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Notruf aus Kolumbien

Von Nick Dearden - Z Magazine 15.09.2003

Trotz dem Grauen, dem denjenigen Menschen entgegenstehen, die für bessere Gesellschaftsformen überall in der Welt kämpfen, gibt es noch einige wenige Länder der Erde, wo Gewerkschaftsführer ihre Büros nur erreichen können, wenn sie, von Leibwächtern, die halbautomatische Waffen tragen, umrundet, aus kugelsicheren Jeeps aussteigen, einen Raum aus Metall, der mit elektronisch verriegelten Stahltüren versehen ist, durchqueren und schließlich in einem bombensicheren Büro zu arbeiten beginnen. Dies ist keine Beschreibung eines von Armut geschüttelten Afrikanischen Staates oder einer Bananenrepublik. Das passiert in einer der ältesten Demokratien Lateinamerikas. Es ist eines der Länder, welche einige der begehrtesten Waren und die fruchtbarsten Böden der Welt besitzen. Das ist Kolumbien. 1999 wurden hier 27 Lehrer ermordet, 2002 waren es schon 83. Dieses Jahr wurde bisher jede Woche ein Lehrer bzw. Dozent getötet. Das macht es in vielen Regionen praktisch unmöglich die FECODE - Kolumbiens größte Gewerkschaft - aufzubauen. Fünfundneunzig Prozent dieser Anschläge werden von paramilitärischen Killertruppen ausgeübt, das sind bewaffnete Milizen aus der extremen Rechten, die nachgewiesene Kontakte zu den offiziellen Streitkräften und den Behörden haben. “Tod den Gewerkschaftlern” heißt eine paramilitärische Gruppe, die speziell zu diesem Zweck zusammengestellt wurde. “Warum passiert das?” - “Weil sie wissen, dass sie damit durchkommen”, erzählte uns ein Verwandter eines Opfers. Die Unterlassung der Strafverfolgung ist in Kolumbien die Norm.

Es ist schwer zu verstehen, dass dieser Terror einer Handvoll von radikalen Gewerkschaftsbossen gewidmet ist, die in totaler Opposition zur Regierung stehen. Auf jedes Attentat kommen Hunderte von Beispielen von Vertreibung - von Lehrern, die auf Todesdrohungen hin ihre Häuser verlassen. Eine High School Lehrerin für Gesellschaftswissenschaften aus dem Risalda Departement in der Nähe der Stadt Peirera, bekam eine Beileidskarte, auf der sie zu ihrer eigenen Beerdigung eingeladen wurde, gefolgt von Telefonanrufen, Briefen und Leuten, die ihr auf dem Nachhauseweg folgten. Sie weiß von Lehrern, die vor den Augen ihrer Schüler erschossen wurden.

Eine andere Lehrerin arbeitete 23 Jahre lang in einer Schule außerhalb von Bogota. Sie wird seit vor 15 Jahren verfolgt. Seitdem wurde in ihr Haus vielfach eingebrochen. Wie allen verfolgten Gewerkschaftlern wird ihr vorgeworfen ein Mitglied der Guerilla zu sein - eine Taktik die normalerweise bedeutet, dass man für eine Säuberungsaktion eingeplant ist. Ihre beiden jugendlichen Töchter waren auch Ziele von Angriffen. Sie erzählte uns, wie ihr Mann entführt und dann von paramilitärischen Einheiten umgebracht wurde. Ihren Töchtern war es noch nicht einmal möglich zum Friedhof zu gehen, um das Grab ihres Vaters zu sehen.

Lehrer und Dozenten sind nicht die einzigen Mitglieder der Gesellschaft, die Ziele von Übergriffen sind, es trifft auch fortschrittliche Anwälte, Priester, Studenten, alle Formen von Gewerkschaftlern, oder auch einfach Kleinbauern, die zufällig in der falschen Gegend leben, normalerweise in der Nähe einer Ölpipeline. Das Arauca Departement ist von der Regierung in eine militärische Zone verwandelt worden, ein Lehrer beschreibt diese Zone als ein “Versuchslabor für den Krieg”. In den ersten acht Monaten der Militarisierung wurden dort 3000 Menschen verhaftet, es gab 1300 Razzien in Privathäusern und die Daten von 90 000 Menschen wurden in eine Datenbank zur Überwachung der Sicherheit eingegeben.

Das Verschwindenlassen von Leuten ist ein noch effektiveres Instrument des Terrors und der Unterdrückung als Ermordungen. In den letzten fünf Jahren “verschwanden” 5000 Leute in den Händen von Paramilitärs. Die meisten der Verschwundenen werden letztendlich tot aufgefunden, und ihre Körper tragen Male der schlimmsten Folterungen, die man sich vorstellen kann.

Die Reaktion der Regierung besteht in der Feststellung, dass all dies Lügen sind - so sind die Verschwundenen zu den Guerillas übergelaufen, wurden entführt oder sind mit ihren Liebhabern abgehauen. Es ist schwer sich eine kaltherzigere Reaktion auf das Verschwinden eines Familienmitglieds vorzustellen, aber diese Antwort macht es der Regierung möglich, sich ihren, unter internationalem Recht stehenden Verantwortungen zu stellen.

