“Es gibt keinen Weg zum Frieden. Der Frieden ist der Weg”Gedanken zur Aktualität Mahatma Gandhis anlässlich seines 50. Todestages am 30. Januar 1998Von Michael Schmid Am 30. Januar 98 ist es genau 50 Jahre her, seit der große indische Praktiker und Theoretiker der Gewaltfreiheit, Mohandas K. Gandhi, von einem Hindu-Fundamentalisten mit drei Revolverschüssen ermordet worden ist. Interessant vielleicht, daß das Datum 30. Januar auch in der deutschen Geschichte eine wichtige Rolle spielt: Denn auf den Tag genau 15 Jahre vor Gandhis Ermordung war Hitlers “Machtergreifung”. Mit Gandhi und Hitler sind die Namen zweier Personen genannt, die gemeinsam haben, daß sie das 20. Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt haben. Doch damit ist vermutlich der größte Teil an Gemeinsamkeiten zwischen beiden auch schon genannt. Jedenfalls könnten Weg und Ziel, Zweck und Mittel, die sie jeweils eingesetzt haben, kaum entgegengesetzter sein. Der eine, Hitler, verfolgte mit gnadenlosem Terror und barbarischer Gewalt seine tyrannischen Ziele. Für ihn zählte das Individuum nichts. Er betrieb systematisch eine Ausrottungspolitik, hinterließ eine unvorstellbare Blutspur, hatte Millionen von Menschenleben auf dem Gewissen. Gandhi dagegen setzte ganz auf die Gewaltfreiheit und auf den unbedingten Wert jedes Lebens. Unter seiner Führung beteiligten sich Millionen von Menschen am Freiheitskampf gegen die britische Kolonialherrschaft - und der größten Befreiungsbewegung des 20. Jahrhunderts gelang es, ohne Gewaltanwendung das koloniale Joch abzuschütteln. Zweifellos hat keiner mehr als Gandhi mit seinen Kampagnen der Nichtzusammenarbeit und des bürgerlichen Ungehorsams zum endgültigen Zusammenbruch des Britischen Weltreiches beigetragen. Nun, 50 Jahre seit Gandhis Tod sind eine lange Zeit. Kann dieses Datum für uns mehr sein als ein Gedenktag für eine große Persönlichkeit? Das Indien, zu dessen Befreiung Gandhi maßgeblich beigetragen hat, war völlig anders als unsere moderne Industriegesellschaft. Und Gandhi selbst mußte, als die Stunde der indischen Unabhängigkeit im Jahre 1947 näherrückte, immer deutlicher erkennen, daß auch unter seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die meisten ganz andere Vorstellungen von einem freien Land hatten als er selbst. In der Regierungspolitik des heutigen Indien hat sein Werk kaum mehr praktische Auswirkungen. Gandhi wird gerne als Ikone mißbraucht, die anläßlich offizieller Feierlichkeiten als “Vater der Nation” beschworen wird. Von einer mehrmonatigen Reise auf dem indischen Subkontinent weiß ich, daß zwar in jedem kleinen indischen Städtchen mindestens eine Gandhi-Statue steht. Aber das Bild, das sich sonst bietet, macht überdeutlich, daß Gandhis Ideen sich nicht auf breiter Basis durchsetzen konnten. Wenn sein Einfluß auf das heutige Indien schon so gering ist, was sollte er uns dann geben können? Kann für uns heute noch anderes interessant sein als allenfalls seine historische Leistung als gewaltfreier Befreiungskämpfer wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen? Was sollten wir von diesem zwar sympathischen, doch recht schrullig wirkenden Menschen - wie er nur barfüßig in Sandalen, mit einfachem Gewand bekleidet daherkam und Ideen in die Tat umsetzte, die uns recht verschroben erscheinen mögen - für uns heute lernen können? Nun wissen alle, die beispielsweise die Friedensbewegung in den 80er Jahren bewußt wahrgenommen oder miterlebt haben, daß dort durchaus Ideen und Methoden von Gandhi aufgegriffen worden sind. Bei gewaltlosen Demonstrationen und Aktionen des Zivilen Ungehorsams, etwa in Form von Blockaden vor Atomraketenstellungen, bezogen sich viele Akteure auf Gandhi. Dabei ist er von Teilen der Friedensbewegung als eine Art Patentlösung gegen die Stationierung der Atomraketen herangezogen worden. So hat er zwar hierzulande Aufmerksamkeit bekommen. Doch Gandhis Wirken als Handlungsanleitung für das eigene politische Engagement heranzuziehen, wird dessen umfassender Lebensweise nicht gerecht. Denn Gandhi nur in der Rolle als Führer der indischen Befreiungsbewegung zu sehen, würde seinem Streben nach ganzheitlichem Leben überhaupt nicht gerecht. “Mein Leben”, sagt Gandhi, “ist ein unteilbares Ganzes, und alle meine Aktivitäten gehen ineinander über…” Und in der Tat ist seine faszinierende Entwicklung von einem eher glücklosen, schüchternen, wenig anziehenden Jugendlichen zur vielleicht größten Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts kaum zu verstehen, wenn nur Teilaspekte seines Lebens betrachtet werden. Richtig verstanden und gewürdigt werden kann dies erst, wenn wir den Menschen Gandhi selbst entdecken. Zu einem umfassenden Bild gehört, daß sich Gandhi außer dem politischen Befreiungskampf gegen die britische Kolonialherrschaft auch Diätexperimenten und der Naturheilkunde widmete. Er pflegte sein Leben lang Kranke, trat für sozial Benachteiligte ein, wollte die Situation der Frauen und Unberührbaren verbessern, religiöse