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Der Hass wächst - Terror und “Krieg gegen das Böse”

Terror und "Krieg gegen das Böse": Was haben Osama Bin Laden und George W. Bush gemeinsam? Über den Todestrieb der "falschen Götter"Leicht gekürzt, aus: Arno Gruen: "Verratene Liebe - Falsche Götter", Klett-Cotta, Stuttgart 2003.

Von Arno Gruen

Der Hass in der Welt wächst, und damit wachsen auch Gewalt und Zerstörung. Unsere Zeit gleicht der des Römischen Reiches. Auch dessen Untergang fing auf der Höhe seiner Macht an. Wie damals Rom sind heute die USA ein gigantisches Machtzentrum, das von der Ohnmacht ausgegrenzter und gedemütigter Völker umgeben ist. Der Terrorismus ist ein Symptom dieser aus den Fugen geratenen Welt und der wachsende Hass die Begleiterscheinung dieser gesellschaftlichen Ungleichheit.

Der Hass ist Beweggrund einer mörderischen Zerstörungslust, die dazu führt, dass Täter und Opfer immer weniger unterscheidbar sind. Nicht unterscheidbar, weil auch die Menschen in den Machtzentren Ausgrenzung und Demütigung erleben, wenn auch anders als die Menschen in den unterprivilegierten Ländern. Deshalb weist auch Arundhati Roy, die indische Schriftstellerin und mutige Kämpferin für die unterdrückten Frauen Indiens, darauf hin, dass in der jetzigen Konfrontation von Terror und dem "Krieg gegen das Böse" die beiden protagonistischen Führer, Bin Laden und George W. Bush, gegenseitige Spiegelbilder sind: "Was ist Osama Bin Laden? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Missachtung aller nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen, ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes, ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben. Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken."

Diese Menschen sind durch die Angst des Nicht-Seins, das heißt die Angst der persönlichen Vernichtung bestimmt. Diese Angst treibt sie dazu, unsterblich sein zu wollen, dem Tod zu trotzen. Solche Menschen versprechen ihren Anhängern mit geöffneten, "liebenden" Armen ewiges Leben und ewige Gemeinschaft in einem Heldenparadies. Das führt nicht nur zu Selbstmordattentaten, sondern bestimmt auch die weniger direkt wahrgenommenen, aber genau so tödlichen Machenschaften von Führern in Politik und Wirtschaft in der westlichen Welt.

Das ist das Problem: die Führer, die sich ähneln und deren innerste Beschaffenheit sie der Destruktion als Lebenszweck zuführt. Sie sind die Führer mit einer Persönlichkeitsentwicklung, die ich psychopathisch nenne. Deshalb sind sie in ihren Auswirkungen nicht unterscheidbar. Auch sie haben Ausgrenzung und Demütigung erlebt, jedoch anders als ihre Gefolgschaften. Osama Bin Laden, Kind eines Bau-Tycoons in Saudi Arabien, wurde als siebzehnter Sohn unter 53 Geschwistern geboren. Er erbte beim Tod seines Vaters eine Summe, die zwischen 50 Millionen und 300 Millionen Dollar liegt. Die Dynamik der Familie ist schwer einzuschätzen, doch er war das einzige Kind einer Mutter, die die elfte oder zwölfte Frau des Vaters war. Seine älteren Brüder nannten ihn den "Sohn einer Sklavin".

Angstvolle Beziehungen fördern gegenseitiges Niedermachen, Betrug und Missgunst

Hier geht es um die Mütter, die - weil ihnen die Männerwelt, in der sie leben, keine Eigenexistenz zugesteht - ihre Söhne gebrauchen, um sich durch sie Sinn und eigene Bedeutung zu verschaffen. Sie verwöhnen die Söhne, doch dieses Verwöhnen hat nichts mit Liebe für das Eigenleben des Kindes zu tun. Es geht vielmehr um das Bedürfnis einer Mutter, sich in einer Machowelt, die ihr ein Eigenleben versagt, durch den Sohn, dem ja durch sein Geschlecht Bedeutung zukommt, selbst Bedeutung zu geben.

Das führt dazu, dass solche Kinder ihre Mütter als verschlingend erleben, wodurch die Angst einer persönlichen Vernichtung erzeugt wird. Dadurch entsteht eine zwiespältige Beziehung zur Mutter. Einerseits ist das Verwöhnen verführerisch, weil es dem Sohn ein Gefühl besonderer Bedeutung und Wichtigkeit gibt. Andererseits ist diese "Kraft" Ergebnis eines Spiels, und jedes Kind weiß in seiner Tiefe, dass sie illusorisch ist. Sein Selbstwert ist damit auf Sand gebaut, weshalb es immer Zweifel über sich haben muss, was dazu führt, dass sich der Sohn fortan durch "große" männliche Taten beweisen muss. Hier erwächst ein untergründiger Hass auf die Mutter. Und das Weibliche wird so untergründig zum Feind. Da der Sohn das Bild des starken, großartigen Mannes darstellen muss, fühlt er sich zugleich schuldig. Er empfindet Schuld, weil er sich dem Vater überlegen fühlt und sich wichtiger vorkommt, weil die Mutter ihn bevorzugt.

