Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Martin Luther King: Das Haus der Welt

Martin Luther King wurde am 4. April 1968 in Memphis, Tennessee, ermordet. Ihm zu Gedenken veröffentlichen wir am 4. April 2004, dem 36. Jahrestag seiner Ermordung, auf der Lebenshaus-Website seine vielleicht größte Rede: “Das Haus der Welt”. Er beschreibt darin die enormen Herausforderungen, denen sich die Menschheit stellen muss.

Einführung 1

Dr. Martin Luther King wurde am 4. April 1968 in Memphis, Tennessee, ermordet. Zehn Tage zuvor stellte ihn Rabbi Abraham Joshua Heschel, Autor der zum Klassiker gewordenen Studie “Die Propheten”, einer Versammlung von Rabbis so vor: “Wo hören wir heute in Amerika eine Stimme wie die Stimme der Propheten von Israel? Martin Luther King ist ein Zeichen, dass Gott die Vereinigten Staaten von Amerika nicht im Stich gelassen hat. Gott hat ihn uns geschickt. Seine Gegenwart ist die Hoffnung Amerikas. Seine Mission ist heilig, seine Führung für jeden von uns von höchster Wichtigkeit. […] Martin Luther King, Jr. ist eine Stimme, eine Vision, und ein Weg. […] Die gesamte Zukunft Amerikas wird von Dr. Kings Einfluss bestimmt werden.” 2

Der Wissenschaftler und Aktivist Vincent Harding schreibt in seinem Buch Martin Luther King: The Inconvenient Hero: “[…] wenn es auch nur eine Chance gibt, dass Rabbi Heschel recht hatte, dass der ruhelose King und seine unruhestiftenden Visionen, Worte, und Taten der Schlüssel zur Zukunft Amerikas darstellen, […] dann wäre es für Gelehrte, Bürger oder Zelebranten nicht nur treulos, sondern selbstmörderisch, den realen Menschen King und seine tiefsten Implikationen zu vergessen.” 3

Im Sog des 11. September macht es Sinn, das Augenmerk wieder auf Dr. Kings Schriften zu richten, um zu erkennen, ob wir unter Beachtung seiner prophetischen Botschaft zukünftige Angriffe auf diese Nation abwenden können. Die vielleicht beste Zusammenfassung von Kings Lehren ist das Kapitel “The World House” seines Buches: “Where Do We Go From Here? Chaos or Community?” (deutsch: “Das Haus der Welt”, in: “Wohin führt unser Weg? Chaos oder Gemeinschaft?”) von 1967. Dieses Kapitel basiert auf Kings Nobelpreisrede, die er am 11. Dezember 1964 an der Universität von Oslo hielt. King arbeitete fast einen Monat lang an der Rede, und machte daraus das Schlusskapitel eines Buches, das die enormen Herausforderungen beschreibt, denen sich die Menschheit stellen muss. Es wäre angebracht, zu sagen, dass er “Das Haus der Welt” als seine wichtigste Einzelrede/seinen wichtigsten Einzelaufsatz betrachtete. Anders als Kings ‘“Ich habe einen Traum”-Rede’ oder der “Der Brief aus dem Gefängnis in Birmingham”, ist diese Arbeit praktisch unbekannt.

In “Das Haus der Welt” ruft King uns auf: 1. überwindet die Schranken von Rasse, Klasse, Nation und Religion, und nehmt die Vision einer Welt als ein Haus an; 2. rottet zu Hause und auf der ganzen Welt das dreifache Übel von Rassismus, Armut und Militarismus aus; 3. weist den exzessiven Materialismus in seine Schranken, und geht über von einer materiell orientierten, zu einer menschenorientierten Gesellschaft; und 4. leistet Widerstand gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, und löst Konflikte im Geist der Liebe, die sich in der Philosophie und den Methoden der Gewaltlosigkeit ausdrückt. Er tritt für einen Marshallplan ein, um die globale Armut auszurotten, gegen Hungerlöhne, und ein garantiertes Minimaleinkommen für jede amerikanische Familie. Er drängt die Vereinten Nationen, in internationalen Konflikten Versuche mit der Anwendung von gewaltfreien direkten Aktionen zu machen. Der letzte Absatz weist warnend auf die “große Dringlichkeit” hin, und mahnt, dass dies die letzte Chance sein könnte, zwischen Chaos und Gemeinschaft zu wählen.

Im Anschluss folgt der komplette Text von “Das Haus der Welt” im Originaltext, unredigiert hinsichtlich eine beide Geschlechter einschließende Sprache. Wo King davon spricht, sich mit den Umständen zu befassen, die den Kommunismus hervorbringen, könnten wir heute stattdessen “Terrorismus” oder “religiösen Fanatismus” sagen. Entsprechend der Tradition der Propheten sind Kings Worte nicht einfach für den Zuhörer, sie verlangen eine schmerzliche Selbstprüfung. Aber er hält uns auch eine Vision und ein Versprechen für die Zukunft vor, das im Herzen jedes Menschen seinen Nachhall finden sollte.

Das Haus der Welt

Von Martin Luther King 4

I.

Vor einigen Jahren starb ein berühmter Romanschriftsteller. Unter seinen Papieren fand man eine Liste von Ideen für künftige Arbeiten; am stärksten unterstrichen war folgendes: “Eine ganz verstreut lebende Familie erbt ein Haus, in dem sie zusammen leben soll.” Das ist das große neue Problem der Menschheit. Wir haben ein großes Haus geerbt, ein großes “Haus der Welt”, in dem wir zusammen leben müssen - Schwarze und Weiße, Morgenländer und Abendländer, Juden und Nichtjuden, Katholiken und Protestanten, Moslems und Hindus - eine Familie, die in Ideen, Kultur und Interessen zu Unrecht getrennt ist, die, weil wir niemals wieder getrennt leben können, irgendwie lernen muss, in Frieden miteinander auszukommen.

So sehr auch die amerikanischen Schwarzen darum kämpfen, endlich in unserer Heimat, den Vereinigten Staaten, zu Hause zu sein, wir können das größere Haus der Welt, in dem wir ebenfalls leben, nicht ignorieren. Die Gleichheit mit den Weißen wird weder die Probleme der Weißen noch diejenigen der Schwarzen lösen, wenn sie Gleichheit mit einer mit Armut geschlagenen und zur Vernichtung durch den Krieg verurteilten Welt bedeutet.

Alle Bewohner der Erde sind jetzt Nachbarn. Diese weltweite Nachbarschaft ist zum großen Teil als Ergebnis der modernen wissenschaftlichen und technologischen Revolution entstanden. Die Welt von heute ist ganz anders als die Welt von vor hundert Jahren. Vor einem Jahrhundert hatte Thomas Edison noch nicht die Glühbirne erfunden, die an viele dunkle Stellen der Erde Licht bringt, Die Brüder Wright hatten noch nicht jenen faszinierenden mechanischen Vogel erfunden, der seine gigantischen Flügel am Himmel ausbreitete, die Entfernungen winzig klein machte und die Zeit in den Dienst des Menschen stellte. Einstein hatte noch nicht einen unumstößlichen Grundsatz angegriffen, die Relativitätstheorie war noch nicht aufgestellt. Die Menschen, die vor einem Jahrhundert ebenso wie jetzt nach einer besseren Verständigung suchten, hatten kein Fernsehen, keinen Rundfunk, kein Telefon und keinen Film, um miteinander in Verbindung zu treten. Die Medizin hatte noch nicht die Wunderdrogen entdeckt, die vielen gefürchteten Seuchen und Krankheiten ein Ende machten. Vor hundert Jahren hatten die Militärs noch nicht die erschreckenden Waffen entwickelt, die wir heute kennen - nicht das Bombenflugzeug, die fliegende Festung, die den Tod herabregnen lässt, nicht das Napalm, das alle Dinge und alles Leben auf seinem Wege verbrennt. Vor einem Jahrhundert gab es keine Wolkenkratzer, die fast die Sterne berühren, und keine gigantischen Brücken über dem Wasser. Die Wissenschaft hatte weder in die unergründlichen Weiten des Weltraumes geblickt, noch war sie in die Tiefe des Meeres eingedrungen. Alle diese neuen Erfindungen, diese neuen Ideen, diese teils faszinierenden und teils erschreckenden Entwicklungen kamen später. Die meisten sind in den letzten sechzig Jahren gekommen, manchmal mit beängstigender Langsamkeit, oft bezeichnenderweise mit verwirrender Schnelligkeit, aber immer mit ungeheurer Bedeutung für unsere Zukunft.

