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Kann Kriegsdienstverweigerung die Besetzung beenden?

Von Martin Smedjeback

Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer in Israel ist in den letzten Jahren schnell gewachsen. In der israelischen Gesellschaft hat die Entscheidung, den Militärdienst in den besetzten Gebieten zu verweigern und ein so genannter “Refusenik” zu werden, an Akzeptanz gewonnen. Nach Meinung des optimistischen Direktors von “Courage to Refuse” (Mut zur Verweigerung), Arik Diamant, kann die Bewegung etwas erreichen, was für viele noch undenkbar ist. “Wir stoßen auf sehr gute Resonanz”, erklärt Diamant. “Innerhalb der nächsten fünf Jahre werden wir die Besetzung beenden.” Ein Mitglied des Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel (EAPPI) berichtet von diesem neuen Phänomen.

Seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 spielt die Armee in der israelischen Gesellschaft eine zentrale Rolle. Viele der mächtigsten Politiker Israels haben eine lange Militärkarriere hinter sich. Die Armee beschäftigt Zehntausende von Menschen und die meisten Bürgerinnen und Bürger Israels haben zwei oder drei Jahre Militärdienst abgeleistet, die vielen Jahre als Reservisten nicht mitgezählt.

“In den 1980er Jahren wurden Kriegsdienstverweigerer Verräter genannt, und wir wurden von allen verachtet”, erzählt Eyal Hareuveni, der in der Organisation Yesh Gvul aktiv ist. “Heute verweigern Wissenschaftler, Piloten und Kampfeinheiten den Militärdienst. Es wird sogar als ehrenhaft angesehen, nicht in den besetzten Gebieten zu dienen.” Nach jüngsten Umfragen sind 25 Prozent der erwachsenen jüdischen Bevölkerung Israels der Meinung, dass ein Soldat das Recht hat, den Militärdienst in den besetzten Gebieten zu verweigern. Unter den jungen Leuten beläuft sich diese Zahl auf 43 Prozent. “Es dringt langsam zu den Leuten vor”, meint Diamant, ein ehemaliger Fallschirmjäger.

Ein Schock für die Armee

In Israel hat es immer Kriegsdienstverweigerer gegeben, aber es waren Einzelfälle. Als 1982 der Libanonkrieg begann, wurde die israelische Militärpolitik von immer mehr Menschen in Frage gestellt. Aufgrund dieser Kontroversen in der Heimat wurde er mit dem Vietnamkrieg der USA verglichen. Die hohe Zahl der Todesopfer unter israelischen Soldaten führte zu heftigen Debatten in den Medien und in der israelischen Bevölkerung. Als der Krieg andauerte, organisierten sich einige Reservisten und erklärten gemeinsam, dass sie den Kriegsdienst im Libanon aus politischen Gründen verweigern.

“Die Armee war im Schockzustand”, erinnert sich Hareuveni. “Es war das erste Mal, dass jemand den Kriegsdienst aus politischen Gründen verweigerte.” Die Armee schickte die Verweigerer ins Gefängnis, aber diese Taktik stoppte die Bewegung nicht. Rund 3000 Soldaten unterzeichneten eine Petition, in der sie ankündigten, den Dienst im Libanon zu verweigern.

1985 stellte die Armee die Entsendung von Reservisten in den Libanon aus Angst vor einer Ausbreitung der Bewegung und dem Beginn eines Aufstands in der Armee ein. Die erste Bewegung von Kriegsdienstverweigerern war geboren. Sie nannte sich Yesh Gvul, auf Hebräisch: “Es gibt eine Grenze.”

Die Intifadas lösen eine neue Welle von Kriegsdienstverweigerung aus

Die erste Intifada, die 1987 begann, löste eine neue Welle von Kriegsdienstverweigerung aus und durch die derzeitige zweite Intifada sind viele neue Organisationen von “Refuseniks” entstehen. 2001 wurde die erste Bewegung für Wehrpflichtige - junge Menschen, die nach dem Abitur eingezogen werden - ins Leben gerufen. Die 18-jährigen Gründer nannten ihre Bewegung “Shminstim” (“Oberschule”). Gemeinsam schrieben sie einen Brief an Premierminister Ariel Sharon, in dem sie ihre Entscheidung zum Ausdruck brachten, “an Unterdrückungsmaßnahmen gegen das palästinensische Volk, die eher als terroristische Angriffe zu bezeichnen sind”, nicht teilzunehmen. Der Brief ist bis heute von mehr als 300 potenziellen Wehrpflichtigen unterzeichnet worden. Viele von ihnen sind wegen ihrer Weigerung inhaftiert worden. Fünf wurden vor kurzem zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, der längsten Haftstrafe, die in Israel je für Kriegsdienstverweigerung verhängt wurde.