Der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott vertritt die Meinung, dass die untergründige Angst vor der Frau (dass sie einen verschlingen könnte) die Triebfeder für Männer und Frauen ist, andere Menschen dominieren zu wollen. Dadurch entkommt man der Angst, von einer Frau beherrscht zu werden. In der kindlichen Entwicklung führt dieser Prozess zugleich zu einer Idealisierung des gefürchteten Vaters, der ja die Mutter mit seiner Gewalt unterdrückt. So rettet sich das Kind aus der Angst vor der Mutter und gleichzeitig vor dem Terror des Vaters.

Das Resultat ist eine Identifikation mit dem Aggressor, dem Vater, sowie ein Weitergeben von dessen Gewalttätigkeit und seiner Unterdrückung und Verachtung der Frau.

Bei den islamistischen Terroristen ist dies klar zu erkennen, im Fall unserer eigenen zerstörerischen Kräfte können wir diesen Vorgang nur undeutlich sehen. Die Terroristen sind das Produkt eines misogynen (frauenfeindlichen) fundamentalistischen Systems, das die Familie spaltet, sodass Männer und Frauen nicht als gleichberechtigt freundschaftlich miteinander verkehren können: "In unserer Gesellschaft gibt es keine freundschaftlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau", schreibt Mona AlMunajjed in Women in Saudi Arabia Today.

Aber in westlichen Gesellschaften geht Ähnliches vor, es geschieht nur verdeckter, sodass weniger klar erkennbar ist, wer die Opfer und wer die Täter sind. Auch bei uns haben Männer und Frauen Angst voreinander. Diese ist jedoch verdeckt und wird nicht als solche wahrgenommen. Wir glauben stattdessen, nach einem idealisierten Partner zu suchen, und sind deshalb nie zufrieden mit dem, den wir haben. Beziehungen, die von Angst bestimmt sind, fördern deshalb gegenseitiges Niedermachen, Betrug und Missgunst. Auch hier erlebt ein Kind dasselbe Muster, indem Angst, Verachtung und Hass die Beziehung zwischen den Eltern charakterisieren. Wir sind nur "zivilisierter" und zeigen unsere Reaktionen auf Verletzungen und Kränkungen weniger offen.

Selbst ernannte Helden leben mit Unterstützung von Fußvolk Destruktivität über andere aus

So gibt es Parallelen in Bin Ladens und George W. Bushs Geschichte. Bushs Vater, der frühere Präsident George H. Bush, wurde oft von seinem Vater mit dem Lederriemen geschlagen. Wie sein jüngerer Bruder Prescott beschrieb, war George H. Bush zu Tode geängstigt durch seinen Vater. Auch er sprach davon, als er den Golfkrieg führte, dass Amerikaner "sich gegen das Böse zur Wehr setzen müssen", genauso wie sein Sohn George W. Bush, der nach dem 11. September die "Achse des Bösen" beschwor.

Auch Bush senior züchtigte seinen Sohn und gab so weiter, was er selbst erlebt hatte. Der Psychoanalytiker und Gründer der Zeitschrift <i>Psycho Hystorie</i>, DeMause, berichtete auch von einer Beziehung zwischen Bush junior und seiner Mutter, in der der Sohn zum dienenden Retter gemacht wurde. Als die kleine Schwester starb und die Mutter eine Depression bekam, fiel ihm, dem Dreijährigen, die Aufgabe zu, sie durch Aufmunterung seelisch aufrechtzuerhalten. (DeMause beschrieb ihn als "Cheer leader" des seelischen Seins seiner Mutter.) Genau so sieht eine Beziehung aus, die Kinder früh zu Marionetten macht, sie ihrer eigenen Selbstberechtigung beraubt, sie mit Verachtung für sich und ihre Welt zurechthämmert. Hier liegt die Quelle für das Verhalten solcher Menschen, die uns dann alle durch ihr Spiel mit dem Leben ins Verderben treiben.

Solche selbst ernannten Helden brauchen ein Fußvolk, das ihre Ideen und die zerstörerischen Triebe, auf denen sie basieren, in die Tat umsetzt. Das ist die Tragik der Geschichte, dass Helden und Götter ihre Destruktivität über andere ausleben - und dies auch tatsächlich können, weil das Fußvolk, also wir, dabei mitmacht, weil es, gefangen in einem von Geburt an auferlegten Gehorsam, seine Unterdrücker zu Helden und Göttern macht und nicht sieht, was sie tatsächlich sind. Die Erkenntnis der Wahrheit ist so sehr mit Angst belegt, dass wir auf jene losgehen, die uns damit konfrontieren. Die Wahrheit bedroht uns zutiefst, weil unser innerer Zusammenhang auf einer Lüge basiert. Statt der Wahrheit brauchen wir "Erlöser", die uns von unserem Unbehagen und unserem Gefühl der Wertlosigkeit entlasten. Nur so fühlen sich Menschen, die über keine wirkliche Identität verfügen, weil der Gehorsam diese unmöglich machte, vollständig und intakt.