Die kommenden Jahre werden eine Fortsetzung derselben dramatischen Entwicklung bringen. Die Physik wird neue Wege durch die Stratosphäre bahnen. In einigen Jahren werden Astronauten und Kosmonauten wahrscheinlich ruhig über die unsicheren Pfade des Mondes wandeln. In zwei bis drei Jahren wird es dank der neuen Überschall-Düsenflugzeuge möglich sein, in zweieinhalb Stunden von New York nach London zu fliegen. In den kommenden Jahren wird die Medizin das Leben der Menschen durch Erfindungen von Heilmitteln für Krebs und die tödlichen Herzleiden stark verlängern. Automation und Kybernetik werden es den arbeitenden Menschen ermöglichen, ungeahnte Mengen Freizeit zu haben. Das alles gibt ein verlockendes Bild von der Einrichtung, dem Arbeitsplatz, den geräumigen Zimmern, den neuen Dekorationen und dem architektonischen Modell des großen Welthauses, in dem wir leben. Neben der wissenschaftlichen und technologischen Revolution haben wir in den letzten zehn Jahren auch eine weltweite Freiheitsrevolution erlebt. Die augenblickliche Erhebung der Schwarzen der Vereinigten Staaten erwächst aus einer tiefen, leidenschaftlichen Entschlossenheit, Freiheit und Gleichheit “hier” und “jetzt” zu realisieren. In einer Hinsicht ist die Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten ein speziell amerikanisches Phänomen, das im Lichte der amerikanischen Geschichte verstanden und nach den Bedingungen der amerikanischen Situation behandelt werden muss. Aber auf einer anderen, wichtigeren Ebene ist das, was heute in den Vereinigten Staaten geschieht, ein bedeutendes Stück Weltentwicklung. Wir leben in einer Zeit, sagte der Philosoph Alfred North Whitehead, “in der die kultivierte Welt ihre grundsätzliche Einstellung ändert, an einem großen Wendepunkt der Geschichte, an dem die Voraussetzungen, nach denen die Gesellschaft gegliedert ist, analysiert, scharf angegriffen und gründlich geändert werden”. Was wir jetzt sehen, ist eine Explosion in die Freiheit, die Verwirklichung “einer Idee, deren Zeit gekommen ist”, um ein Wort von Victor Hugo zu gebrauchen. Das tiefe Grollen der Unzufriedenheit, das wir heute hören, ist das Drohen der enterbten Massen, die aus den Kerkern der Unterdrückung zu den strahlenden Höhen der Freiheit steigen. In einem einzigen erhabenen Chor singen die sich erhebenden Massen die Worte unseres Freiheitsliedes “Ain’t gonna let nobody turn us around” (Uns wird niemand aufhalten). Durch die größte Befreiungsbewegung der Geschichte breitet sich die Freiheit wie eine Epidemie in der ganzen Welt aus. Die großen Menschenmassen sind entschlossen, der Ausbeutung ihrer Rassen und Länder ein Ende zu machen. Sie sind erwacht und strömen wie eine Flutwelle ihrem Ziel entgegen. Man kann sie auf jeder Dorfstraße, in den Docks, in den Häusern, bei den Studenten, in den Kirchen und bei politischen Versammlungen raunen hören. Mehrere Jahrhunderte lang strömte die Richtung der Geschichte von den Nationen und Gesellschaften des westlichen Europas mit “Eroberungen” verschiedener Art in die übrige Welt hinaus. Diese Zeit, die Ära des Kolonialismus, ist zu Ende. Der Osten geht nach Westen. Die Erde wird neu verteilt. Ja, wir “ändern unsere grundsätzliche Einstellung”.

Diese Entwicklung dürfte einen Kenner der Geschichte nicht überraschen. Unterdrückte Menschen können nicht immer unterdrückt bleiben. Einmal schließlich tritt die Sehnsucht nach Freiheit in Erscheinung. Die Bibel erzählt die spannende Geschichte, wie Moses vor Jahrhunderten im Hofe Pharaos stand und rief: “Lass mein Volk ziehen!” Das war das erste Kapitel einer langen Geschichte. Der augenblickliche Kampf in den Vereinigten Staaten ist ein späteres Kapitel derselben Geschichte. Etwas in seinem Innern hat den Schwarzen an sein Geburtsrecht der Freiheit erinnert, und etwas von außen hat ihn daran erinnert, dass es errungen werden kann. Bewusst oder unbewusst ist er vom Geist der Zeit erfasst worden, und zusammen mit seinen schwarzen Brüdern in Afrika und seinen braunen und gelben Brüdern in Asien, Südamerika und dem Karibischen Meer drängt der Schwarzen der Vereinigten Staaten vorwärts zum gelobten Land der rassischen Gleichheit.

Nichts könnte tragischer für einen Menschen sein, als in dieser revolutionären Zeit zu leben, ohne die neue Haltung und die neue seelische Einstellung, die die neue Lage verlangt, einzunehmen. Von der bekannten Geschichte des Rip Van Winkle von Washington Irving behalten wir gewöhnlich nur das eine, dass Rip zwanzig Jahre schlief, Es gibt jedoch noch einen wichtigen Punkt, der fast immer übersehen wird. Das war das Schild an dem Gasthaus der kleinen Stadt am Hudson, von dem Rip fortging und auf den Berg stieg, um seinen langen Schlaf zu halten. Als er hinaufstieg, war auf dem Schild ein Bild von König George III, von England. Als er zwanzig Jahre später herunterkam, war auf dem Schild ein Bild von George Washington. Als er das Bild des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten sah, war Rip verwirrt, aufgeregt und ratlos. Er wusste nicht, wer Washington war. Das Auffallendste an dieser Geschichte ist nicht, dass Rip zwanzig Jahre schlief, sondern dass er eine Revolution verschlief, die den Verlauf der Menschheitsgeschichte geändert hat.

Es gehört zu den großen Passiven der Geschichte, dass allzu viele Menschen in großen Zeiten des sozialen Wandels nicht wach bleiben. Jede Gesellschaft hat ihre Beschützer des Status quo und ihre Bruderschaften der Gleichgültigkeit, die dafür bekannt sind, Revolutionen zu verschlafen. Aber heute hängt unser Überleben selbst von unserer Fähigkeit ab, wach zu bleiben, uns neuen Ideen anzupassen, wachsam zu sein und uns der Aufforderung zum Wandel zu stellen. Das große Haus, in dem wir leben, verlangt, dass wir diese weltweite Nachbarschaft in eine weltweite Bruderschaft verwandeln. Gemeinsam müssen wir lernen, als Brüder zu leben, oder wir werden gemeinsam gezwungen sein, als Toren zu sterben. Wir müssen leidenschaftlich und unermüdlich daran arbeiten, die Kluft zwischen unserem wissenschaftlichen und unserem moralischen Fortschritt zu überbrücken. Es ist eines der großen Probleme der Menschheit, dass wir an einer Armut des Gemütes leiden, die in schreiendem Gegensatz zu unserem wissenschaftlichen und technologischen Überfluss steht. Je reicher wir materiell geworden sind, desto ärmer sind wir moralisch und seelisch geworden.

Jeder Mensch lebt in zwei Welten, der inneren und der äußeren. Die innere ist die Welt der seelischen Ziele, die in der Kunst, der Literatur, den Sitten und der Religion zum Ausdruck kommen. Die äußere Welt ist dieser Komplex von Geräten, Techniken, Mechanismen und Mitteln, mit deren Hilfe wir leben. Heute ist es unser Problem, dass wir zugelassen haben, dass die innere Welt in der äußeren untergegangen ist. Wir haben zugelassen, dass die Mittel, mit deren Hilfe wir leben, die Ziele, für die wir leben, weit überholt haben. Vieles im modernen Leben kann in dem vielsagenden Wort von Thoreau (1817-1862, amerikanischer Schriftsteller und Philosoph - Anm. d. Übers.) wiedergegeben werden: “Bessere Mittel für keinen besseren Zweck”. Das ist die schwierige Lage, das tiefe, beunruhigende Problem des modernen Menschen. Größere materielle Macht bedeutet größere Gefahr, wenn die entsprechende größere Seele fehlt. Wenn das Äußere der menschlichen Natur das Innere unterjocht, ziehen dunkle Gewitterwolken auf.

