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Rachel Corrie - erster Jahrestag ihrer Ermordung

Von Justin Podur - ZNet Kommentar 15.03.2004

Am 16. März 2004 halten (hielten) Menschen in verschiedenen Teilen der Welt Kundgebungen und Mahnwachen ab, um einer jungen Amerikanerin, Rachel Corrie, zu gedenken. Sie war Mitglied der ISM (Internationale Solidaritätsbewegung). Heute vor genau einem Jahr wurde Rachel im Gazastreifen mithilfe eines israelischen Bulldozers ermordet. Seitdem wurden im Gazastreifen viele Palästinenser und einige Internationale ermordet - unter anderem Tom Hurndall (ISM). Laut Zahlen der israelischen Menschenrechtsorganisation Btselem töteten israelische Sicherheitstruppen und bewaffnete Siedler seit März 2003 540 Palästinenser - vier davon innerhalb der Grenzen Israels. 109 der Getöteten waren Kinder unter 18 Jahren. Im gleichen Zeitraum wurden 132 israelische Zivilisten, darunter 20 Kinder, von Palästinensern getötet. Letztmalig aktualisiert hat Btselem die Zahlen am 5. März 2004. Die jüngsten Tötungen in Dschenin und Rafah sowie die Selbstmordanschläge in Ashdod vom letzten Wochenende sind dabei noch nicht berücksichtigt.

Rachel hatte damals in Rafah versucht, einen israelischen Militär-Bulldozer davon abzuhalten, ein Haus niederzureißen. In dem einen Jahr seit ihrer Ermordung haben derartige Bulldozer Rafah praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Laut Btselem ließ Israel im Jahr 2003 223 Häuser zerstören - 30 in diesem Jahr (Stand 7. März). Die Zerstörungen werden als Strafaktionen durchgeführt - “gegen Familien von Personen, die von den Sicherheitskräften gesucht werden oder schon getötet wurden”.

Wie UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten) berichtet, hat Israel zwischen September 2000 und Oktober 2003 in Gaza 655 Häuser zerstört - das bedeutet: 5124 Obdachlose - hinzu kommt noch die große landwirtschaftliche Fläche, die zerstört wurde. Bei Operationen im letzten Oktober hat Israel weitere 200 Häuser zerstört - und so weitere 2000 Menschen obdachlos gemacht. Btselem betont, die Menschen, die tatsächlich von den Demolierungen betroffen sind, das sind Leute, die nicht einmal unter Verdacht eines Verbrechens stehen. Anders gesagt, die Demolierungen sind ein Akt der ‘Kollektivbestrafung’ - sie verstoßen gegen internationales Recht.

Wie der ‘Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung’ (Jean Ziegler - Anmerkung d. Übersetzerin) im Jahr 2003 berichtete, sind über 22% aller palästinensischen Kinder unter 5 Jahren unterernährt, 15,6% leiden an akuter Anämie - was dauerhafte, negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung hat. Ihre Unterernährung ist eine direkte Folge der israelischen Abriegelungspolitik, die die palästinensische Wirtschaft sehr effektiv zum Stillstand gebracht hat, zudem verhindert diese Politik immer wieder, dass Nahrungsnotfallshilfe in die Territorien gelangt.

Natürlich geht es bei diesem Konflikt um sehr viel mehr - Rachel hatte das ganz klar erkannt. Es geht nicht nur um Zahlen über unschuldig Getötete, es geht nicht nur um hungernde Kinder und zerstörte Häuser und Fluren. Rachel schrieb einen Brief an Freunde und Familienangehörige in den USA. Darin beschreibt sie die Schwierigkeiten, die sie hat, ein umfassendes Bild zu zeichnen, ohne auf belastete Worte zurückzugreifen: “Die Ermordungen, die Angriffe mit Raketen, das Erschießen von Kindern sind Gräuel - aber indem ich mich darauf konzentriere, könnte ich, so meine große Befürchtung, den Kontext (dieser Gräuel) aus den Augen verlieren. Die große Mehrheit der Menschen hier kann nicht weg - selbst, wenn sie die wirtschaftliche Möglichkeit zur Flucht hätten und selbst wenn sie tatsächlich bereit wären, den Widerstand auf dem eigenen Land aufzugeben und einfach nur weg wollten (dabei hat Scharon wahrscheinlich noch viel schändlichere Ziele). Sie schaffen es ja noch nicht mal nach Israel, um Visaanträge zu stellen, und ihre Wunschländer nehmen sie nicht auf (weder unser Land noch die arabischen Länder). Also, wenn Leute in einen Pferch (Gaza) stecken, abgeschnitten von jeder Möglichkeit des Überlebens und nicht raus können, so entspricht das meiner Meinung nach der Definition von Genozid… Ich benutze diese belasteten Worte nur ungern. Ich denke, das wisst ihr auch, so gut kennt ihr mich”.