Mit der Inszenierung von Spektakeln, die symbolisch Größe verkünden, haben die Führer die Ausgegrenzten und Gedemütigten schon immer zu Handlangern ihrer Zwecke gemacht. Die Massenveranstaltungen der Nazis, durch von Riefenstahl so verherrlicht, dienten der illusorischen Auferstehung eines geschwächten, niedergedrückten Selbstwertes. Terroranschläge haben dieselbe Aufgabe. Wenn Mütter stolz darauf sind, dass ihre Söhne sich in die Luft gesprengt haben oder dies tun werden, dann kann dieser Wahnsinn nur Resultat eines unterdrückten und gedemütigten Selbstwertes der Frauen sein. Es sind die Strukturen einer Kultur, die solche Pathologie hervorbringt. Hier ist der Ursprung der eigentlichen Krankheit unserer Gesellschaften.

Armut wird in der heutigen Welt als Demütigung und Erniedrigung erlebt

Noch etwas muss dazu gesagt werden: Niemals in der Geschichte war der Abgrund, der sich zwischen Reich und Arm auftut, so groß wie heute. Zur objektiven Benachteiligung der Armen kommt jedoch noch etwas hinzu: Es wird heute allen das Gefühl eingeimpft, dass weniger zu haben die eigene Schuld ist, dass Armut unmoralisch ist, unwürdig macht, weil erst der Besitz dem Menschen Bedeutung gibt und ihn sich wertvoll fühlen lässt. Es wird sogar gemordet für bestimmte Turnschuhe oder Armbanduhren, weil deren Besitz Status verleiht. Der türkische Schriftsteller Orhan Parmuk schreibt: "Man könnte sagen, dass der Reichtum der wohlhabenden Länder ihre eigene Sache wäre und die armen Länder nicht in ihren Angelegenheiten beeinflusst. Doch noch nie in der Geschichte wurde die Aufmerksamkeit der Armen so eindringlich durch Fernsehen und Hollywoodfilme auf das Leben der Reichen gelenkt. Man könnte auch sagen, die Geschichten vom Leben der Könige seien nun mal die Unterhaltung der Armen. Es ist aber viel schlimmer, denn wie nie zuvor geben sich die Reichen und Mächtigen der westlichen Welt unmissverständlich als die Richtigen und Vernünftigen aus."

Das heißt, dass jeder in einem armen Land fühlt, wie unbedeutend er ist und wie unbedeutend sein Anteil an diesem Reichtum. Solche Menschen wissen, dass sie unter sehr viel schlimmeren Bedingungen leben als die Wohlhabenden. Zugleich haben sie die Ideologie des Westens verinnerlicht und empfinden deshalb ihre Armut als eigene Schuld, durch Torheit und Unzulänglichkeit herbeigeführt. Die Reichen haben keine Ahnung von dem Ausmaß der Demütigung und Erniedrigung, das die meisten Menschen in unserer Welt erleben. Diese Gefühle führen dazu, dass manche der Gedemütigten ihren Gemeinsinn verlieren und sich von Terroristen, Fundamentalisten und Nationalisten verführen lassen. Es wird Zeit, dass der Westen zu begreifen beginnt, was in Menschen vorgeht, die sich von unserer Welt ausgegrenzt fühlen und es tatsächlich auch sind. Diese Menschen sind weit in der Überzahl. Was sie bewegt, ist ein Gefühl völliger Machtlosigkeit und Hilflosigkeit, entstanden aus Erniedrigung und der Unmöglichkeit, der eigenen Stimme Geltung zu verschaffen.

Trotzdem werden nicht alle zu Terroristen, genauso wenig wie alle bei uns Kriege anzetteln wollen oder zu Rechtsextremisten werden. Auch die reichen Gesellschaften beherbergen den Hass, auch hier werden ganze Bevölkerungsgruppen gedemütigt, erniedrigt, ausgegrenzt. Auch hier wird der Hass durch nationalistische Gebärden und die Schaffung von Feindbildern von Führern für ihre eigenen Zwecke ausgebeutet.

Lieblosigkeit bringt Hass und Gewalt hervor

Hass und Gewalt sind immer das Ergebnis einer Demütigung, die ein Mensch bereits in der eigenen Kindheit erlebt hat. Menschen, die als Kinder Liebe und Entgegenkommen erfahren haben, werden nicht zu Attentätern, die sich der Zerstörung verschreiben. In dem bereits zitierten Artikel berichtet Orhan Parmuk von einem armen alten Mann in Istanbul, der die Ereignisse des 11. September im ersten Moment aus Wut entschuldigte, einer Wut, die aus dem Gefühl der Benachteiligung resultierte. Als der Mann jedoch das furchtbare Ausmaß des angerichteten Blutbades erkannte, schämte er sich für seine erste Reaktion und bedauerte sie. Es kommt eben darauf an, inwiefern unsere empathischen Fähigkeiten uns die menschliche Gemeinsamkeit erleben lassen, ob Hass tatsächlich in Destruktivität ausartet. Wir züchten in unserer Kultur die Lieblosigkeit und verstehen dann nicht, wie wir Terrorismus hervorbringen oder wie wir ihn unterbinden können.

