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Falludscha-Report

Von Dahr Jamail - The New Standard / ZNet 24.04.2004

Bagdad, 23. April. Drei Flüchtlingsfamilien aus der belagerten Stadt Falludscha, die im Bagdader Al-Adhamiya-Viertel Zuflucht gefunden haben, beschreiben die Zustände im umkämpften Falludscha als “schreckliche Katastrophe”. Einer der Männer telefoniert mit einem Mann namens Khaled Abu Mujahed. Mujahed berichtet aus Falludscha im Namen der Islamischen Partei. Er sagt, zwar gelangten noch einige Hilfsgüter in die Stadt, aber nach wie vor seien viele Familien in ihren Häusern eingesperrt. Der Leichengeruch sei mittlerweile extrem.

Die Flüchtlinge waren aus Falludscha geströmt, als die Kämpfe einsetzten - nachdem US-Marines die Stadt unter Belagerung gestellt hatten, die Stromversorgung gekappt und einen Einmarsch in die Stadt gestartet. Die Widerstandskräfte - die Leute vor Ort nennen sie Mujaheddin -, wehrten sich und töteten dutzende US-Soldaten. Die Amerikaner töteten hunderte irakische Zivilisten und eine unbekannte Zahl irakischer Kämpfer.

Dichtgedrängt leben sie (die Flüchtlinge) in einem leeren Haus im Bagdader Viertel Al-Adhamiya. Abu Muher ist Patriarch einer dieser Familien, die Falludscha am letzten Samstag verließen, er berichtet über die schwierige Abreise aus der Heimatstadt. “Wir wurden von den Amerikanern fast bombardiert, als wir am Freitag versuchten zu gehen”, so Muher. “Die Bomben fielen vor und hinter uns, sodass wir wieder umkehren mussten. Am Samstag hatten wir Glück und entkamen”.

Schätzungen über die Gesamtzahl der Flüchtlinge schwanken, die meisten Berichte gehen von mindestens 60.000 Flüchtlingen aus - etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung - die aus Falludscha flohen, nach Bagdad oder in andere Städte. Wie Abu Muher sagt, wurde Falludscha letzten Samstag massiv von US-Kampfflugzeugen angegriffen - vor seiner Flucht. Durch Heckenschützen der Marines wäre es kontinuierlich zu Opfern unter den Bewohnern der belagerten Stadt gekommen, Schuss um Schuss. “Es gab soviele Heckenschützen, jeder, der sein Haus verließ, wurde getötet”, erinnert er sich.

Abu Muher und zwei weitere Männer aus Falludscha, die letztes Wochenende hier in Bagdad ankamen, sagen, amerikanische Kampfflugzeuge hätten Cluster-Bomben abgeworfen - auf eine Straße hinter ihren Falludschaer Häusern. Einer der Männer war so ängstlich, dass er seinen Namen in diesem Artikel nicht nennen wollte. “Meine Nachbarn sahen die Bomblets (kleine Bomben)”, behauptet er, “und ich hörte diese schrecklichen Geräusche, wie sie nur Cluster-Bomben machen, wenn man sie auf uns abwirft. Mein Haus wurde von ihren Schrapnells getroffen. Ich hatte zuviel Angst, um mein Haus zu verlassen und mich selbst zu überzeugen - wegen der Heckenschützen”.

Abdul Aziz ist der 15jährige Sohn Abu Muhers. Er sagt: “Ich sah zwei meiner Nachbarn, wie sie von US-Heckenschützen angeschossen wurden - als ich einmal nach draußen ging. Ich habe außerdem einige dieser kleinen Cluster-Bomben auf der Erde gesehen, die von den Kriegsflugzeugen der Amerikaner abgeworfen wurden. Aber die meiste Zeit hatten wir zuviel Angst, um auch nur aus unseren Fenstern zu schauen”.

Ein anderer Flüchtling, der unter Zusicherung von Anonymität bereit ist zu reden, stellt die wütende Frage: “Ist das die Art, wie die Amerikaner den Irak befreien? Die amerikanische Freiheit tötet Iraker. Falludscha wird zum zweiten Palästina. Wie lange werden wir noch so leben müssen?” Alle drei Männer sagen, die Stadt sei weiterhin ohne Elektrizität. Fließendes Wasser hätten sie zwar gehabt, aber die meiste Zeit einen Generator benutzt.

Abu Muhers Nachbar, ein Mann namens Abdel Salam, sagt, dass medizinische Hilfe die Menschen in Falludscha nur verzögert oder gar nicht erreiche. “Als wir die Stadt am Sonntag verließen, sahen wir, wie eine Ambulanz der Vereinigten Arabischen Emirate an einem der Haupt-Checkpoints der Amerikaner wieder umdrehte. Warum lassen sie keine Ambulanzen nach Falludscha durch?”

Laut offiziellem Militärstatement der USA werden - eskortierte - Ambulanzen regelmäßig nach Falludscha durchgelassen. Um Kommentierung gebeten, hatte Christy Clemmons vom Pressezentrum der Provisorischen Behörde der Koalition (CPA) Anfang der Woche im Namen des irakischen Gesundheitsministerium insistiert, Notfallfahrzeuge gelangten in die Stadt. “Wir arbeiten beim Gesundheitsministerium und haben bis dato 46 Ambulanzen nach Falludscha hineingelassen”, sagt sie. “Das US-Militär begleitet die Ambulanzen, da diese in der Vergangenheit von Aufständischen requiriert wurden und dazu benutzt, US-Soldaten anzugreifen”.

