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Ukraines “Orange Revolution” entlässt ihre Kinder

Von Matthias Reichl

“Die Orange Revolutionäre haben ihre Schuldigkeit getan”, sie - werden ersetzt - durch neoliberale Politmanager, gewendete Politbürokraten, durch Selfmademillionäre… Die Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, ehemalige Vizeregierungschefin für Energiefragen, ist wegen dubioser Energiegeschäfte in den neunziger Jahren äußerst umstritten und wird in Russland wegen Bestechung mit Haftbefehl gesucht. Wie eine frömmelnde Bäuerin trägt sie ihren Zopf als Heiligenschein, kontrastiert durch ihr mondänes Outfit, ist ein Paradebeispiel dafür, wie es ähnlich “Bürgerbewegten” in anderen “Wendestaaten” erging und noch ergeht. Sie hat die Wahl: kurzzeitige Repräsentantin der Bürgerbewegten in der Regierung zu sein, um bald durch einen (effizienten) Technokraten ersetzt zu werden, um anschließend wieder in den Volksmassen zu versinken. Oder als bekehrte “Magdalena” der alten Polit-/Wirtschaftsnomenklatura ihre Bekehrung zum Neoliberalismus als 150%ige Mitläuferin zu fungieren (geleitet durch Lobbyisten und “Think-Tank-Beratern”)? Oder sie kämpft sich hinauf zu einer “Thatcher des Ostens”?

West-östliche Machtkomplotte

Die erste Tour des Wende-Präsidenten Wiktor Juschtschenko führt ihn nach Moskau zu Putin, weiter nach Straßburg zum Europarat(mit dem - auch von OTPOR beratenen - Präsident Sarkaschwili aus Georgien), zur EU nach Brüssel und zu den Wirtschaftsbossen beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Pflichtgemäß wird er seine Erfolgsmeldung abgeben und weitere Direktiven und die dazugehörigen Mittel entgegennehmen.

Im Blick auf die Schicksale von Bürgerbewegungen in der Tschechoslowakei und Ungarn, mit denen ich zum Teil lange vor der Wende kooperierte, wurden mir politische Hypothesen zunehmend glaubwürdiger, die das Medienbild der “samtenen/orangen Revolution” in einem anderen Licht sehen. So sollen viele Monate vor der “Wende” von 1989 Ökonomen und Politiker aus West und Ost über die unhaltbaren politischen und ökonomischen Krisen im Ostblock beratschlagt haben, um eine möglichst unblutige “Wende” herbeizuführen. Dabei sollten die Bürgerbewegungen das Risiko des Scheiterns tragen. Nach der erfolgreichen Wende müssten aber staatliche und ökonomische Institutionen möglichst bald dafür sorgen, dass sie die Macht wieder - direkt oder indirekt - in ihre “altbewährten” Hände bekommen bzw. sie an geeignete Gehilfen delegieren. Dafür sorgen zur Zeit vor allem die BBB-Politiker Bush, Berlusconi, Blair und ihre Kopierer samt ihren Think-Tanks und Lobbyisten.

So besuchten Zbignew Brzezinski, Henry Kissinger, George Bush sen. und George Soros vor bzw. während des Wahlkampfes die Ukraine, eingeladen vom Oligarchen (“Öligarchen”) Wiktor Pintschew, Besitzer eines Pipeline-, Stahl- und TV-Imperiums und zweitreichster Mann der Ukraine mit geschätzten 3 Mrd. $ Vermögen.

Einer meiner Prager Freunde kommentierte die Wendezeit mit Bitterkeit: “Während wir uns sorgfältig und bedächtig vor allem auf lokaler/regionaler Ebene für Menschenrechte und Versöhnung, für Basisdemokratie, soziale Netze, Reform der Verwaltung, freie Medien und Bildungsinitiativen, Minderheiten- und Umweltschutz, dezentrale Wirtschaftsprojekte usw. engagierten, wurden wir vom Vormarsch der Eroberer überrollt. Sie missbrauchten Konsumgier und Nachholbedarf - aber auch das entstandene ideologische Vakuum - der Durchschnittsbürger. Diese Chance nutzten geschickt Rechtsextremisten mit ähnlichen politischen und religiösen Sekten, aber auch esoterische Heilspropheten für ‘Bekehrungsfeldzüge’ aus - ganz zu schweigen von den Indoktrinatoren der Medien und den Bedürfniserweckern der Konsumindustrie. Nicht nur wir sondern auch viele unserer seriösen Partner in Politik und Wirtschaft wurden zunehmend von ihnen und von ‘Experten’ und Lobbyisten an die Wand gedrängt.”