Die "Reichen" sind nicht minder Opfer ihrer Sozialisation wie die "Armen". Beide wurden in ihrer Kindheit gedemütigt, von ihren Bedürfnissen nach Liebe und Wärme getrennt und gehorsam gegenüber Autorität gemacht, was dazu führt, dass sie Anerkennung von denen suchen, die sie missbrauchen. Man tötet auf diese Weise das Eigene, das man hätte sein können. Bob Kerrey, ein Vietnamheld, der von Präsident Nixon mit der höchsten militärischen Auszeichnung geehrt wurde, Gouverneur und Senator von Nebraska war und jetzt Präsident der New School University in New York ist, schrieb mit dem Buch "When I was a Young Man" seine Autobiografie. Es ist die Geschichte eines Kindes, das in einer typischen amerikanischen Mittelklassefamilie aufwuchs und dazu erzogen wurde, nur das zu fühlen, was verlangt wird, wo es darum ging, Erfolg zu haben und alles richtig zu machen. Für eigene Gefühle war kein Platz.

Das Eigene wurde systematisch vergraben, und so war es kein Wunder, dass Kerrey ein braver Soldat wurde, der danach strebte, akzeptiert zu werden, den Vorschriften zu entsprechen und keine wahren Gefühle zu haben. Auch in seinem Verhältnis zu Frauen entwickelte er keine tiefe Leidenschaft. Erfolgreich zu sein war sein einziges Ziel. In Vietnam mordete er wie viele andere Soldaten, scheinbar ohne Hass zu fühlen, es ging um das nüchterne Ausführen von Befehlen. Erst als er monatelang mit zerfetztem Bein in einer Klinik lag und Schmerz und Einsamkeit nicht mehr verleugnen konnte, wurde ihm klar, dass sein dem Besitz und der Anerkennung gewidmetes Leben ohne Lebendigkeit war. Er erkannte, dass er erst frei sein konnte, wenn er die Furcht, Besitz zu verlieren, als Sklaverei durchschaute.

Wir sind alle Opfer eines gesellschaftlich bedingten Prozesses, der Liebe unmöglich macht, weil er sie mit Enttäuschung, Verrat und tiefer Kränkung belegt. Das Problem ist jedoch, dass die Unterdrückten der Welt das Bild des Unterdrückers als Erlöser internalisiert haben, der sie an seiner Macht partizipieren lässt und von ihrer Wertlosigkeit befreit. Deshalb fürchten viele die Freiheit und machen sich freiwillig zu Sklaven. Freiheit würde bedeuten, diese Bilder aus sich zu vertreiben und durch Eigenverantwortung zu ersetzen, wie es Paulo Freire in seinem Buch "Pädagogik der Unterdrückten" so eindringlich darstellt.

Und was ist mit den Helden und Göttern? Da ihr Gefühl der "Stärke" immer ein halluzinatorisches ist, weil es seinen Ursprung in der verführenden Bewunderung der Mutter und dem daraus resultierenden zerstörerischen Verhältnis zum Vater hat, können sie nur <i>falsche</i> Götter und Helden sein. Ihr zentrales Anliegen ist, Macht zu haben. Das Quälen anderer wird für solche Menschen zum Werkzeug, mit dem sie diese bezwingen. Sie zeigen damit, dass sie mit ihrem eigenen Schmerz nicht anders umgehen können als ihn an andere weiterzugeben. Eine Realität, die <i>nicht</i> von Macht geprägt ist, ist für diese Menschen nicht vorstellbar. Demütigung und Erniedrigung anderer sind ihr eigentlicher Lebensinhalt. Das zeigt sich bei Bin Laden genauso wie bei Saddam Hussein, George Bush senior und George Bush junior. Ihrer aller Problem ist, dass sie von ihren Müttern als Liebesobjekt benutzt wurden und so ein völlig irreales Gefühl von Größe und Wichtigkeit bekamen.

Wozu brauchen wir falsche Götter?

Die gefährliche Entwicklung auf der weltpolitischen Bühne wurde und wird zusätzlich durch den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes der Sowjetunion gefördert. Seitdem hat der Glaube an den Wert des maximalen Profits fast geheiligte Züge angenommen. Die Geschichte und die Tradition des Menschlichen werden damit verworfen. Tatsache ist, dass die USA, die ja das strahlende Leitbild dieser Religion abgibt, besonders stark von Armut betroffen ist. Mehr als 20 Prozent der Amerikaner sind arm, während die Zahl der Armen in Europa bei acht Prozent liegt. In den USA sterben im ersten Lebensjahr 60 Prozent mehr Babys als in Frankreich oder Deutschland.