Die westliche Kultur ist in diesem Augenblick besonders verletzlich; denn unser materieller Überfluss hat uns weder Seelenfrieden noch Heiterkeit des Gemütes gebracht. Ein asiatischer Schriftsteller hat unser Dilemma in offenen Worten so geschildert:

“Ihr nennt eure tausend materiellen Geräte ‘arbeitssparende Maschinen’; trotzdem seid ihr dauernd ‘beschäftigt’. Mit der Vermehrung eurer Maschinen werdet ihr immer müder, gieriger, nervöser, unbefriedigter. Wieviel ihr auch habt, ihr wollt mehr haben, und wo ihr auch seid, ihr wollt woanders hin … eure Geräte sind weder zeitsparende noch seelenrettende Maschinen. Sie sind scharfe Sporen, die euch anspornen, mehr Maschinen zu erfinden und mehr Geschäfte zu machen.”

Das sagt uns etwas über unsere Kultur, was nicht als voreingenommener Angriff eines östlichen Denkers, der auf den westlichen Wohlstand eifersüchtig ist, abgetan werden kann. Wir können uns der Anklage nicht entziehen.

Das bedeutet nicht, dass wir die Uhr des wissenschaftlichen Fortschritts zurückdrehen müssen. Niemand kann die Wunder übersehen, die die Wissenschaft für unser Leben erarbeitet hat. Das Auto wird nicht abdanken zugunsten von Pferd und Wagen oder die Eisenbahn zugunsten der Postkutsche oder der Traktor zugunsten des Pfluges oder die wissenschaftliche Methode zugunsten von Ignoranz und Aberglauben. Aber unser moralisches und seelisches “Nachhinken” muss wettgemacht werden. Wenn die wissenschaftliche Macht die moralische Macht überholt, haben wir schließlich ferngelenkte Raketen und irregeleitete Menschen. Wenn wir törichterweise unser inneres Leben einengen und das äußere erweitern, unterzeichnen wir den Haftbefehl für unseren eigenen Gerichtstag. Unsere Hoffnung auf schöpferisches Leben in diesem Weitenhaus, das wir geerbt haben, liegt in unserer Fähigkeit, die moralischen Ziele unseres Lebens im eigenen Charakter und in der sozialen Gerechtigkeit wieder aufzurichten. Ohne dieses seelische und moralische Wiedererwachen werden wir uns durch den Missbrauch unserer eigenen Werkzeuge selbst vernichten.

II.

Von einem der moralischen Gebote unserer Zeit sind wir aufgerufen, in der ganzen Welt mit unerschütterlicher Entschlossenheit daran zu arbeiten, die letzten Spuren des Rassismus zu vernichten. Schon 1906 prophezeite W. E. B. Du Bois: “Das Problem des zwanzigsten Jahrhunderts wird das Problem der Farbigen-Schranke sein.” Jetzt, da wir zwei Drittel dieser spannenden Periode der Geschichte hinter uns haben, wissen wir sehr gut, dass der Rassismus immer noch der Höllenhund ist, der die Spur unserer Kultur verfolgt. Der Rassismus ist kein rein amerikanisches Phänomen. Seine böse Herrschaft kennt keine geographischen Grenzen. Ja, der Rassismus und sein ewiger Verbündeter - die wirtschaftliche Ausbeutung - liefern sogar den Schlüssel zum Verständnis der meisten internationalen Komplikationen in dieser Generation.

Das klassische Beispiel eines organisierten und institutionalisierten Rassismus ist die Südafrikanische Union. Ihre nationale Theorie und Praxis ist die Inkarnation der Lehre von der weißen Überlegenheit mitten in einer Bevölkerung, deren überwältigende Mehrheit schwarz ist. Aber die Tragödie Südafrikas liegt nicht einfach in seiner eigenen Politik, sondern auch in der Tatsache, dass die rassistische Regierung Südafrikas praktisch möglich gemacht wird durch die Wirtschaftspolitik von Großbritannien und den Vereinigten Staaten, zwei Ländern, die die moralischen Bollwerke unserer westlichen Welt zu sein vorgeben.

In einem Land nach dem anderen sehen wir weiße Menschen damit beschäftigt, auf dem Schweiß und dem Leiden farbiger Menschen ganze Imperien zu errichten. Portugal setzt seine Methoden der Sklavenarbeit und der Unterwerfung in Angola fort; das lan-Smith-Regime in Rhodesien genießt weiter die Unterstützung der von den Briten abhängigen Industrie und ihres Privatkapitals trotz der erklärten Opposition der britischen Regierungspolitik. Sogar im Fall des kleinen Südwestafrika sehen wir, dass die mächtigen Nationen der Welt unfähig sind, gegenüber Südafrika eine moralische Haltung einzunehmen, obgleich das kleinere Land unter der Treuhänderschaft der Vereinten Nationen steht. Seine Politik wird von Südafrika beherrscht, und seine Arbeitskräfte werden zu den Bedingungen von Sklavenarbeit in die Bergwerke gelockt.

Unter der Kennedy-Regierung war man über die Probleme, die unter den Verhältnissen des Rassismus und der Ausbeutung in der farbigen Welt entstehen, unterrichtet und hatte zeitweise ein Interesse daran, die Vereinigten Staaten von ihrer Mitschuld zu befreien, wenn der Versuch auch nur auf diplomatischer Ebene gemacht wurde. Als Adlai Stevenson unser Ständiger Botschafter bei den Vereinten Nationen wurde, zeigte sich der Beginn einer vernünftigen Annäherung an die farbigen Völker der Welt. Es wurde jedoch wenig oder gar nichts unternommen, um mit den wirtschaftlichen Aspekten der Ausbeutung der Farbigen fertigzuwerden. Wir haben ein berüchtigtes Schweigen bewahrt über die mehr als siebenhundert Millionen Dollars amerikanischen Kapitals, die das System der Apartheid stützen, ganz zu schweigen von den Milliarden Dollars für Handel und militärische Bündnisse, die unter dem Vorwand der Bekämpfung des Kommunismus in Afrika aufrechterhalten werden. Nichts gibt den Kommunisten ein besseres Klima für Ausbreitung und Infiltration als das dauernde Bündnis unserer Nation mit dem Rassismus und der Ausbeutung in der ganzen Welt. Und wenn wir lässig sind in unserer Entschlossenheit, die letzten Spuren des Rassismus in unseren Beziehungen zur übrigen Welt auszurotten, werden wir bald sehen, wie die Sünden unserer Väter an unserer und den folgenden Generationen gerächt werden. Denn die Verhältnisse, die in Afrika in so klassischer Weise vertreten sind, herrschen auch in Asien und bei unseren Nachbarn, in Lateinamerika. Überall in Lateinamerika findet man ein ungeheuer starkes Ressentiment gegen die Vereinigten Staaten, und dieses Ressentiment ist immer am stärksten bei den ärmeren und dunkleren Völkern des Kontinents. Leben und Schicksal von Lateinamerika liegen in den Händen von Aktiengesellschaften der USA. Die Entscheidungen, die das Leben der Südamerikaner betreffen, werden scheinbar von ihren Regierungen getroffen; aber es gibt fast keine legitime Demokratie auf dem ganzen Kontinent. Die meisten Regierungen werden von riesigen ausbeuterischen Kartellen beherrscht, die Lateinamerika seiner Bodenschätze berauben, während sie einen kleinen Rabatt einigen Angehörigen einer korrupten Aristokratie gewähren, die ihn ihrerseits nicht in ihrem eigenen Land zum Wohl ihres eigenen Volkes, sondern in Schweizer Banken und den Spielplätzen der Welt investiert.

Hier sehen wir den Rassismus in seiner verfeinerten Form, dem Neokolonialismus. Die Bibel und die Annalen der Geschichte sind voll von traurigen Geschichten davon, wie ein Bruder den anderen seines Geburtsrechtes beraubt und dadurch Streit und Feindschaft für Generationen schafft. Wir können solch einem Urteil in Lateinamerika wohl ebensowenig entgehen, wie wir in Vietnam der Ernte des Hasses, der durch ein Jahrhundert französischer Ausbeutung gesät wurde, entgehen konnten.