Solidarisches Lernen mit dem “Süden”

Was wäre anders gelaufen, wenn damals die Bürgerrechtler in Ost und West dem Beispiel einiger polnischer Solidarnosc-Gewerkschafter gefolgt wären und von den Erfahrungen und Strategien brasilianischer (Land-) Arbeiterbewegungen, landloser Bauern und ähnlichen Basisinitiativen aus dem “Süden” gelernt hätten? Oder z.B. von Manfred Max-Neef, einem Chilenen und Alternativen Nobelpreisträger. Als Oppositioneller und Aktivist in Basisbewegungen erlebte er das Dilemma: “In den wiederetablierten Demokratien der späten 80er und frühen 90er Jahren wurden die zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen zunehmend kraftloser… Paradox scheint es, dass das, was Diktatoren nicht zerstören konnten, von Bürokraten in formalen Demokratien mit Leichtigkeit demontiert werden konnte…” Ein hoher Beamter erklärte ihm dazu: “…weil diese Organisationen sehr gefährlich werden, wenn sie zur Opposition werden”.

Diese Opfer des (Neo-)Kolonialismus hatten sich - gemeinsam mit den indigenen Völkern Amerikas - mit den fatalen Folgen der Eroberung ihres Kontinents seit fünfhundert Jahren kritisch auseinandergesetzt. Die Strategien der Eroberungszüge von Kolonisatoren haben sich ihrer Erfahrung nach in den Jahrhunderten im Prinzip kaum geändert. Politiker, geschäftstüchtige Produzenten, Händler und deren Finanziers organisierten früher gemeinsam mit den Militärs ihre Eroberungszüge zur Ausbeutung der Rohstoffe im ‘unterentwickelten Süden’. Missionare und humanitäre Organisationen sorgten mit ihrer “Ersten Hilfe” für das Überleben der Eroberten, damit diese weiter ihre (Sklaven-)Arbeits- und Untertanenpflicht leisten konnten. Bewusst oder unbewusst übernahmen viele von ihnen auch den Part der Ideologiemissionare und Vernichter der ursprünglichen und naturnahen Kulturen und Lebensweisen - alles nur im Streben nach “Fortschritt, Humanismus und Entwicklung”. Seither haben sich die strategischen und technischen Möglichkeiten weiter vervielfältigt und besser kaschiert.

4-Wege-Strategie des subtilen Instrumentalisierens

Wie weit ist es vertretbar, sich in einen Konsultationsprozess einbinden zu lassen, der den gebräuchlichen Methoden der neoliberalen (wie auch der uralten) Ausbeuter gehorcht? Die geschickt Experten bzw. Gruppen einbinden, so lange ihre Dienste brauchbar sind, brauchbare Beiträge integrieren, kritische Ansätze, die gefährlich werden könnten, analysieren um die eigene Gegenstrategie zu aktualisieren usw. Wenn die “Eingebundenen” (selbst)ausgebeutet sind (sich dabei selbst ausgebeutet haben), werden sie wieder ausgeschieden und durch unverbrauchte ersetzt.