Was sind das für Leute in Amerika, die ihr Ehrgeiz antreibt, als "National Security Strategy of the United States" eine Außenpolitik zu deklarieren, die die militärische Vorherrschaft über die ganze Welt anstrebt und sich das Recht herausnimmt, andere Staaten anzugreifen? Wie unterscheidet sich ein solcher Staatsterrorismus von terroristischen Gruppen? Ist nicht Terrorismus eine logische Konsequenz all jener "Realismen", die westliche Ideologen wie Lord Acton, George Kennan oder Henry Kissinger immer wieder predigten? Diesen zufolge haben Nationen weder permanente Freunde noch Feinde, sondern immer nur permanente Interessen. Wenn ein Feind nur deshalb zum Freund wird, weil er der Feind eines Feindes ist, kann aufrichtiges Streben nach Demokratie und Menschenwürde nur lästig sein, denn es behindert die "permanenten Interessen".

Schauen wir uns also die wahren Interessen derer an, die sich als Götter und Helden aufspielen. Bin Laden, ein Millionär, George W. Bush, ein wohlhabender Geschäftsmann, der schon 1988, als sein Vater Vizepräsident bei Ronald Reagan war, in Argentinien versuchte, Enron über Rodolfo Terragno, damals Öffentlichkeitsminister von Raul Alfonsino, einen Vertrag für eine Gas-Pipeline zu verschaffen.

Doch wozu brauchen wir solche falschen Götter? Warum kann offenbar ein Großteil unserer Bevölkerung nicht ohne sie leben? Wir wurden nicht nur dazu erzogen, von Autoritäten Antworten auf unsere Fragen zu erwarten. Wir entkommen durch sie auch der Verantwortung, selbst zu entscheiden. Denn selbst zu entscheiden heißt, möglicherweise schuldig gesprochen zu werden. "Ich tat, was mir befohlen wurde", war nicht nur die Ausrede aller im Nürnberger Prozess Angeklagten. So wird der Gehorsam auch immer wieder als "Pflichterfüllung" schöngeredet.

Andererseits benötigen wir die falschen Götter, weil wir - das heißt mindestens die Hälfte der Bevölkerung, wie zahlreiche Studien gezeigt haben - durch unsere Kindheit auf ein Image geprägt sind und nicht auf die Wirklichkeit. Wir haben gelernt, die Pose von Stärke und Größe als die Wirklichkeit zu akzeptieren. Sie entspricht der Propaganda, die Eltern ihren Kindern über sich beibringen und die diese als Wahrheit annehmen müssen, um die lebensnotwendige Bindung an ihre Eltern aufrechtzuerhalten. Hier liegt der Ursprung der Suche nach falschen Helden und Göttern, nach Menschen, die die Pose der Stärke, selbstgefällige Entrüstung und Willenskraft am besten ausstrahlen. Wir erhoffen von ihnen Erlösung von dem Unbehagen, das jeder, der seine eigenen Wahrnehmungen nicht zum Kern seines Seins machen durfte, empfindet.

Wir brauchen die falschen Götter, weil wir kein eigenes Selbst haben. Wenn wir als Kinder gezwungen waren, die Schwäche unserer Eltern zu verneinen, weil diese Wahrheit uns existenziell gefährdete, dann suchen wir zeitlebens nach dieser Pose der Stärke, um von der Unmöglichkeit erlöst zu werden, kein eigenes Selbst zu haben. Das bedeutet freilich nicht, dass Menschen, die in dieser Entwicklung gefangen sind, sich nicht gegen ihre Eltern stellen können. Im Nationalsozialismus und im kommunistischen Regime Stalins galt es sogar als Ehre, wenn Kinder ihre Eltern bespitzelten. Entscheidend ist hier die Prägung auf das Image von Kraft und Entschlossenheit. Sobald ein neuer "Gott" daherkommt, der diese Rolle noch glaubwürdiger spielt, wird die Loyalität mit dem "alten Gott" in Frage gestellt.

Die Prägung auf die Pose der Eltern bringt es mit sich, dass solche Menschen ihr Opfersein nie wirklich direkt erleben können und konnten, weil die Eltern Leid und Versagen nicht tolerierten. Der Soziologe Richard Sennett sagte in einem Interview über die Kindererziehung in Amerika, man tue so, als würde alles für das Wohl der Kinder getan. Aber "es geht immer nur: Du kannst es! Du schaffst es! Nie darum, ob man das auch will." Es ist eine seelische Art, wie Eltern ein Kind auf ihre Spur bringen. Das Gewaltmittel ist nicht mehr die körperliche Bestrafung, sondern eine seelische. Das Kind wird dazu gebracht, sich als Verräter an der gemeinsamen Sache zu fühlen, wenn es nicht mitmacht. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, wird so zum Trauma für Kinder und Erwachsene. Es machte Bob Kerrey zum Handlanger seiner Führer und brachte viele Deutsche dazu, bei den Nazi-Greueltaten mitzumachen.

So werden Menschen zu Feinden gemacht, die selbst Opfer ihrer Kindheit waren. Und die Tatsache, dass der eine Teil der Welt, der reiche, den anderen, den armen, in die Knie zwingt, fördert die Tendenz, im andern Menschen den Feind und nicht den Leidensgefährten zu erkennen. Weil die Menschen der "zivilisierten" Länder häufig so weit weg von ihren eigenen Gefühlen sind, spüren sie nicht den Hass, der sich hinter ihrem eigenen Tun verbirgt. Nur bei Rechts- oder Linksradikalen erkennen wir ihn. So werden Kriege geführt und Völker dezimiert unter Vorgabe "objektiver" Beweggründe.