Da ist die bequeme Versuchung, die augenblickliche Unruhe und Bitterkeit in der ganzen Welt einer kommunistischen Verschwörung zur Unterminierung Europas und Amerikas zuzuschreiben; aber die potentielle Brisanz unserer Weltlage ist viel mehr der Enttäuschung über die Versprechungen des Christentums und der Technologie zuzuschreiben.

Die revolutionären Führer von Afrika, Asien und Lateinamerika haben praktisch alle ihre Schulbildung in den Hauptstädten des Westens erhalten. Ihre erste Erziehung erfolgte oft in christlichen Missionsschulen. Hier bekamen sie das Gefühl ihrer Würde und lernten, dass alle Menschen Gottes Kinder sind. In den letzten Jahren haben ihre Länder eine Invasion von Autos, Coca-Cola und Hollywood erlebt, so dass sogar die entlegensten Dörfer die Wunder und Segnungen kennengelernt haben, die Gottes weißen Kinder zuteil wurden.

Wenn erst einmal der Ehrgeiz und das Verlangen der Welt durch die Wunder der westlichen Technologie gereizt und das Selbstverständnis eines Volkes durch das Christentum geweckt ist, kann man nicht hoffen, Menschen aus dem irdischen Königreich des Besitzes, der Gesundheit und des Glücks auszuschließen. Entweder nehmen sie an den Segnungen der Erde teil, oder sie organisieren sich, um diejenigen Machtgefüge und Regierungen niederzureißen und zu stürzen, die ihren Zielen im Wege stehen.

Frühere Generationen konnten sich solchen Luxus nicht vorstellen; aber ihre Kinder haben jetzt dieses Bild vor Augen und verlangen, dass es Wirklichkeit wird. Und wenn sie sich umsehen und entdecken, dass die einzigen Menschen, die an der Fülle der westlichen Technologie nicht teilhaben, farbige Menschen sind, ist die Schlussfolgerung fast unvermeidlich, dass ihre Lage und ihre Ausbeutung in irgendeiner Beziehung zu ihrer Farbe und zum Rassismus der weißen westlichen Welt stehen.

Das ist ein trügerisches Fundament für ein Welthaus. Der Rassismus kann sehr wohl das unterminierende Übel sein, das den Untergang der westlichen Kultur bedeuten wird. Arnold Toynbee hat gesagt, dass etwa sechsundzwanzig Kulturen auf der Erde entstanden sind. Beinahe alle sind in Schutt und Asche wieder untergegangen. Der Abstieg und Fall dieser Kulturen wurde Toynbee zufolge nicht durch äußere Invasionen, sondern durch inneren Verfall verursacht. Sie reagierten nicht schöpferisch auf die Forderungen, die ihnen gestellt wurden. Wenn die westliche Kultur jetzt nicht konstruktiv auf den Aufruf zur Austreibung des Rassismus reagiert, wird ein künftiger Historiker sagen müssen, dass eine große Kultur unterging, weil ihr die Seele und das Engagement dafür fehlte, die Gerechtigkeit für alle Menschen zur Realität zu machen.

Ein anderes ernstes Problem, das gelöst werden muss, wenn wir in unserem Welthaus schöpferisch leben wollen, ist die Armut im internationalen Bereich. Wie ein ungeheurer Polyp streckt sie ihre würgenden Greifarme in Länder und Dörfer der ganzen Welt aus. Zwei Drittel aller Menschen auf der Welt gehen hungrig zu Bett. Sie sind unterernährt, schlecht untergebracht und schäbig gekleidet. Viele haben keine Wohnung und kein Bett zum Schlafen. Ihr Bett ist der Bürgersteig oder die staubige Dorfstraße. Die meisten dieser von Armut verfolgten Kinder Gottes haben niemals einen Arzt oder Zahnarzt gesehen.

Die Armut ist nichts Neues. Was aber neu ist, das ist, dass wir jetzt die nötigen Hilfsmittel haben, um sie zu beseitigen. Vor einigen Jahren schrieb Dr. Kirtley Mather, ein Harvard-Geologe, ein Buch mit dem Titel “Enough and to Spare”. Er erläutert das Thema, dass eine Hungersnot in der modernen Welt unnötig ist. Die Frage, die heute auf der Tagesordnung steht, muss daher lauten: Warum soll es in irgendeinem Land, in irgendeiner Stadt, an irgendeinem Tisch noch Hunger und Entbehrung geben, wenn der Mensch die nötigen Hilfsmittel und die wissenschaftlichen Kenntnisse hat, um die ganze Menschheit mit dem Nötigsten zum Leben zu versorgen? Sogar Wüsten können bewässert, und die oberste Erdschicht kann ersetzt werden. Wir können uns nicht über Mangel an Land beklagen; denn es gibt auf der Erde fünfundsechzig Millionen Quadratkilometer kultivierbares Land, von denen wir nicht einmal sieben Millionen nutzen. Wir haben eine erstaunliche Kenntnis der Vitamine, der Ernährung, der Nahrungsmittelchemie und der Vielseitigkeit der Atome. Es gibt keinen Mangel an menschlichen Arbeitskräften, es mangelt nur am guten Willen. Das bedeutet nicht, dass wir die ungeheure Beschleunigung der Wachstumsrate der Weltbevölkerung übersehen können. Die Bevölkerungsexplosion ist eine Realität, und man muss ihr entgegentreten, wenn wir in den kommenden Jahrhunderten nicht “Nur Stehplatz” auf der Erde haben wollen. Die meisten großen unterentwickelten Nationen der Welt stehen heute vor dem Problem einer zu großen Bevölkerung im Verhältnis zu ihren Hilfsquellen. Aber sogar dieses Problem wird durch die Beseitigung der Armut stark verringert werden. Wenn die Menschen mehr Chancen für eine bessere Bildung und größere wirtschaftliche Sicherheit sehen, fangen sie an zu überlegen, ob eine kleinere Familie für sie selbst und ihre Kinder nicht besser wäre. Mit anderen Worten: Ich bezweifle, dass es eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl ohne vorherige Stabilisierung der wirtschaftlichen Hilfsquellen geben kann.

Die Zeit für einen totalen Weltkrieg gegen die Armut ist da. Die reichen Nationen müssen ihre großen Mittel des Reichtums dazu benutzen, den Unterentwickelten zu helfen, die Ungebildeten zur Schule zu schicken und die Unterernährten zu ernähren. Die Wohlhabenden und Gesicherten sind zu oft gleichgültig und blind gegen die Armut und Entbehrung um sie herum. Die Armen in unseren Ländern sind aus unseren Gedanken verdrängt und von der großen Straße unserer Gesellschaften vertrieben worden, weil wir zugelassen haben, dass sie unsichtbar wurden. Letzten Endes ist eine “große” Nation eine mitfühlende Nation. Kein Mensch und keine Nation kann groß sein, wenn er oder sie kein Interesse für “die Geringsten unter ihnen” hat. Der erste Schritt in dem weltweiten Krieg gegen die Armut ist leidenschaftliches Engagement. Alle reichen Nationen- Amerika, Großbritannien, Russland, Kanada, Australien und die Länder Westeuropas müssen es als moralische Verpflichtung ansehen, den unterentwickelten Gebieten Kapital und technische Hilfe zu geben. Diese reichen Nationen haben ihre Verpflichtungen erst oberflächlich erkannt. Jetzt ist eine allgemeine Strategie der Hilfe nötig. Ein bisschen Unterstützung hier und da wird weder genügen noch das wirtschaftliche Wachstum aufrechterhalten. Es muss eine dauernde Anstrengung gemacht werden, die sich über viele Jahre erstreckt. Die reichen Nationen der Welt müssen unverzüglich einen umfassenden ständigen Marshallplan für Asien, Afrika und Südamerika einleiten. Wenn sie über einen Zeitraum von zehn bis zwanzig Jahren nur zwei Prozent ihres Bruttosozialprodukts jährlich zur Entwicklung der unterentwickelten Nationen bereitstellten, würde die Menschheit auf dem Wege zur Unterwerfung ihres alten Feindes, der Armut, ein gutes Stück vorankommen.