Nach März 2003 lehnte Israel jede Verantwortung für Rachels Ermordung ab, nutzte vielmehr die Gelegenheit, die Organisation anzugreifen, der die junge Frau angehört hatte (ISM) - diese hätte sich “unverantwortlich” verhalten. Es kam zu einer Untersuchung durch die Israelische Armee - die sich selbst von jeder Schuld freisprach. Die ISM als Organisation basiert auf einer Allianz von Palästinensern, Israelis und Internationalen. Man versucht, der israelischen Besatzung von Westbank und Gazastreifen mit Strategien der Gewaltlosigkeit Widerstand zu leisten.

Wie schon in den Jahren davor haben Palästinenser und Freunde der Palästinenser - ISM und andere Gruppen - auch in dem Jahr nach Rachels Tod weitermobilisiert: gegen die massive Mauer, die Israel in der Westbank errichtet, gegen die Häuserzerstörungen - siehe Rafah - gegen die hunderte von Militär-Checkpoints, die die Landschaft der Besetzten Gebiete wie ein Tupfenteppich durchziehen. Sie ersticken die palästinensische Gesellschaft und die palästinensische Wirtschaft.

Palästinenser und Israelis, die wollen, dass die Okkupation und die Gewalt aufhören, sind sich einig, dazu bedarf es internationaler Unterstützung und internationalen Drucks. Daher engagieren sich ISM-Mitglieder auch in ihren eigenen Ländern. Die Helikopter und Kriegsflugzeuge, die palästinensische Zivilisten bei Bombenangriffen in Gaza töten, sind made in USA. Die Bulldozer, die die Häuser zerstören - Kollektivbestrafung - sind Produkte der Firma Caterpillar. Eine der für 16. März geplanten Aktionen besteht daher auch in einem Besuch im Torontoer Caterpillar-Büro.

Rachel Corrie war sich im Klaren, die Zerstörung in Israel/Palästina ist eine internationale Angelegenheit, sie geht uns alle an. Das ist sozusagen Rachels Vermächtnis. “Wenn ich wieder aus Palästina zurück bin”, so Rachel, “habe ich sicher Alpträume, und bestimmt fühle ich mich permanent schuldig, weil ich nicht hier bin, aber ich kann das kanalisieren, indem ich mich noch mehr engagiere… aber sollte das israelische Militär mit seiner rassistischen Tendenz brechen, keine Weißen zu verletzen, geht bitte schlicht und einfach von der Tatsache aus, dass ich mich mitten in einem Genozid befand, den ich ja auch indirekt unterstützt habe und an dem meine Regierung weitgehend die Schuld trägt”. Den Alptraum in noch mehr Engagement - für Gerechtigkeit und Frieden für alle Beteiligten - kanalisieren, das wäre der richtige Weg, um Rachels Andenken zu ehren.

Justin Podur ist Mitglied der ‘Internationalen Solidaritätsbewegung’ ISM. Sie können ihn kontaktieren unter: toronto@ismcanada.org

Quelle: ZNet Deutschland vom 28.03.2004. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “On the Anniversary of Rachel Corrie’s Murder” .

Weitere interessante Seiten zu Rachel Corrie:

>> Eine Seite für Rachel Corrie (1979 - 2003)

>> Rachel Corrie Memorial Website

>> Rachel Corrie Foundation for Peace and Justice

Veröffentlicht am

28. März 2004

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