Hass auf alles dem Leben Zugewandte

Viele der Terroristen stammen jedoch aus privilegierten Kreisen, ihnen geht es um etwas anderes, nämlich ihre innere Leere in ein Morden zu verkehren, um dieses dann ideologisch und religiös zu verklären.

Hier beginnt ein symbolisches Handeln, das mit realen Tatsachen nichts mehr zu tun hat - die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon stehen dafür, wie die eigene Minderwertigkeit durch die Zerstörung von Symbolen der Größe des Feindes bekämpft und stattdessen die eigene "Stärke" bewiesen wird. Solche Aktionen bringen vielen Menschen grausam den Tod, an den bestehenden Machtstrukturen jedoch ändern sie nichts. Die bleiben selbst dann bestehen, wenn es den "unterdrückten" Angreifern irgendwo gelingt, sich an die Stelle der Machthaber zu setzen. Letztlich werden immer nur alte Götzen gestürzt, um sie durch neue zu ersetzen. Solange Rebellen ihr eigenes Machtstreben nicht aus ihrem Inneren vertreiben, fällt, wie Henry Miller es ausdrückte, nur eine Kirche, um eine andere auferstehen zu lassen.

Osama Bin Laden war ein Playboy, der, um seine "Ehre" und Männlichkeit zu beweisen, sich plötzlich als Kämpfer gegen Amerika persönliche Bedeutung verschaffte. Wo von Ehre und Männlichkeit die Rede ist, verbirgt sich im Untergrund immer der Hass auf alles dem Leben Zugewandte. In allen von Bin Laden veröffentlichten Äußerungen findet man die Betonung von Ehre und die Verachtung des Weiblichen.

Wir dürfen schlussfolgern, dass gerade dort, wo Menschen ihr Eigenes genommen und durch den Willen einer Autorität ersetzt wurde, andere niedergemacht und bekämpft werden. Die eigene Opfererfahrung darf nicht erkannt werden und wird deshalb weitergegeben, indem man andere für das eigene Opfersein zum Opfer macht. Das Hochhalten von Ehre und Männlichkeit beruht darauf, dass man in seinem Tiefsten an dem eigenen Wert zweifelt. Deshalb muss man sich ständig das Gegenteil beweisen.

Männliche Treue und Ehre waren nicht nur Markenzeichen der Nazis. Sie sind auch typisch für die religiösen Fundamentalisten, egal ob sie aus dem muslimischen, christlichen oder jüdischen Lager stammen.

Entscheidend bei Menschen, die sich dem Hass verschrieben haben, ist, dass sie während ihrer Sozialisation nicht von Positivem berührt wurden. Der Hass ist so groß, dass sie Ideologien suchen, die diesen Hass rationalisieren. Die religiösen Ideologien unterscheiden sich von den politischen nur dadurch, dass sie ein göttliches Sendungsbewusstsein einimpfen.

Die eigene Opfergeschichte erkennen

Welchen Weg gibt es, um diesen zerstörerischen Kreislauf zu unterbinden? Ich sehe ihn darin, dass wir unseren Kindern ihre Kindheit zurückgeben. Wir müssen ihre Kreativität unterstützen, auch in Krippen und Kindergärten. Und wir müssen die Mütter aus ihrer Isolation holen. Wenn den Müttern die Chance gegeben wird, über ihre Situation und ihre Gefühle zu sprechen, werden sie zu mehr Bewusstsein für ihren verständlichen Unmut über ihre von Männern aufgesetzten Rollen finden, sodass sie im Umgang mit ihren Kindern zu ihren wahren Gefühlen stehen können.

Es geht auch darum, uns selbst unsere Vergangenheit bewusster zu machen. "Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen", schrieb Milan Kundera in seinem <i>Buch vom Lachen und Vergessen</i>: "Vergangenheit ist voller Leben, ihr Gesicht reizt, erzürnt, beleidigt uns, sodass wir es entweder zerstören oder neu malen möchten." Menschen, so meint er, "wollen lediglich Herren der Zukunft sein, um die Vergangenheit verändern zu können". Wir dürfen und wollen unsere Opfergeschichte nicht erkennen, weil sie uns Angst macht. Und anstatt aus unserer Geschichte zu lernen, fühlen wir uns von ihr beleidigt und jagen Ehre, Heldentum und einer freiwilligen Knechtschaft unter falschen Göttern hinterher. So verleugnen wir die gemeinsame Vergangenheit. Aber ohne Vergangenheit haben wir nichts, auf dem wir stehen können, haben wir keinen Kontext, von dem aus wir die Energie für eine moralische Version unseres Seins organisieren können.