Das Hilfsprogramm, das ich vorschlage, darf von den reichen Nationen nicht heimlich als Mittel zur Beherrschung der armen Nationen benutzt werden. Solch eine Einstellung würde zu einer neuen Art von Patronat und einem Neokolonialismus führen, den keine sich selbst achtende Nation hinnehmen könnte. Schließlich müssen die Programme der Auslandshilfe durch eine mitfühlende, engagierte Anstrengung zur Beseitigung von Armut, Ignoranz und Krankheit auf der Welt motiviert sein. Geld, das ohne echte Einfühlung gegeben wird, ist wie Salz ohne Geschmack, nur gut dazu, zertreten zu werden. Der Westen muss das Programm mit Bescheidenheit und Reue und der nüchternen Erkenntnis beginnen, dass nicht immer alles “nach unserem Willen” gehen wird. Es kann nicht vergessen werden, dass die Westmächte noch gestern Kolonialherren waren. Das Haus des Westens ist alles andere als in Ordnung, und seine Hände sind alles andere als rein.

Wir müssen Geduld haben. Wir müssen bereit sein zu verstehen, warum viele junge Nationen denselben Extremismus, dieselbe Revolution und dieselben Aggressionen durchmachen müssen, die unsere eigene Geschichte gebildet haben. Alle neuen Regierungen stehen vor überwältigenden Problemen. In der Zeit, in der sie darum kämpften, das Joch des Kolonialismus abzuwerfen, war ein einheitliches Ziel gegeben, das allen eine bestimmte Richtung wies. Aber sobald die Unabhängigkeit da ist, stehen all die schweren Probleme des Lebens mit hartem Realismus vor ihnen: der Geldmangel, die würgende Armut, die unkontrollierbaren Geburtenziffern und vor allem das Hochstreben des eigenen Volkes. Die Nachkolonialzeit ist schwieriger und gefährlicher als der Kampf gegen die Kolonialherrschaft. Der Westen muss auch verstehen, dass sein wirtschaftliches Wachstum sich unter ziemlich günstigen Umständen entwickelte. Die meisten westlichen Nationen waren relativ unterbevölkert, als sie ihren wirtschaftlichen Aufschwung erlebten, und sie waren reichlich mit dem Eisenerz und der Kohle versehen, die für den Aufbau der Industrie gebraucht werden. Die meisten jungen Regierungen der heutigen Welt haben ohne diese Vorteile angefangen, und vor allem stehen sie vor schwindelerregenden Problemen der Überbevölkerung. Für sie gibt es keine Möglichkeit, es ohne finanzielle Hilfe und technische Unterstützung zu schaffen.

Ein Programm der reichen Nationen, das für die armen Nationen den Wohlstand wirklich zur Realität macht, wird letzten Endes den Wohlstand aller vermehren. Einer der besten Beweise dafür, dass die Realität sich auf moralischen Fundamenten bewegt, ist die Tatsache, dass Menschen und Regierungen, die hingebend für das Wohl anderer arbeiten, dabei ihre eigene Bereicherung finden. Seit undenklichen Zeiten haben die Menschen nach dem Grundsatz gelebt: “Selbsterhaltung ist das oberste Gesetz des Lebens.” Aber das ist eine falsche Vorstellung. Ich würde sagen, dass die Erhaltung des anderen das oberste Gesetz des Lebens ist. Sie ist das oberste Gesetz des Lebens gerade, weil wir uns selbst nicht erhalten können, ohne uns um die Erhaltung von anderen zu kümmern. Die Welt ist so beschaffen, dass es schief geht, wenn die Menschen den Lebensbereich des anderen vernachlässigen.

Das “Ich” kann ohne das “Du” keine Erfüllung finden. Das Ich kann nicht ohne das andere Ich bestehen. Eigeninteresse ohne Interesse für andere ist wie ein Fluss, der keinen Zugang zum Meer hat. Stagnierend, unbewegt und abgestanden, fehlt es ihm an Leben und Frische. Nichts wäre katastrophaler und unserem Eigeninteresse abträglicher, als dass die entwickelten Nationen den Weg in die Sackgasse unmäßiger Selbstsucht beschreiten. Wir sind in der glücklichen Lage, dass unser tiefstes Gefühl für Ethik mit unserem Eigeninteresse übereinstimmt. Aber der wahre Grund dafür, dass wir unsere Hilfsmittel einsetzen müssen, um die Armut auszurotten, liegt jenseits der materiellen Sorgen in der Beschaffenheit unserer Seele und unseres Geistes. In das Gewebe unserer religiösen Tradition tief verflochten ist die Überzeugung, dass die Menschen nach dem Bild Gottes gemacht sind und Seelen von unendlichem metaphysischen Wert haben. Wenn wir das als tiefe moralische Wahrheit akzeptieren, muss es uns unzufrieden machen, Menschen hungrig zu sehen, Menschen von Krankheit gequält zu sehen, wenn wir die Mittel haben, um ihnen zu helfen. Die Reichen dürfen die Armen nicht ignorieren. Sie sind durch dasselbe mysteriöse Tor der menschlichen Geburt in dasselbe Abenteuer des vergänglichen Lebens eingetreten.

Alle Menschen sind voneinander abhängig. Jede Nation ist Erbe eines großen Schatzes von Ideen und Arbeit, zu dem die Lebenden und die Toten aller Nationen beigetragen haben. Ob wir es wissen oder nicht, jeder von uns bleibt ewig “in der Schuld” von anderen. Wir sind ewige Schuldner bekannter und unbekannter Männer und Frauen. Wenn wir morgens aufstehen, gehen wir in das Badezimmer und nehmen einen Schwamm, der uns von einem Bewohner der pazifischen Inseln gegeben wurde. Wir nehmen die Seife, die von einem Europäer für uns gemacht wurde. Dann trinken wir den Kaffee, der uns von einem Südamerikaner, oder den Tee, der uns von einem Chinesen, oder den Kakao, der uns von einem Westafrikaner gegeben wurde. Ehe wir zur Arbeit gehen, sind wir schon mehr als der halben Welt verpflichtet.

In einem sehr realen Sinne ist alles Leben voneinander abhängig. Die Qual des Armen macht den Reichen ärmer; die Besserung der Lage des Armen macht den Reichen reicher. Wir sind zwangsläufig unseres Bruders Hüter, weil wir unseres Bruders Bruder sind. Was auch immer einen direkt betrifft, betrifft alle anderen indirekt.

Ein letztes Problem, das die Menschheit lösen muss, um in dem Welthaus, das wir geerbt haben, zu überleben, besteht darin, eine Alternative zu Krieg und Menschenvernichtung zu finden. Die neuesten Ereignisse haben uns lebhaft daran erinnert, dass die Nationen ihre Arsenale von Massenvernichtungswaffen nicht verkleinern, sondern eher vergrößern. Die besten Köpfe der hochentwickelten Nationen der Welt widmen sich der militärischen Technologie. Die Vermehrung der Kernwaffen ist trotz des begrenzten Atomstopp-Vertrages nicht zum Stillstand gekommen.

In dieser Zeit der höchsten technischen Errungenschaften, in dieser Zeit der erstaunlichen Entdeckungen, der neuartigen Chancen, der höheren Würde und volleren Freiheit für alle gibt es keine Entschuldigung für das blinde Drängen nach Macht und Bodenschätzen, das die Kriege früherer Generationen ausgelöst hat. Es ist nicht nötig, um Nahrung und Land zu kämpfen. Die Wissenschaft hat uns mit ausreichenden Mitteln zum Überleben versehen und gab uns auch die nötigen Transportmöglichkeiten, die Fülle dieser großen Erde zu genießen. Jetzt erhebt sich die Frage: Haben wir die nötige Gesittung und den nötigen Mut, um als Brüder zusammen zu leben und uns nicht zu fürchten?

Einer der unausrottbaren Widersprüche, mit denen wir es zu tun haben, ist, dass jeder vom Streben nach Frieden spricht, dass aber bei den Machthabern der Frieden praktisch niemandes Sache ist. Viele Menschen rufen: “Frieden! Frieden!”, weigern sich aber, das zu tun, was Frieden bringt.