Auch Studenten sind bevorzugte Ziele. Am Eingang der staatlichen Universität in Bogotá sind mit Kalk die Umrisse von Menschen gezeichnet. Sie sollen die Studenten repräsentieren, die in den letzten zehn Jahren durch die Terrororganisationen umgebracht worden, bzw. verschwunden sind. Eine besonders bedrückende Entwicklung zeigte sich an der Universität von Altantico in Antioquia, wo man Studenten vor dem Klassenzimmer, in dem sie unterrichtet wurden, ermordete.

“Die Studentenbewegung wurde in der Geschichte immer wieder Ziel von gewalttätigen Angriffen, aber erst in den neunziger Jahren begann die Unterdrückung richtig ernst zu werden,” erklärte eine Gruppe von Jurastudenten der staatlichen Universität, “und das steht in direktem Zusammenhang mit dem Widerstand innerhalb der wenigen privaten Universitäten, der gegen die Privatisierung und Militarisierung des Universitätssystems gerichtet ist.”

In Cucuta verhängten Paramilitärs ein Ausgehverbot für junge Leute. Studenten an der Abendschule haben aus Angst ihr Kurse aufgegeben, weiblichen Studenten wurde verboten Jeans und enge Oberteile zu tragen. Bestrafungen bestanden darin, dass Säure nach den regelverletzenden Studenten geworfen wurde oder ein Messer benutzt wurde, um ihnen die nackte Haut am Bauch aufzuschneiden.

Außerdem wurden die Universitäten in das “Netz von Informanten” des Präsidenten Uribe aufgenommen, Erinnerungen an eine Politik, die gewöhnlicherweise in Ländern verfolgt wird, die man als Polizeistaaten beschreibt. Uribe plant, ein Netzwerk von einer Million Personen zu errichten, die als Augen und Ohren für den kolumbianischen Staat dienen sollen. Das wird mit besonderer Aktivität an Universitäten verfolgt, an denen uns erzählt wurde, dass dort immer jemand bereit ist Studentenführer zu verraten. In den letzten fünf Jahren sind zwischen 60 und 70 Studentenführer verschwunden.

Diese Schreckensgeschichten kann man nicht isoliert von der Wirtschaftspolitik der Regierung betrachten. Die Regierung hat zusammen mit dem IMF (International Monetary Fund) ein Entwicklungspaket unterschrieben, welches die Steuerlast der Ärmsten erhöht und auf die Abschaffung der sozialen Sicherheit abzielt. Im Bildungssektor werden Privatunternehmen eingeführt und es ist eine Wirtschaftspolitik auf dem Weg, die plant, die höhere Bildung zu privatisieren. Die Zahl der Lehrer ist von 312 000 auf 280 000 gefallen. Neueinstellungen wurden eingefroren, wenn Lehrer, aus welchem Grund auch immer, aus dem Beruf ausscheiden, werden sie nicht ersetzt. Bei vielen Lehrern, die ihre Jobs behalten konnten, wurden die Vollzeit- oder Festangestelltenverträge in befristete Verträge umgewandelt. 1990 waren etwa 90% der, an Universitäten Beschäftigten fest angestellt, diese Zahl ist jetzt auf etwa 10% gefallen. Die neuen befristeten Verträge sind sofort und Begründung aufhebbar. Die Massenmedien werden von einer kleinen Handvoll Leute kontrolliert, die den Konflikt entweder ignorieren oder verzerren, um den Anschein zu geben, als ob das größte Menschenrechtsproblem des Landes die Entführung der Superreichen von linksgerichteten Guerillaorganisationen wäre.

Der ehemalige Gewerkschaftsführer und derzeitiges Kongressmitglied Wilson Borjca, der als Folge eines Anschlages auf sein Leben, dem er knapp entkam, hinkt, fasst die Situation in einem Satz zusammen: “die Kolumbianer sind so arm, weil Kolumbien so reich ist”. Kolumbien besitzt 16 der 22 begehrtesten Bodenschätze der Welt, davon sind am erwähnenswertesten Öl und Gold. Doch etwas über 1% der Bevölkerung besitzt 58% des Landes, während Elendsviertel rapide wachsen um Kolumbiens zwei Millionen Obdachlosen eine sehr ärmliche Zuflucht zu bieten zu können. 13 Millionen Menschen verdienen weniger als US $ 40 im Monat, 3,5 Millionen Kinder erhalten keine Schulbildung und die Hälfte der Bevölkerung hat keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Währenddessen werden wachsende Geldbeträge dazu verwendet, die Schulden des Landes abzubezahlen und die Sicherheitskräfte zu verstärken.