Erinnerung ist eingebettet in das ganze Gefüge unseres Seins, unserer Möglichkeit, uns als eigene Person mit eigenem Selbst und eigener Geschichte zu erleben - oder eben nicht. Wenn aber Menschen ihr Sein darauf aufbauen, andere zu beherrschen und zu erniedrigen, dann müssen sie unsere gemeinsame Vergangenheit verfälschen, um sich selbst rechtfertigen zu können. Götter und Helden helfen bei der Errichtung solcher Fiktionen.

Unsere Zivilisation züchtet ein Bedürfnis nach Unverletzlichkeit. Wenn ein Sein aber dadurch geprägt wird, dass nur die Identifikation mit denen, die dieses Sein unterdrückten, uns vor der Unerträglichkeit unserer Lage retten konnte, dann verlagert sich der Sinn dessen, was ein Mensch sein kann. Dann wird eine Ideologie, die nur Stärke verspricht, zur Rettung unseres geschwächten Selbst. Hier liegt die Wurzel des Nationalismus und jedes Fundamentalismus: Sie fördern erfolgreich einen Selbstwert, der die Qualen der eigenen Unzulänglichkeit beiseite schiebt. Dann wird Identität nicht zu einer inneren Sache, sondern zu einer zur Schau getragenen Symbolik vermeintlicher Stärke, Hegemonie und Autorität.

Der dänische Religionsphilosoph Kierkegaard charakterisierte deshalb unser Zeitalter als ein öffentliches. Er bezeichnete damit den Zusammenschluss von Individuen, die im Grunde schwach sind, weil sie keine eigene Identität haben, weshalb sie auch keinen eigenen ethischen Standpunkt einnehmen und folglich auch keine wirkliche Gemeinschaft bilden können. Menschenwerden zu fiktiven, aber gefährlichen und destruktiven Einheiten reduziert (und lassen sich dazu reduzieren). Das bedrohliche Resultat ist der Massenmensch des Faschismus (des rechten wie des linken und der religiösen Fundamentalisten), der Helden und Götter für sein geschwächtes Selbst benötigt.

Bush sieht Amerika von Feinden umzingelt

Falsche Götter kultivieren Feindbilder. Ein Beispiel für die akademisch legitimierte Bereitstellung neuer, aktueller Feindbilder ist die Diskussion um den so genannten Kampf der Kulturen als Szenario für künftige Kriege. Diese Theorie wurde erstmals im Sommer 1993 von Samuel P. Huntington als "The Clash of Civilizations" in der Zeitschrift "Foreign Affairs" vorgestellt. Der Politikwissenschaftler schreibt: "Meine Hypothese ist, dass die fundamentale Ursache von Konflikten in dieser neuen Welt weder ideologischer noch ökonomischer Natur ist. Was die Menschheit trennt und primäre Quelle von Konflikten sein wird, ist das Kulturelle … der Kampf der Zivilisationen wird die Kampflinie der Zukunft sein." Künftig soll sich westliche Außenpolitik also nicht mehr an dem Feindbild "Ideologie", sondern an dem Feindbild "Kultur" orientieren. Andere Kulturen werden dabei kurzerhand zu Feinden erklärt und die westliche Welt zur Verteidigung ihrer Rationalität und Aufklärung aufgerufen. Damit wird das Feindbild selbst zu einer Ideologie, die ihre Quellen verschleiert und unzugänglich macht.

Unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Gegensatzes zwischen Kultur und Ideologie befinden wir uns plötzlich auf der "höheren" Ebene einer sauberen, von der "Reinheit" einer Blut-und-Boden-Mythologie getragenen fundamentalen Ur-Kraft -, analog zu Hitlers These einer völkischen unkorrumpierbaren germanischen Biologie.

Anstelle von Hitlers genetischen Zugriff wird hier allerdings die Andersartigkeit als kulturbedingt formuliert. Beide Denkarten beschwören jedoch ein Feindbild, um Gewalt zu rationalisieren und zu rechtfertigen.

Menschen scheinen aus der Geschichte nicht zu lernen, wenn ein Mann wie Huntington die Basis zur Schaffung eines neuen Feindbildes liefern und dies als historisch-wdssenschaftliche Erkenntnis ausgeben kann. Wie bei allen Feindbildern geht es darum, ein Gespenst heraufzubeschwören, um andere bekämpfen zu können, denn ohne ein solches Hassobjekt können viele sich nicht als aufrechtgehend erleben.

Der Feind. Ja, wer ist der Feind?

Huntington verneint unsere Gemeinsamkeiten als Menschen. Wie Hitler, nur geschickter, kreiert er einen Feind, eine Kulturabstraktion, um sich nicht selbst anschauen zu müssen. Und wir folgen dieser Verlockung, weil auch wir uns nicht selbst anschauen wollen.

Es gehört zur Taktik der Administration von George W. Bush, den Amerikanern eine Gut-versus-Böse-Weltsicht zu vermitteln, die ihnen das Gefühl gibt, von Feinden umzingelt zu sein. Natürlich muss man Terror überall, wo Menschen zu seinen Opfern werden, bekämpfen - in den USA, im Irak, in Russland, Jugoslawien, Israel, Palästina, Indonesien. Von den extremen Fundamentalisten und Chauvinisten sind hier jedoch keine Lösungen zu erwarten. Vielmehr müssen internationale Menschenrechtsinstitutionen gestärkt und global gültige humane Gesetze durchgesetzt werden.