Die großen Machtblöcke reden leidenschaftlich davon, den Frieden zu wollen, während sie ihre schon angeschwollenen Rüstungsbudgets erhöhen, ihre schreckenerregenden Armeen noch vergrößern und immer verheerendere Waffen erfinden. Man rufe die Namen derjenigen auf, die die frohe Botschaft vom Frieden singen, und man wird überrascht sein von dem Ton der Antworten. Die Führer aller Nationen lassen zum Sammeln für den Frieden blasen; aber sie kommen zum Friedenstisch, begleitet von Räubern mit blanker Waffe. Die Geschichte aller Zeiten ist voll von den Liedern von Eroberern, die töteten, um den Frieden zu bringen. Alexander, Tschingiskhan, Julius Cäsar, Karl der Große und Napoleon waren verwandte Seelen insofern, als sie eine friedliche Weltordnung erstrebten, eine Welt, die nach ihrer egoistischen Vorstellung vom idealen Dasein geschaffen war. Jeder erstrebte eine friedliche Welt, die seine selbstsüchtigen Träume verkörpern sollte. Sogar noch zu unseren Lebzeiten schritt ein anderer Größenwahnsinniger über die Bühne der Welt. Er brachte ganz Europa den Krieg und in seinem Gefolge Verheerungen und Massenmorde. Es liegt eine starke Ironie darin, dass Hitler zur Macht kommen konnte, indem er offen aggressive Expansionsbestrebungen verfolgte und das alles im Namen des Friedens tat. Wenn ich nun heute die Führer der Nationen wieder vom Frieden sprechen höre, während sie sich auf den Krieg vorbereiten, horche ich angstvoll auf. Wenn ich heute sehe, wie unser Land in etwas eingreift, das im Grunde genommen ein Bürgerkrieg ist, Hunderttausende von vietnamesischen Kindern mit Napalm verstümmelt, Dörfer und Reisfelder blindlings verbrennt, die Täler dieses kleinen asiatischen Landes mit Blut rötet, in zahllosen Gräben zerbrochene Menschenleiber zurücklässt und Halbmenschen, die geistig und körperlich verstümmelt sind, ins Leben entlässt: wenn ich sehe, wie wenig unsere Regierung bereit ist, die Atmosphäre für eine friedliche Lösung dieses furchtbaren Konfliktes durch Einstellung der Bombenangriffe im Norden und unmissverständliche Zustimmung zu Verhandlungen mit dem Vietkong zu schaffen - und das alles im Namen des Friedens - zittere ich für unsere Welt. Ich tue es nicht nur aus furchtbarer Erinnerung an den Alpdruck der früheren Kriege, sondern auch aus der schrecklichen Erkenntnis der potentiellen nuklearen Vernichtung von heute und der noch verheerenderen Aussichten für morgen. Ehe es zu spät ist, müssen wir die klaffende Lücke zwischen unseren Friedensbeteuerungen und unseren schlechten Taten, die den Krieg auslösen und den Krieg verewigen, schließen. Wir sind aufgerufen, von dem schwankenden Boden der Rüstungsprogramme und Verteidigungsverpflichtungen aufzublicken und die Warnung am Wegweiser der Geschichte zu lesen.

Eines Tages müssen wir einsehen, dass der Frieden nicht nur ein fernes Ziel ist, das wir erstreben, sondern ein Mittel, durch das wir zu diesem Ziel gelangen. Wir müssen friedliche Ziele durch friedliche Mittel verfolgen. Wie lange müssen wir noch Krieg führen, bis wir die traurigen Plädoyers der unzähligen Toten und Krüppel früherer Kriege beachten?

Präsident John F. Kennedy hat einmal gesagt: “Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende machen, oder der Krieg wird der Menschheit ein Ende machen.” Die aus der Erfahrung gewonnene Klugheit müsste uns sagen, dass der Krieg überholt ist. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der der Krieg in negativer Weise dem Guten diente, indem er die Ausdehnung und Stärkung einer bösen Kraft verhinderte; aber die vernichtende Macht der modernen Waffen beseitigt sogar die Möglichkeit, dass der Krieg überhaupt zu etwas Gutem dienen kann. Wenn wir glauben, dass das Leben lebenswert ist und dass der Mensch das Recht hat zu überleben, dann müssen wir eine Alternative zum Krieg finden. In einer Zeit, in der Fahrzeuge durch den Weltraum sausen und ferngelenkte ballistische Raketen Todesstraßen durch die Stratosphäre bahnen, kann keine Nation im Krieg den Sieg beanspruchen. Ein sogenannter begrenzter Krieg wird wenig mehr als ein elendes Erbe menschlichen Leidens, politischer Unruhe und seelischer Enttäuschung hinterlassen. Ein Weltkrieg wird nur rauchende Asche als stumme Zeugen eines Menschengeschlechtes hinterlassen, dessen Torheit schließlich unerbittlich zum Untergang führte. Wenn der moderne Mensch fortfährt, ungehemmt mit dem Krieg zu liebäugeln, wird er seine irdische Heimat in solch ein Inferno verwandeln, wie selbst Dantes Geist es nicht erfinden konnte. Darum schlage ich vor, dass die Philosophie und Strategie der Gewaltlosigkeit sofort Gegenstand der Untersuchung und ernsthafter Experimente auf jedem Gebiet menschlicher Konflikte, auf jeden Fall einschließlich der Beziehungen zwischen Nationen, wird. Schließlich sind es die Nationalstaaten, die Krieg führen und die Waffen hergestellt haben, die das Überleben der gesamten Menschheit in Frage stellen.

Wir haben es mit alten Gewohnheiten und großen Machtgefügen zu tun und unbeschreiblich komplizierte Probleme zu lösen. Aber wenn wir unsere Menschlichkeit nicht ganz abdanken lassen und angesichts der Waffen, die wir selbst geschaffen haben, der Furcht und Ohnmacht erliegen, ist es ebenso möglich und ebenso dringend nötig, dem Krieg und der Gewalt zwischen den Nationen ein Ende zu machen, wie es möglich und dringend nötig ist, der Armut und Ungerechtigkeit gegen Rassen ein Ende zu machen.

Die Institution der UNO ist ein Hinweis auf die Verwirklichung weltweiter Gewaltlosigkeit. Dort wenigstens haben Staaten, die sich feindlich gegenüberstehen, versucht, mit Worten statt mit Waffen zu kämpfen. Aber echte Gewaltlosigkeit ist mehr als die Vermeidung von Gewalt. Sie ist die ständige entschlossene Anwendung einer friedlichen Macht bei Verstößen gegen die Gemeinschaft - in diesem Fall die Weltgemeinschaft. Wenn die Vereinten Nationen zur Lösung der riesigen Aufgaben, die ihnen gestellt sind, schreiten, hoffe ich, dass sie die Brauchbarkeit der gewaltlosen Aktion ernsthaft prüfen.

Ich will die Kompliziertheit der Probleme, die zur Erzielung von Abrüstung und Frieden gelöst werden müssen, nicht verkleinern. Aber ich bin überzeugt, dass wir nicht den Willen, den Mut und die Einsicht haben werden, um mit diesen Dingen fertig zu werden, wenn wir nicht bereit sind, auf diesem Gebiet eine seelische und geistige Umwertung, eine Änderung der Blickrichtung vorzunehmen, die uns befähigt zu erkennen, dass die Dinge, die uns am wirklichsten und mächtigsten erscheinen, in der Tat jetzt unwirklich sind und unter Todesstrafe stehen. Wir müssen eine äußerste Anstrengung machen, um die Bereitschaft, ja, das Verlangen zu erzeugen, in die neue, jetzt mögliche Welt einzutreten, in “die Stadt, die einen Grund hat, dessen Baumeister und Schöpfer Gott ist” (Hebräer 11,10). Es genügt nicht zu sagen: “Wir dürfen keinen Krieg führen.” Es ist nötig, den Frieden zu lieben und für ihn Opfer zu bringen. Wir müssen uns nicht nur auf die Abschaffung des Krieges, sondern auch auf die Sicherung des Friedens konzentrieren. In der griechischen Literatur ist uns eine faszinierende Geschichte von Odysseus und den Sirenen erhalten. Die Sirenen konnten so lieblich singen, dass die Seeleute dem Verlangen, zu ihrer Insel zu fahren, nicht widerstehen konnten. Viele Schiffe wurden auf die Felsen gelockt, und die Männer vergaßen ihre Heimat, ihre Pflichten und ihre Ehre, wenn sie sich in das Meer stürzten, um von den Armen umfangen zu werden, die sie in den Tod zogen. Odysseus, entschlossen, den Sirenen nicht zu erliegen, beschloss zuerst, sich an den Mast seines Schiffes binden zu lassen, und seine Mannschaft verstopfte sich die Ohren mit Wachs. Aber dann fanden er und die Mannschaft eine bessere Methode, um sich zu retten: sie nahmen den schönen Sänger Orpheus an Bord, dessen Gesang lieblicher als die Sirenenklänge war. Wenn Orpheus sang, wer wollte da den Sirenen zuhören?