Uns sind in den mehr als 30 Jahren unseres Engagements in Initiativen relativ ähnliche Strategiemodelle der Herrschenden untergekommen:

  1. Laissez faire: beobachten, wie sich Initiativen und Bewegungen entwickeln, was an ihnen brauchbar und integrierbar ist.
  2. Kooperationsbereite zeitweise einbinden (siehe oben), Reservekandidaten warm halten; Idee und Konzepte klauen, anpassen, entschärfen…
  3. Gemäßigt Kritische durch subtile Druck- und Repressionsmethoden behindern, zurückdrängen - z.B. durch Verweigerung von Subventionen, von Publizität, durch existenzbedrohend erhöhte Gebühren und Abgaben, ruinöse Gerichtsstrafen und Schadensersatzforderungen…
  4. Gefährliche politische Potentiale - gewaltbereite, aber auch gewaltfreie - kriminalisieren, ins terroristische Eck abdrängen und entsprechend brutal “behandeln”… - im “Kampf gegen die Tyrannei” (dem neuesten Tot-Schlagwort des US-Präsidenten Bush).

Mit den moralischen Zwängen zur (Mit-/Selbst-)Hilfe werden schon jetzt verantwortungsbewusste Bürger so eingedeckt, dass sie sich - wie der Hase in Grimms Märchen vom “Hasen und Igel” - von einem eingeigelten Problem zum anderen hetzen lassen - bis sie (wie von ihren Gegnern erwartet) auf der Strecke bleiben. Geraten dabei idealistische humanitäre Helfer nicht in Gefahr - unbeabsichtigt - so lange zu “kollaborieren” bis sie und immer größere Teile der Erde kollabieren? Ein Schicksal, das auch den “Kindern der Orangen Revolution” droht!

Drei ergänzende Nachbemerkungen:

Ich war lange vor 1989 im Ost-West-Dialog kritischer Leute involviert und habe dies auch in einem Text reflektiert (kann ich dir mailen). Daraus ein Zitat eines Tschechen von vor 1989: “Wenn nicht simultan bei euch im Westen eine ähnlich radikale Revolution in Gang kommt, hat unser ‘Dritter Weg’ keine Chance.” Schon damals dominierten ähnlich naiv-idealistische Strategien (meist aus westlichen Think-Tanks - wie der US-Heritage Foundation usw. - gespeist) die radikalere Analysen erfahrener Aktivisten (zum Teil undogmatische Marxisten) strikt abwehrten.

Um die Ukraine EU-reif zu machen, müsste man nicht nur Das AKW Tschernobyl, sondern auch die anderen verstrahlten Regionen, als exterritoriale Gebiete ausgrenzen oder aber die Grenzwerte “liberalisieren”. Eingeweihte können sich nicht vorstellen, wie unter diesen Bedingungen eine “Integration” in die EU möglich ist. (Dazu kommen noch eine Menge weiterer Alt- bzw. Neulasten.)

Mich hat ein maßlos übertrieben euphorischer Beitrag des Bernhard Fricke, Mitglied des Münchner Stadtrates, provoziert. Er beschrieb in der Zeitschrift “Publik Forum” (Nr. 1/2005, Seite 28/29) seine Kiewer Erlebnisse unter dem Titel “Der Geist Gottes war mitten unter ihnen”, dass eine Frau sogar “lichte Engelsgestalten” auf dem Himmel über Kiew gesehen hätte. “… Als aber immer mehr Menschen von ähnlichen Beobachtungen berichteten, wurde für viele zur Gewissheit, dass die orangene Revolution unter dem Schutz der ‘Himmlischen Heerscharen’ steht… Wenn ich mir überhaupt ein ‘Neues Jerusalem’ vorstellen kann, so habe ich es in diesen bewegenden Tagen unter den Menschen in Kiew gefunden… Er zeigte sich in der Friedfertigkeit, Achtsamkeit Fröhlichkeit und Entschlossenheit der Menschen, die damit ein wahres Christus-Bewusstsein repräsentieren.” Ergänzt wurde er durch eine Erklärung ehemaliger DDR-Oppositioneller - von denen ich einige gut kenne - die (etwas gemäßigt) auch ihren Euphorie-Beitrag leisten.

Siehe auch [E-rundbrief] Info 185 - Durch USA gelenkte ukrainische Opposition? auf der Homepage www.begegnungszentrum.at.

Quelle: Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit vom 26.01.2005.

Veröffentlicht am

29. Januar 2005

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