Präsident Uribe kann es kaum erwarten das amerikanische Freihandelsabkommen (ALCA) zu unterschreiben, das den größten Binnenmarkt der Erde erschaffen wird, und Lateinamerikas Stellung als Quelle billiger Rohstoffe, billiger Arbeit und von Absatzmärkten sichern wird. Schon jetzt konnte das Welthandelssystem in Kolumbien einen Zuwachs an Lebensmittelimporten von 1 Million Tonnen 1990 auf heute 8 Millionen Tonnen verzeichnen. Ein Land mit unglaublich fruchtbarer Erde, wo die Ernten gedeihen, importiert nun, verursacht durch unfairen Wettbewerb, Grundnahrungsmittel inklusive Getreide. Während die US-amerikanischen Agrarsubventionen erst nach 2005 langsam auslaufen, fürchtet Borjca, dass zu dieser Zeit die Kolumbianer ihre Wettbewerbsfähigkeit schon verloren haben werden, weil Großkonzerne das Land von bankrotten Farmern aufkaufen.

In Aguablanca, außerhalb von Cali, leben die Familien auf engstem Raum. Als Betten verwenden sie Orangenkisten, wenn sie nichts besseres finden können, ein kleines Stück Plastik dient als Dach für ihr “Zuhause”. Glassplitter liegen auf dem Boden, wo die Kinder barfuss spielen, viele von ihnen haben Verletzungen und andere Zeichen von Entzündungen. Es gibt weder Licht noch Heizung. Ein Wasserhahn muss für 750 Familien reichen. Die Reaktion der Regierung auf diese verzweifelten Menschen konnte man im März 2003 beobachten, als Sicherheitskräfte die Siedlung, einschließlich aller privaten Besitztümer die, die Mittellosen mitzubringen vermochten, zerstörten. Aus Mangel an anderen Auswahlmöglichkeiten, haben die Anwohner den Slum wieder aufgebaut und werden weiter regelmäßig von der Polizei belästigt.

Kolumbien ist derzeit der größte Empfänger von amerikanischer Militärhilfe nach Israel und Ägypten und die Ausrüstung wird sicherlich nicht nur dafür benutzt um den “Krieg gegen die Drogen” zu führen, was den ursprünglichen Vorwand für die steigende Hilfe lieferte. Helikopter haben Granaten in dicht bewohnte Gegenden abgefeuert, in einem jüngeren Fall wurde berichtet, dass dabei 20 Zivilisten getötet wurden und keine Guerillas. Das scheint eine, aus dem Vietnam Krieg bestens bekannte Strategie zu sein: trockne den See aus und du tötest den Fisch. Der Fisch sind die Guerillas, das Wasser die Unglückseligen. Bisher hat Uribes Zustand innerer Unruhe schon eine große Welle von Razzien, Sicherheitsmaßnahmen und Gewalt ausgelöst.

In diesem neuen Sicherheitssystem scheint jeder ehrlich zu sein. Obwohl sie alle in einer “demokratischen” Gesellschaft leben, fühlte sich Keiner, mit dem wir gesprochen haben, als ob er irgendwelche Rechte hätte. “Die Regierung braucht uns keine Entschuldigung für Verhaftungen zu geben,” erzählte uns eine Frau, “sie begründet alles, in dem sie über die Aufstände redet.

Die Gewerkschaftsberichte aus Kolumbien lesen sich wie eine Horrorstory. “Es ist das gefährlichste Land der Welt für Journalisten, Mitarbeiter von Ölfirmen oder öffentlichen Dienstleistungsunternehmen, Lehrer und Dozenten.” Alle Gewerkschaftler, mit denen wir gesprochen haben, glaubten, dass “sogar noch dunklere Zeiten bevorstehen.”

Trotz dem dramatischen Frontalangriff auf die Gesellschaftsstruktur, lassen die Kolumbianer nicht zu, dass gesellschaftliche Verbindungen zerstört werden. Gewerkschaften, die selbst unter Feuer stehen, werden zu sozialen Bewegungen, die nicht nur ihre eigenen Mitglieder beschützen, sondern gleichzeitig auch die Armut bekämpfen. Es bilden sich Gemeinschaften inmitten von Vertreibung und Verschwinden und Angst und Terror, die mit einem Satz zusammengefasst werden können: “Töte Einen von uns und 10 Menschen mehr werden sich wehren.”

Nicht nur die USA schickt Beistand zur Erhaltung der Sicherheit nach Kolumbien. Großbritannien, das darauf verweist, dass Kolumbien eine der ältesten Demokratien Lateinamerikas sei, hat hervorragende Beziehungen zu Uribes Regierung - “der ein Präsident ist, der in einer sehr schwierigen Situation sein bestes tut, um die Ordnung im Land wieder herzustellen.”

Faschismus ist kein Wort, das man leichtsinnig benutzen sollte, aber es ist ein Ausdruck, den wir wieder und wieder gehört haben, um Uribes Politik zu beschreiben. Man kann nur bis zu einer bestimmten Grenze noch hoffen und Kolumbien bewegt sich sehr schnell auf diese Grenze zu. Die Leute sehen unsere Solidarität als eine letzte Verteidigung gegen den Alptraum, der ihr Land geworden ist.

Nick Dearden ist ein Aktivist von “War on Want” und kehrte kürzlich aus einem Gewerkschaftsbesuch in Kolumbien zurück.


Quelle: ZNet Deutschland vom 15.09.2003. Übersetzt von: Linda Ramcke.

Veröffentlicht am

17. September 2003

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