Die falschen Götter stürzen die ganze Welt ins Verderben

Die wahren Probleme sind Armut und die Ausgrenzung und Demütigung großer Teile der Weltbevölkerung. Unsere politischen Führer ignorieren dies nicht nur, sie erkennen sehr wohl ihre eigenen Macht- und Profitinteressen, verhüllen diese jedoch, indem sie religiöse und andere Ideologien vorgeben. Darin liegt ihre Falschheit und der Betrug an unseren moralischen Werten.

Moral beginnt da, wo wir uns wissen lassen, was wir uns selbst durch unsere Lügen und Untaten antun. Wenn aber ein Staat auf allen Ebenen Heuchelei, Falschheit und Irreführung zum Prinzip seiner Existenz macht, werden diejenigen, die keine innere Moral besitzen, die Ersten sein, die diese Falschheit der Autorität erkennen. Sie werden diese Situation nutzen, um die Schranken ihres nur äußerlich aufrechterhaltenen Gewissens fallen zu lassen und ungehindert ihrem Hass nachzugehen. Das Anwachsen von Kriminalität, sei es von kleinen Betrügern oder von scheinbar ehrenwerten Großindustriellen, ist deshalb ein Anzeichen der Unmoral der Führer, die sich als Götter und Helden aufführen.

Wenn sich ein Führer wie der amerikanische Präsident George W. Bush über die Gesetze seines Landes und die der internationalen Gemeinschaft hinwegsetzt, um seine eigene Macht zu festigen und seine Verstrickung (und die seines Kabinetts) in die kriminellen Machenschaften von Unternehmen (Beispiel: Enron) zu vertuschen, dann ist es nicht verwunderlich, wenn sich in der Welt Opfer und Täter nicht mehr auseinander halten lassen. Falsche Götter provozieren durch ihre grausame ignorante Unverbindlichkeit, die sie als "Stärke" ausgeben, Verzweiflung und dissoziierte Gewalt.

Die Nachrichten über die Auswüchse dieser Gewalt häufen sich, und wir alle sind in höchstem Maße beunruhigt, was noch alles passieren wird. Während ich dieses Buch im Oktober 2002 überarbeitete, erschütterten die Moskauer Geiselnahme und die Todesschützen von Washington die Welt. Es folgten die Bombenexplosionen in Casablanca und jetzt die schrecklichen Massaker in Madrid. Diese furchtbaren Ereignisse sind erschreckende Beispiele für die Eskalation der Gräueltaten, die ihre Quellen in dem zynischen und grausamen Vorgehen der nationalen Führungen haben. Die Verzweiflung, die Putin in Tschetschenien und Bush in der ganzen Welt hervorrufen, verstärken diesen Terror, anstatt ihn zu bekämpfen. Der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut sagte im November 2002 in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau über den Irak und die USA: "Wir sind ganz offenbar dabei, unseren Planeten zu töten."

Und das ist es, worum es offenbar geht: Die falschen Götter, die uns immer wieder Stärke versprechen, indem sie einen Schwächeren zum Feind machen, weil der wahre Feind ihnen Angst macht. So stürzen sie die ganz Welt ins Verderben. Freud sprach von einem Todestrieb. Diese Menschen suchen den Tod, weil sie darin Leben halluzinieren. Und sie fesseln uns an eine Logik, die keine ist, weil der Krieg gegen den Irak nicht dazu dient, den Terrorismus Bin Ladens zu bekämpfen, sondern die Gefahr heraufbeschwört, die Welt mit einem nuklearen Holocaust einzuäschern.

Falsche Götter zwingen Opfer und Täter in eine Situation, die eine Unterscheidung zwischen beiden fast unmöglich macht. Eine Entwicklung, die unsere Wahrnehmung derart verzerrt, erneuert und stärkt alles, was zur Destruktivität tendiert. Sie kann niemals Voraussetzungen für eine gesunde Menschlichkeit schaffen. 

Der Autor Arno Gruen ist Psychoanalytiker und Schriftsteller und lebt in Zürich. Zahlreiche Fachpublikationen und Buchveröffentlichungen. 2001 ausgezeichnet mit dem Geschwister-Scholl-Preis.

Quelle: Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen , Oberursel, Ausgabe 2004/Nr. 6. Wir danken Publik-Forum für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

Literaturhinweise:

  • Arno Gruen: Verratene Liebe - Falsche Götter. Stuttgart 2003.
  • Arno Gruen: Der Fremde in uns. München, 2002.
  • Arno Gruen: Der Kampf um die Demokratie. Der Extremismus, die Gewalt und der Terror. Stuttgart, 2002.
  • Arno Gruen/Doris Weber: Hass in der Seele. Verstehen, was uns böse macht. Freiburg im Breisgau, 2001.
  • Arno Gruen: Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit. München, 1997.

Fußnoten

Veröffentlicht am

02. August 2004

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