2002 unterzeichneten 50 aktive Offiziere und Soldaten den “Brief der Kämpfer”, in dem sie erklärten: “Wir werden nicht länger jenseits der Grenzen von 1967 kämpfen, um ein ganzes Volk zu beherrschen, zu vertreiben, auszuhungern und zu demütigen.” Im selben Brief erklären sie, dass sie nach wie vor an den zionistischen Traum glauben und bereit sind, weiterhin Dienst in der Armee zu tun und jeden Einsatz zu erfüllen, der zur Verteidigung des Staates Israel dient. Dieser Brief war der Anfang der Bewegung “Courage to Refuse”, der mittlerweile 623 Soldaten angehören.

Für die vielleicht größte Überraschung in der “Refusenik-Bewegung” sorgte 2003 ein Brief, in dem einige Piloten der israelischen Luftstreitkräfte erklärten, dass sie sich weigerten, “an Luftangriffen auf Wohngebiete” teilzunehmen und dass “die andauernde Besetzung die israelische Gesellschaft als Ganze korrumpiert”. Piloten sind Helden in Israel.

Werden wir bald das Ende der Besetzung erleben?

Der ehemalige Fallschirmjäger Diamant ist sehr zuversichtlich, dass die gewaltfreie Methode der politischen Nicht-Kooperation die wirksamste Methode ist, um die Okkupation zu beenden. “Demonstrationen sind völlig nutzlos, weil es nicht möglich ist, direkt in den besetzten Gebieten zu demonstrieren”, erklärt er. “Ich habe es Dutzende Male versucht. Einmal wollte ich an einer Demonstration in einer Siedlung teilnehmen, die ausgebaut wurde, aber wir kamen gar nicht erst in die Siedlung hinein. Sobald man die ‘Grüne Linie’ überquert, gibt es keine Demokratie mehr.”

Diamant glaubt, dass es noch fünf Jahre dauern wird, bis die Besetzung beendet ist. Andere Mitglieder der Kriegsverweigerer- und Friedensbewegungen sind weniger optimistisch. Hareuveni sieht zwar positive Veränderungen in der israelischen Mentalität, aber weist darauf hin, dass die Friedensbewegung noch ziemlich klein ist. “Wir in der radikalen Friedensbewegung sind nur wenige tausend Menschen.”

Bislang haben insgesamt 1362 Soldaten auf die eine oder andere Weise offiziell den Kriegsdienst verweigert - eine ziemlich kleine Zahl verglichen mit den Millionen von Israelis, die in den Streitkräften gedient haben und dienen. Viele nehmen das Stigma der Kriegsdienstverweigerung lieber nicht auf sich und versuchen stattdessen in aller Stille, dem Militärdienst - in den besetzten Gebieten oder überhaupt - zu entkommen, indem sie Wege finden, als untauglich anerkannt zu werden. Die Armee akzeptiert dies normalerweise, um die Zahlen der “Refuseniks” nicht in die Höhe zu treiben.

Doch Diamant stellt eine deutliche Veränderung in der Mentalität des Durchschnittssoldaten fest. “Viele meiner Kameraden in der Armee sagen, dass sie nicht wissen, ob sie den Mut haben, den Dienst zu verweigern und dafür ins Gefängnis zu gehen, aber sie werden nicht in die besetzten Gebiete zurückkehren”, berichtet er. “Die Menschen leisten ihren Dienst aus Angst ab, aber es beginnt zu bröckeln.”

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Martin Smedjeback ist Referent für Gewaltlosigkeit in der “Swedish Fellowship of Reconciliation”. Während eines früheren Besuchs in Israel und Palästina sammelte er Material für ein Buch mit dem Titel “Nonviolence in Israel and Palestine”. Bis Ende 2004 arbeitete er als ökumenischer Begleiter in Jerusalem.

Weitere Informationen über die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer finden Sie unter: www.refusersolidarity.net sowie in dem Buch “Refusenik! Israel?s Soldiers of Conscience”, das von Peretz Kidron zusammengestellt und herausgegeben wurde.

>> Hier sind Fotos zur Illustration dieser Geschichte verfügbar.

Das Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) läuft seit August 2002. Ökumenische Begleitpersonen beobachten die Menschenrechtslage und melden Verstösse gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht, unterstützen Aktionen gewaltlosen Widerstands an der Seite christlicher und muslimischer Palästinenser und israelischer Friedensaktivisten, gewähren Schutz durch ihre gewaltlose Präsenz, setzen sich für politische Veränderungen ein und üben so Solidarität mit den Kirchen und allen, die sich gegen die Besetzung wenden. Das Programm wird vom Ökumenischen Rat der Kirchen koordiniert. Webseite: www.eappi.org

Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ist eine Gemeinschaft von 342 Kirchen in über 120 Ländern auf allen Kontinenten und aus praktisch allen christlichen Traditionen. Die römisch-katholische Kirche ist keine Mitgliedskirche, arbeitet aber mit dem ÖRK zusammen. Oberstes Leitungsorgan ist die Vollversammlung, die ungefähr alle sieben Jahre zusammentritt. Der ÖRK wurde 1948 in Amsterdam (Niederlande) offiziell gegründet. An der Spitze der Mitarbeiterschaft steht Generalsekretär Samuel Kobia von der Methodistenkirche Kenias.

Veröffentlicht am

15. April 2005

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