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Wer versteht schon Soldaten? Fragen und Gedanken eines US-Soldaten

Von Paul Button

In Europa glauben viele Leute, dass die US Army eine Berufsarmee auf Freiwilligenbasis sei und dass jeder, der da mitmacht, selbst dran schuld ist. Dementsprechend gering ist die Anteilnahme am Schicksal der zu tausenden Verwundeten, die zur ersten medizinischen Notbehandlung ins Militärhospital Landstuhl bei Kaiserslautern ausgeflogen werden. Da wir täglich von neuen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hören, verdrängen wir die Tatsache, dass hier eine belogene, verratene und verkaufte Generation um Hilfe ruft. Für diese jungen Leute, die schon als Schüler einer massiven Gehirnwäsche in Form von altersgerechten Army-Werbecampagnen unterzogen wurden und die man mit traumhaften Karriereversprechen aus ihren sozialen Elendsvierteln gelockt hat, war der Einstieg ins Militär oft nicht mehr, als ein Verzweiflungsakt in ihrer Ausweglosigkeit. Einst als Helden gefeiert und an die Front geschickt sind diese verwundeten Männer nun froh, wenn sich überhaupt noch jemand für ihr Schicksal interessiert.

5. Stock. Neurologische Station. Wir verlassen den Aufzug von Washingtons Walter Reed Militärkrankenhaus und ich versuche mir vorzustellen, was dieses Schild bedeutet. Kopfverletzungen? Rückradverletzungen? Lähmungen? Ein Sergeant zeigt uns den Weg durch die Halle zu einer geschlossenen Tür, prüft noch einmal, ob die Zimmernummer die richtige ist, und kopft dann an. “Herein!” Unser Begleiter öffnet die Tür und fragt nach, ob Besuch willkommen ist.

Spc. Ken Comstock, 23, sitzt lächelnd in seinem Bett und sieht sich jeden von uns aufmerksam an. Er versucht zu kapieren, wer ihn da wohl besuchen kommt. Versucht zu verstehen. Wir versuchen auch zu verstehen. Alle sieben Sinne laufen auf Hochtouren, nehmen jede Einzelheit wahr. Meine Freunde und ich grüßen Ken, heißen ihn zu Hause willkommen, und begrüßen seine Mutter, die neben seinem Bett sitzt. Sie sieht sehr erschöpft aus, aber auch dankbar dafür, dass sich jemand für ihren Sohn interessiert.

Nach kurzer Zeit erzählen Ken und seine Mutter uns von dem schicksalhaften Tag, dem 20. August 2004, als der Humvee, in dem er sich befand, über eine Straßenbombe in der Nähe von Samarra in Irak fuhr. Ken gehörte zur Truppe C, 2. Armeekorps der 108. Infanterie, einer National Guard Einheit aus New York, die zur 1. Infanteriedivision gehört. Laut Ärzten war seine Stirn in 500 Teile gebrochen.

“Ken war eigentlich vier mal tot”, sagt seine Mutter. “Er starb viermal bevor sie ihn bis nach Deutschand gebracht hatten. Sie mussten besonders tief fliegen, weil er ihnen immer wieder unter den Händen wegstarb.”

“Ich lag zehn Tage lang im Koma”, sagt Ken. “Und meine Mutter saß die ganze Zeit neben meinem Bett, bis ich aufwachte. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe. Es gibt noch Wunder!”

Ich versuche immer noch zu verstehen. Wenn ich mir Ken betrachte, weiß ich wovon er spricht. Eine Riesennarbe läuft wie eine Bergkette verzackt von einem Ohr zum anderen. Seine Stirn ist ein Spinngewebe von Narben. Ken deutet auf eine Stelle über den Augen und sagt, dass dort Knochen, aber nichts dazwischen ist. Seine Hand ist einbandagiert und geschient, es befindet sich noch Schrapnell darin.

Ken ist ein mutiger junger Soldat. Ich bin über seinen Glauben und Mut erstaunt, an denen er trotz seines Zustandes und alles, was passiert ist, festhält. Doch seine größten Kämpfe stehen vielleicht noch bevor: Rehab, dann zurück für Schädelrekonstruktion, dann plastische Chirurgie, Physiotherapie und Rückkehr ins “normale” Leben der Zivilbevölkerung. Und was wird zuerst heilen - sein beschädigter und zerbrochener Körper oder seine traumatisierte Seele? Ich versuche sehr zu verstehen. Seine Mutter merkt es, denn sie gibt mir ein Gedicht, das Ken eine Woche bevor “es passierte”, geschrieben hat.

Soldaten aus Irak verstehen

Leute denken sie verstehen
(aber haben eigentlich keine Ahnung)
das Leben eines Soldaten
und was wir durchmachen:
Weinende Familien, weinende Kinder,
“Papa, bitte geh nicht fort!”
Lächelnd antworten wir “Wird schon gut gehen”,
obwohl wir innerlich weinen, beten,
dass wir noch einen Tag erleben,
für die kämpfend, die nicht kämpfen können
oder für die, die das verbrennen,
was wir zu verteidigen geschworen haben,
die ganze Zeit über den Sinn des Lebens nachdenkend,
dass es hoffentlich am Ende alles Sinn machen wird.
Es gibt niemanden,
mit dem man sprechen kann,
außer den Engeln, die uns durchs Feuer führen,
mit einem stillen Schrei auf den Lippen
von Gottes ewiger Kraft geleitet.
Es gibt nichts zu tun
außer mich zu fragen, warum ich hier bin.
Ist es aus reinem Patriotismus,
oder ist es lediglich aus Angst,
die Gründe, warum ich das hier tue?
Aus Glauben, Opferbereitschaft und Liebe,
oder um unser Land zu verteidigen?
Wenn’s hart auf hart kommt -
Hunger, Heimweh, Einsamkeit und Ekel -
manchmal fühle ich mich so klein, hilflos und einsam,
in einer Welt, wo Vertrauen schwer zu finden ist,
mit nichts zu tun,
außer auf den nächsten Tag zu warten.
Gott ist meine Zuflucht,
und ich spreche immer im Gebet mit ihm.
Wir sind Soldaten; Männer mit Ehrgefühl,
wir halten unerschütterlich durch, ohne Angst.
Obwohl die meisten von uns Soldaten
noch nicht mal alt genug sind für’n Bier.
Trotzdem werden wir verfolgt werden
von den Bildern, die in unseren Köpfen stecken
von den Phantomen und Geistern
und den Albträumen, wenn wir schlafen.
Ihr werdet uns wie Kinder behandeln
doch wir sind Männer - mehr als manche andere,
und wir werden weiter wachsen
auch dann, wenn das Kämpfen vorbei ist.
Immer werde ich gefragt:
“Warum machst du das eigentlich?”
Wenn ich doch nur eine Erklärung dafür hätte;
Wenn sie sich doch nur daran zurück erinnern könnten
als ein Mann für alle unsere Sünden litt…
Sind wir als Soldaten
anders als Er?
Vielleicht werden sie dann
anfangen zu verstehen.

Und dann erkenne ich, dass dies alles nur dann Sinn machen wird - für Ken, für mich, für feindliche Rebellen und für alle Albträume dieses furchtbaren Krieges - wenn wir an den Mann denken, dessen Narben und Leiden die Quelle aller Heilung sind.

Weiterführende Literatur:
Michael Moore: VERRATEN UND VERKAUFT - Briefe von der Front. Piper, 2004.

©2004 Bruderhof Communities

Quelle: Bruderhof Gemeinschaft

Veröffentlicht am

11. November 2004

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