Der Generalsekretär des Irakischen Roten Halbmonds Faris Hamed allerdings teilte am Montag gegenüber NewStandard mit, keine Ambulanz des Roten Halbmonds sei seit 13. April in die Stadt Falludscha gelassen worden, also auf dem Höhepunkt der Kämpfe in der Stadt. Für ein Update war Hamed seither nicht zu erreichen.

Ein Bewohner von Al-Adhamiya hatte sein Haus bereitwillig für die Flüchtlinge geräumt. Er beherbergt sie, ohne Miete zu verlangen und hat ihnen Nahrungsmittel geschenkt.

Abu Mujahed, Sprecher der Islamischen Partei, ist in Falludscha. Heute sagte er am Telefon, es befände sich noch immer eine große Zahl Zivilisten dort, die nicht aus der belagerten Stadt herauskönnten. Abu Mujahed hilft bei der Hilfsgüterverteilung und ist in die Verhandlungen mit dem US-Militär involviert. “Es gibt soviele Menschen, denen es an Wasser fehlt, an Strom und medizinischer Hilfe”, sagt er. “Die meiste Zeit kann niemand nach Falludscha rein und keiner raus”. Mujahed sagt, gestern hätte das US-Militär die angebliche Waffenruhe gebrochen, indem es versuchte, in das Julan-Viertel sowie in das Industriegebiet von Falludscha einzumarschieren. Er fügt hinzu: “Das ist eine Katastrophe! Nur noch wenige Leute können ins Hauptkrankenhaus, denn die Amerikaner kontrollieren es jetzt. Heckenschützen feuern nach Julan hinein, sie töten soviele Zivilisten”.

Laut Berichten des US-Militärs erfolgten die Angriffe auf Julan als Reaktion auf Angriffe der Aufständischen. Bataillonskommandant Oberstleutnant Brennan Byrne sagte gegenüber AP, für ihn stellten die aufständischen Aktivitäten einen “schwerwiegenden Bruch” des Abkommens dar, das das US-Militär angeblich mit den Widerstandskräften aushandelte. Wie AP weiter berichtet, wurden bei den nächtlichen Gefechten 20 Iraker aber kein Amerikaner getötet.

Mujahed sagt, aus dem ganzen Irak kämen Hilfsgüter nach Falludscha. Sogar von Anhängern des rebellierenden Schiiten-Geistlichen Muqtada Al-Sadr seien Hilfslieferungen eingetroffen. Er habe das Gefühl, die Situation schweiße alle Iraker zusammen. “Frauen aus Baquba bringen ihr Gold, ein Mann im Rollstuhl aus Kirkuk brachte seinen Rollstuhl und benutzte Krücken, als er ging, nachdem er ihn gespendet hatte, Hilfsgüter treffen aus Mosul ein, aus Adhamiya, Tikrit, Nasariyah, Baquba, von überall aus dem Irak, wo man sich nur vorstellen kann”, so Mujahed. Der Partei-Offizielle berichtet, am Dienstag sei es 50 Familien erlaubt worden, nach Falludscha zurückzukehren, am Mittwoch hingegen nur 7. Viele Flüchtlinge berichteten, sie hätten außerhalb ihrer Heimatstadt keinen passenden Ort zum bleiben gefunden.

Der Abriegelungs-Krieg wurde angeordnet, obwohl, wie Bewohner Falludschas sagen, viele der Mujaheddin ihre Waffen der Irakischen Polizei ausgehändigt hätten - eine Bedingung des Waffenruhe-Edikts. Gegenüber AP hatte Oberstleutnant Byrne erklärt, die meisten der entsprechend der US-Forderung abgegebenen Waffen seien unbrauchbar. Damit sei der Forderung der Marines, alle schweren Waffen in Falludscha abzugeben, nicht Folge geleistet worden. Als Reaktion auf die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Kämpfer, so Byrnes, würden die Marines keinem der Iraker - hunderte - die am nahen Checkpoint in einer Schlange darauf warteten, in ihre Häuser zurückzukehren, dieses erlauben, zumindest vorläufig nicht.

“Durch die Kämpfe haben wir mindestens 700 Tote”, berichtet Mujahed aus Falludscha. “Und soviele davon sind Kinder oder Frauen. In Teilen der Stadt ist der Leichengeruch unerträglich.” Er sagt, US-Flugzeuge hätten letzte Nacht 5 Häuser in Julan bombardiert. Die Mujaheddin seien in Stellung gegangen und erwarteten die Rückkehr der Marines, um, wie von den USA angedroht, eine Invasion auf breiter Front durchzuführen.

Der Sprecher der Koalition, Brigadegeneral Mark Kimmitt, sagt, die US-Marines setzten ihre “aggressiven Patrouillen und offensiven Operationen” im Bereich Falludscha fort, “ebenso wird den Bürgern Falludschas humanitäre Hilfe gewährt”. Die Iraker, die ich für diese Story interviewte, können -hinsichtlich dieser dualen Rolle - allerdings nur Ersteres bezeugen.

Anmerkungen:

Der Autor Dahr Jamail ist Bagdad-Korrespondent des NewStandard. Jamail stammt aus Alaska. Er sieht seine Aufgabe darin, über die unberichtete Story des besetzten Irak zu berichten. Durch eine Spende leisten Sie einen Beitrag, damit Jamail seine wichtige Arbeit im Irak fortsetzen kann. Informationen/Spendenkonto unter: http:/newstandardnews.net/iraqdispatches

Quelle: ZNet Deutschland vom 25.04.2004. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “Report from Fallujah”

Veröffentlicht am

26. April 2004

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