesen wäre. Problematisch an der Rekrutierungslage in den USA ist mithin nicht, dass sich zu wenig Freiwillige zum Kriegsdienst anwerben lassen. Der wahre Skandal liegt vielmehr darin, dass sich ungeachtet der völkerrechtswidrigen Politik ihrer Regierung immer noch zuhauf patriotische US-Boys (und Girls) “mit flatternden Idealen und einem in Landesfarben angestrichenen Brett vor dem Kopf”, wie Tucholsky notierte, zum Militärdienst verdingen.

Was allerdings in den USA nun stattfindet, ist eine Abstimmung mit den Füßen. Für eine Sache, deren Legitimität die Bürger nicht (mehr) überzeugt, sind sie nicht bereit, freiwillig zu kämpfen. Immer mehr junge Amerikaner scheinen zu begreifen, was gespielt wird und wollen dem irakischen Schlachtfeld fernbleiben - sofern sie eben nicht qua Wehrpflicht dorthin gezwungen werden.

Exakt dieser Mechanismus widerlegt auch die bei den Verfechtern der Wehrpflicht so ungemein beliebte Behauptung, Freiwilligenarmeen würden von “enthemmten” Politikern (Theo Sommer) viel eher zu militärischen Abenteuern eingesetzt als Wehrpflichtarmeen - bei näherem Hinsehen ein argumentativer Rohrkrepierer. Wer Derartiges äußert, bringt damit unvermeidlich zum Ausdruck, dass er politischem oder militärischem Führungspersonal nicht zutraut, verantwortungsbewusst über Krieg und Frieden zu entscheiden. Wer aber als Politiker oder Militär seiner Verantwortung in solch existenziellen Fragen wie dem Einsatz der Streitkräfte nicht gerecht werden kann, darf keine Funktionen übernehmen, in denen er mit solchen Entscheidungen konfrontiert wird.

Wehrpflichtige als Wehrbeauftragte?

Darüber hinaus erscheint die Vorstellung, eine Handvoll Wehrpflichtiger, die allesamt als kleine Wehrbeauftragte “Dienstaufsicht von unten” betreiben, könnten Entschlüsse über Frieden und Krieg beeinflussen, auch unter organisationssoziologischen Aspekten absurd. Wie der SPD-Wehrpolitiker Fritz Erler schon vor 40 Jahren bemerkte, werden “der Geist und die Haltung einer Armee nicht von gezogenen Rekruten, die nichts zu sagen haben, sondern von der Zusammensetzung des Führer- und Unterführerkorps bestimmt”. Alle Erfahrung bestätigt seine These, niemals haben Wehrpflichtige irgendwo eine Aggression nach außen oder eine Intervention im Inneren verhindert. Ganz im Gegenteil. Historisch betrachtet ging mit der Einführung der Wehrpflicht ein Paradigmenwechsel in der Kriegführung einher, der darauf hinauslief, deren Dynamik durch einen fast hemmungslosen Einsatz von Menschenleben in einer Art zu steigern, von der selbst kühnste Feldherrn früherer Zeiten nicht zu träumen wagten. Wehrpflicht und Konzept des totalen Krieges sind siamesische Zwillinge, erst die Wehrpflicht ermöglichte die Volks- und Eroberungskriege der jüngeren Geschichte.

Genau umgekehrt zum Dogma der Wehrpflichtanhänger sind in einer Wehrpflichtarmee die Bürger dem Militär ausgeliefert, während ein Freiwilligensystem die Streitkräfte den Bürgern überantwortet. Wer heutzutage noch von der Wehrpflicht schwärmt, betrügt, wissentlich oder unwissentlich. Letztlich garantiert allein die Wehrpflicht die Verfügbarkeit militärischen Potenzials zu jedwedem politischen Zweck. Gerade die durch Rot-Grün implementierte “Enttabuisierung des Militärischen” illustriert dies augenfällig. So konnte das Wehrpflichtsystem weder die deutsche Beteiligung an den völkerrechts- und verfassungswidrigen Kriegen im Kosovo und in Afghanistan verhindern noch die Unterstützung des US-Krieges gegen den Irak. Wehrpflichtige wurden auf Anordnung des Bundesverteidigungsministers dazu befohlen, Wachdienste vor Einrichtungen der US-Armee zu versehen und damit gemäß den Regeln des Kriegsvölkerrechts zu Kombattanten.

Zwar lässt sich ohne jeden Zweifel auch mit Freiwilligenarmeen Schindluder treiben, aber wer das tut - siehe USA - , riskiert personelle Schwindsucht. Innerhalb moderner Streitkräfte herrschen mittlerweile Denkweisen vor, die häufig mehr noch als die Politik von einer Kultur der Zurückhaltung geprägt sind. Mit einer Freiwilligenarmee wäre im Parlament die Hemmschwelle höher, Interventionsentscheidungen zu treffen. Letztlich könnte sich ein Militärsystem, das vom Prinzip der Dienstleistung abhängt, somit als friedenstauglicher erweisen als die auf zwangsrekrutierte Statisten in Uniform gegründete Wehrpflichtarmee.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.


Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 19 vom 13.05.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Veröffentlicht am

23. Mai 2005

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