Wir müssen also einsehen, dass der Frieden eine lieblichere Musik, eine kosmische Melodie bedeutet, die den Disharmonien des Krieges weit überlegen ist. Irgendwie müssen wir die Dynamik des Weltmachtkampfes aus dem Wettrennen um die Kernwaffen, das niemand gewinnen kann, in einen schöpferischen Wettbewerb verwandeln und das menschliche Genie für den Zweck benutzen, Frieden und Wohlstand für alle Nationen der Welt zur Realität zu machen. Kurz, wir müssen das Rüstungs-Wettrennnen zu einem “Friedens-Wettrennen” machen. Wenn wir den Willen und die Entschlossenheit haben, solch eine Friedensoffensive zu unternehmen, werden wir festversiegelte Türen der Hoffnung öffnen und neues Licht in die dunklen Kammern des Pessimismus tragen.

III.

Die Stabilisierung des großen Welthauses, das uns gehört, wird eine Revolution der Werte bedeuten, die die Revolution der Wissenschaft und der Freiheit auf der ganzen Welt begleitet. Wir müssen rasch mit dem Übergang von der “Ding”-orientierten Gesellschaft zur “Person”-orientierten Gesellschaft beginnen. Wenn Maschinen und Computer, Profite und Besitzrechte für wichtiger gehalten werden als Menschen, ist es unmöglich, das riesige Trio Rassismus, Materialismus und Militarismus zu besiegen. Eine Kultur kann ebenso leicht über moralischen und seelischen Bankrott wie über finanziellen Bankrott fallen.

Diese Revolution der Werte muss über den traditionellen Kapitalismus und Kommunismus hinausgehen. Wir müssen ehrlich zugeben, dass der Kapitalismus oft eine Kluft zwischen überflüssigem Reichtum und bitterer Armut gelassen und Verhältnisse geschaffen hat, die es gestatten, den Vielen das Nötigste zu nehmen, um den Wenigen Luxus zu geben, und dass er engherzige Menschen ermutigt hat, kalt und gewissenlos zu werden, so dass sie, wie der reiche Mann von Lazarus, von der leidenden, armseligen Menschheit nicht gerührt werden. Wenn das Profitmotiv die einzige Grundlage eines Wirtschaftssystems ist, ermuntert es zu einem mörderischen Wettbewerb und egoistischen Ehrgeiz, der die Menschen mehr ich-bezogen als du-bezogen macht. Ebenso degradiert der Kommunismus den Menschen zu einem Rädchen im Getriebe des Staates. Der Kommunist wird widersprechen, indem er sagt, dass der Staat eine “historische Kategorie” ist, die “absterben” wird, wenn die klassenlose Gesellschaft entsteht. Richtig in der Theorie; aber es ist auch richtig, dass der Staat, solange er besteht, selbst ein Zweck ist. Der Mensch ist ein Mittel zu diesem Zweck. Er hat keine unveräußerlichen Rechte. Seine einzigen Rechte sind vom Staat abgeleitet und vom Staat übertragen. In solch einem System versiegt die Quelle der Freiheit. Die Presse- und Versammlungsfreiheit, die Freiheit zu wählen und die Freiheit zu hören und zu lesen, sind eingeschränkt.

Die Wahrheit liegt weder im traditionellen Kapitalismus noch im klassischen Kommunismus. Jeder von beiden vertritt nur die halbe Wahrheit. Der Kapitalismus sieht die Wahrheit im Kollektivismus nicht. Der Kommunismus sieht die Wahrheit im Individualismus nicht. Der Kapitalismus erkennt nicht, dass das Leben sozial ist. Der Kommunismus erkennt nicht, dass das Leben individuell ist. Die gute und gerechte Gesellschaft ist weder die These des Kapitalismus noch ihre Antithese, der Kommunismus, sondern eine sozial verstandene Demokratie, die die Wahrheit des Individualismus mit der Wahrheit des Kollektivismus verbindet.

Wir haben schon einige Schritte in dieser Richtung gesehen. Die Sowjetunion hat sich allmählich von ihrem starren Kommunismus entfernt und angefangen, sich mit Konsumgütern, mit Kunst und mit der Erhöhung der Sozialzuwendungen für den einzelnen Bürger zu befassen. Gleichzeitig haben wir als Folge von zahlreichen sozialen Reformen viele Milderungen des Laissez-faire-Kapitalismus gesehen. Die Probleme, vor denen wir jetzt stehen, müssen uns über die Schlagworte zu ihrer Lösung hinausführen. Letzten Endes sind die Schlagworte des rechten Flügels von “Regierungskontrolle” und “schleichendem Sozialismus” ebenso sinnlos und unreif wie die Schlagworte der Roten Garden gegen den “bourgeoisen Revisionismus”. Eine intelligente Einstellung zu den Problemen der Armut und des Rassismus wird uns erkennen lassen, dass das Wort des Psalmisten “Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist …” (24,1) immer noch eine Verurteilung unseres Gebrauchs und Missbrauchs des Reichtums und der Bodenschätze ist, die uns geschenkt sind.

Eine echte Revolution der Werte wird uns veranlassen, die Fairness und Gerechtigkeit von vielen unserer früheren und jetzigen Grundsätzen in Frage zu stellen. Wir sind aufgerufen, den guten Samariter am Straßenrand des Lebens zu spielen; aber das wird nur das Vorspiel sein. Eines Tages muss die ganze Straße von Jericho so umgewandelt werden, dass die Menschen auf ihrer Lebensreise nicht mehr geschlagen und beraubt werden. Echtes Mitleid bedeutet mehr, als einem Bettler eine Münze hinzuwerfen; es ist das Verständnis dafür, dass ein Haus, das Menschen zu Bettlern macht, umgebaut werden muss.

Eine echte Revolution der Werte wird mit Unbehagen den schreienden Gegensatz von Armut und Reichtum sehen. Mit berechtigter Empörung wird sie Tausende von arbeitenden Menschen sehen, die durch die Automation aus ihren Stellungen verdrängt sind und nun kleinere Einkommen haben, während die Gewinne der Arbeitgeber unberührt bleiben, und wird sagen: “Das ist nicht gerecht.” Sie wird über die Meere schauen und sehen, wie einzelne Kapitalisten des Westens riesige Geldsummen in Asien, Afrika und Südamerika investieren, nur um ohne Rücksicht auf eine soziale Verbesserung in diesen Ländern die Gewinne abzuschöpfen, und wird sagen: “Das ist nicht gerecht.” Sie wird unser Bündnis mit dem Landadel von Lateinamerika sehen und sagen: “Das ist nicht gerecht.” Die westliche Arroganz, die in dem Glauben liegt, dass sie andere alles zu lehren und selbst nichts von ihnen zu lernen hat, ist unberechtigt. Eine echte Revolution der Werte wird die Hand auf die Weltordnung legen und vom Kriege sagen: “Diese Art der Beilegung von Meinungsverschiedenheiten ist unentschuldbar.” Dieses Verbrennen menschlicher Wesen mit Napalm, diese Vermehrung der Witwen und Waisen in unseren Häusern, dieses Einspritzen giftiger Drogen das Hasses in die Seele von Menschen, die normalerweise menschlich denken, dieses Entlassen von körperlich behinderten und seelisch gestörten Menschen von finsteren, blutigen Schlachtfeldern ist mit Klugheit, Gerechtigkeit und Liebe nicht in Einklang zu bringen. Eine Nation, die Jahr für Jahr mehr Geld für die militärische Verteidigung als für Programme des sozialen Fortschritts ausgibt, nähert sich dem seelischen Untergang. Amerika, die reichste und mächtigste Nation der Welt, kann bei dieser Revolution der Werte sehr wohl die Führung übernehmen. Nichts hindert uns daran, den Lehrern, Fürsorgern und anderen Angehörigen des öffentlichen Dienstes ausreichende Gehälter zu zahlen, um sicherzustellen, dass wir in diesen Stellungen, die die Verantwortung für die Führung unserer künftigen Generationen tragen, das beste Personal haben, das es gibt. Nur ein Mangel an sozialem Weitblick hindert uns daran, jedem amerikanischen Bürger, sei er nun Krankenwärter, Wäscher, Dienstmädchen oder Tagelöhner, einen angemessenen Lohn zu zahlen. Nur Kurzsichtigkeit hindert uns daran, jeder amerikanischen Familie ein jährliches - und zum Leben reichendes - Mindesteinkommen zu garantieren. Nur eine unglückselige Todessehnsucht hindert uns daran, unsere Prioritäten so neu zu ordnen, dass die Beschäftigung mit dem Frieden Vorrang vor der Beschäftigung mit dem Krieg hat. Nichts hindert uns daran, einen störrischen Status quo mit zerschundenen Händen umzuformen, bis wir eine echte Brüderlichkeit erreicht haben.

Diese positive Revolution aller Werte ist unsere beste Verteidigung gegen den Kommunismus. Krieg ist keine Lösung. Der Kommunismus wird niemals durch die Anwendung von Atombomben oder Kernwaffen besiegt werden. Lasst uns nicht zu denjenigen gehören, die “Krieg” schreien und in ihrer irregeleiteten Leidenschaft die Vereinigten Staaten drängen, ihre Mitwirkung bei den Vereinten Nationen aufzugeben. Diese Zeit verlangt weise Zurückhaltung und ruhige Vernunft. Wir dürfen nicht jeden, der die Aufnahme Rotchinas in die Vereinten Nationen verlangt oder der erkennt, dass Hass und Hysterie nicht endgültige Lösungen der Probleme dieser unruhigen Zeit sind, einen Kommunisten oder Appeaser nennen. Wir müssen uns nicht für einen negativen Anti-Kommunismus, sondern für einen positiven Vorstoß für die Demokratie engagieren in der Erkenntnis, dass unsere beste Verteidigung gegen den Kommunismus in einer Offensive zugunsten der Gerechtigkeit liegt. Wir müssen durch eine positive Aktion die Zustände der Armut, der Unsicherheit und der Ungerechtigkeit zu beseitigen suchen, die der fruchtbare Boden sind, in welchem der Samen des Kommunismus wächst und gedeiht. Wir leben in einer revolutionären Zeit. Auf der ganzen Welt revoltieren Menschen gegen alte Systeme der Ausbeutung und Unterdrückung, und aus dem Schoß einer schwachen Welt werden neue Systeme der Gerechtigkeit und Gleichheit geboren. Die Völker der Erde, die das Lebensnotwendigste entbehren, erheben sich. “Das Volk, so im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht” (Jesaia 9,2). Wir im Westen müssen diese Revolution unterstützen. Es ist eine traurige Wahrheit, dass die westlichen Nationen, die den revolutionären Geist der modernen Welt zum großen Teil eingeführt haben, aus Bequemlichkeit, Selbstgefälligkeit, tödlicher Angst vor dem Kommunismus und unserer Neigung, uns der Ungerechtigkeit anzupassen, jetzt Erz-Antirevolutionäre geworden sind. Das hat viele veranlasst zu glauben, dass nur der Marxismus den revolutionären Geist besitzt. Der Kommunismus ist eine Verurteilung unseres Versagens, die Demokratie zur Realität zu machen und die Revolutionen, die wir eingeleitet haben, weiter zu verfolgen. Heute liegt unsere einzige Hoffnung in unserer Fähigkeit, den revolutionären Geist wiederzugewinnen und in eine manchmal feindliche Welt hinauszugehen, um der Armut, dem Rassismus und dem Militarismus ewige Feindschaft anzusagen. Mit diesem gewaltigen Engagement werden wir den Status quo und die ungerechten Usancen kühn herausfordern und damit schnell den Tag herbeiführen, von dem es heißt: “Alle Täler sollen erhöhet werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was ungleich ist, soll eben, und was höckerig ist, soll schlicht werden” (Jesaia 40,4). Eine echte Revolution der Werte bedeutet letzten Endes, dass unsere Treue der Ökumene und nicht mehr nur einem Teil von ihr gelten muss. Alle Nationen müssen jetzt eine alles beherrschende Treue zur ganzen Menschheit entwickeln, um das Beste ihrer jeweiligen Gesellschaften zu erhalten.

Dieser Aufruf zu einer weltweiten Kameradschaft, die den Sinn für gute Nachbarschaft über den eigenen Stamm, die Rasse, die Klasse und die Nation ausdehnt, ist in Wirklichkeit ein Aufruf zu einer allumfassenden, bedingungslosen Liebe zu allen Menschen. Diese oft missverstandene und falsch interpretierte Idee ist jetzt eine unbedingte Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit. Wenn ich von Liebe spreche, so spreche ich von jener Kraft, die alle großen Religionen als oberstes einigendes Lebensprinzip erkannt haben. Liebe ist der Schlüssel, der die Tür zur höchsten Wirklichkeit aufschließt. Dieser Glaube von Hindus, Moslems, Christen, Juden, Buddhisten an die höchste Wirklichkeit ist in der 1. Epistel Johannis wunderschön wiedergegeben mit den Worten:

“Ihr Lieben, lasset uns untereinander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott,
und wer lieb hat, der ist von Gott geboren und kennet Gott.
Wer nicht lieb hat, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe … So wir uns untereinander lieben, so bleibet Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns.”

Hoffen wir, dass dieser Geist die neue Losung werden wird. Wir können es uns nicht länger leisten, den Gott des Hasses zu verehren oder vor dem Altar der Vergeltung zu knien. Die Meere der Geschichte werden durch die stetig steigenden Fluten des Hasses in Aufruhr versetzt. Die Geschichte ist übersät mit den Überresten von Nationen und einzelnen, die diesen Weg des sich selbst vernichtenden Hasses verfolgen. Arnold Toynbee sagte einmal in einer Rede: “Liebe ist die größte Kraft, die zur rettenden Entscheidung für das Leben und das Gute gegen die unselige Entscheidung für den Tod und das Böse beiträgt. Darum muss an erster Stelle für uns die Hoffnung stehen, dass die Liebe das letzte Wort haben wird. ” Wir stehen jetzt vor der Tatsache, dass morgen heute ist. Wir stehen vor der ungestümen Dringlichkeit des Jetzt. In diesem sich nun entwickelnden Problem des Lebens und der Geschichte gibt es so etwas wie Zu-spät-Kommen. Langes Zögern stiehlt immer die Zeit. Nach einer verlorenen Chance lässt uns das Leben oft allein und entmutigt stehen. Die “Wogen des Schicksals” bleiben nicht immer Flut; sie verebben. Wir werden vielleicht verzweifelt schreien, dass die Zeit stillstehen soll; aber die Zeit ist taub für jede Bitte und eilt weiter. Über den gebleichten Knochen und durcheinandergeworfenen Überresten zahlreicher Kulturen stehen die erschütternden Worte: “Zu spät!” Es gibt ein unsichtbares Buch des Lebens, das unsere Wachsamkeit oder Nachlässigkeit getreulich verzeichnet. “Eben zur selben Stunde gingen hervor Finger wie einer Menschenhand, die schrieben gegenüber dem Leuchter, auf die getünchte Wand …” (Daniel 5,5). Wir haben heute noch die Wahl: Gewaltlose Koexistenz oder gewaltsame Vernichtung aller. Dies kann sehr wohl die letzte Chance der Menschheit sein, zwischen dem Chaos und der Gemeinschaft zu wählen.

Quellenvermerk:
© Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Rede.

Anmerkungen:

1 The World House. Introduction, aus: FOR (The Fellowship of Reconciliation, USA) . Übersetzung: Csilla Morvai.

2 James M. Washington (Hrsg.): A Testament of Hope: The Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr.. New York: HarperCollins Publishers, 1986, S. 657-658.

3 Vincent Harding: Martin Luther King: The Inconvenient Hero. Maryknoll, NY: Orbis Books, 1996, S. 68.

4 Das Haus der Welt, aus: Martin Luther King: Schöpferischer Widerstand. Hrsg. Von Heinrich W. Grosse. 1. Aufl. der Taschenbuchausgabe. - Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn. 1985, S. 87ff. Übersetzung: Hildegard Jany. Originaltitel: The World House, aus: Martin Luther King: Where Do We Go From Here?, 1968, S. 167ff.

Veröffentlicht am

04. April 2004

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