Toleranz erreichen, eine unabhängige Dorfindustrie entwickeln. Mit seinem Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung setzte er sich für das Wohl aller Menschen ein. Genial seine Erkenntnis, daß der Weg zum Frieden und das Ziel Frieden in einem ebenso unauflöslichen Zusammenhang stehen wie Saat und Pflanze. Mit der sich daraus ergebenden Folgerung, daß Konflikte nur gewaltfrei zu lösen sind, hat Gandhi der Menschheit den allgemeinen Schlüssel zur Erklärung und Bewältigung von Konflikten in die Hand gegeben. In seinem Konfliktverständnis liegt ein reichhaltiger Erfahrungsschatz, der erst noch richtig gehoben werden muß, um seine Wirkung entfalten zu können. Alles dies ist nicht zu verstehen, wenn Gandhis Religiosität außer acht gelassen wird. Denn Gott zu suchen und zu sehen war Gandhis höchstes Ziel. Dabei werden die von ihm häufig gebrauchten Worte “Gott”, “Wahrheit”, “Liebe”, “das Gute” überwiegend in der gleichen Bedeutung verwendet. Sie sind die Quelle, aus der die Idee der Gewaltfreiheit (ahimsa) stammt, an der er Zeit seines Lebens festhielt. Für ihn galt: “Wahrheit ist Gott”. Deshalb hatte für ihn das Erkennen der Wahrheit und das Streben nach einem wahrhaftigen Leben gleiche Bedeutung wie die Suche nach Gott. Und seiner neuen Art, Ungerechtigkeit zu überwinden, gab Gandhi den Namen Satyagraha. Das ist gleichbedeutend mit “Streben nach der Wahrheit” oder “Seelenkraft”. Gandhis wirkliche Leistung lag also nicht auf einem einzelnen Gebiet, sondern in der wichtigsten Aufgabe, der wir uns alle gegenübergestellt sehen: in der Aufgabe, zu leben. Dabei war er ein Mensch, der seine Ideen in der Praxis erprobte, während die Praxis wiederum sein Denken formte. Denken und Handeln gehörten eng zusammen. Und weil er unzählige seiner Ideen in praktische Versuche umsetzte, bezeichnete er sein Leben auch als “Experimente mit der Wahrheit”. Gandhi war sich sehr bewußt darüber, daß eine Gesellschaft nur so gut sein kann wie seine Individuen. Sein eigenes Lebensgesetz kann ein Mensch nur so wirklich erfüllen, wie dadurch nicht das Wohlsein anderer Mitwesen behindert oder gar bedroht wird. Deshalb war für ihn klar, daß die Individuen stetig an sich selber arbeiten und emanzipative Läuterungsprozesse durchlaufen müssen. Die Veränderung des Individuums zu einer wahrhaftigen Lebensweise war also mindestens so wichtig wie die Umformung der Gesellschaft. Und deshalb dehnte er seine “Experimente mit der Wahrheit” auf alle Gebiete des Lebens aus. Seine Gewaltfreiheit muß “jede Faser der eigenen Person durchdringen und alle Aspekte des Lebens revolutionieren - die individuellen, häuslichen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen. Der Einzelne hat Gewaltfreiheit im täglichen Leben zu praktizieren.” (Bharatan Kumarappa). Daß es Gandhi dabei um die individuelle und gesellschaftliche Befreiung ging und nicht um einen um sich selbst kreisenden Individualismus, muß hier nicht extra ausgeführt werden. Ich vermute, es ist diese radikale Herausforderung an das Individuum, die es so schwer macht, Gandhi bei uns, wenn überhaupt, dann höchstens in der eingeschränkten Art aufzunehmen, wie dies in der Friedensbewegung vielfach der Fall war. Gandhi ging es stets darum, seine Ideen sofort in praktisches Handeln umzusetzen. Kann nicht gerade das eine ungeheure Provokation für das eigene Leben darstellen? Das Studium der Handlungen Gandhis kann dazu provozieren, das eigene Verhalten kritisch zu reflektieren. Ich verspüre diese Herausforderung immer wieder, wenn ich mich in Form des Lesens oder Filmeschauens auf das Leben Gandhis einlasse. Und diese Herausforderung ist höchst unbequem. Denn ich merke, daß ich mein Leben stärker verändern müßte als ich das bisher geschafft habe. Dabei weiß ich ja eigentlich auch, daß keine humane Mitwelt entstehen kann, ohne daß ich bereit bin, mich selbst zu ändern. Welche Gründe könnte es also geben, sich das anzutun und sich durch einen nunmehr seit 50 Jahren toten Gandhi provozieren zu lassen? Ich möchte provozierend antworten: Weil die Menschheit möglicherweise sonst überhaupt keine Zukunft haben wird. Ich möchte hier gar nicht erst auf die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Tragödien eingehen, die sich weltweit Tag für Tag abspielen. Mit unserem weltweit anarchisch wirkenden Wirtschafts- und Finanzsystem nehmen wir teil an kollektiven Selbstmordaktionen im Weltmaßstab. Indem wir mit unserer Wirtschafts- und Lebensweise Zukunft überhaupt in Frage stellen, sind wir auch zu Gegnern unserer Kinder und Kindeskindern geworden und von den noch nicht Geborenen und ebenso von Menschen, die in anderen Kontinenten leben. In dieser Situation ist praktische Vernunft gefordert. Gandhi hatte Erkenntnisse, die sehr vernünftig waren und die uns bei der Lösung unserer Probleme sehr nützlich sein könnten. Natürlich kann es nicht darum gehen, ihn etwa zum Guru zu machen oder jede seiner Aussagen ohne Kritik hinzunehmen. Wenn wir seine Botschaft mit unseren eigenen Erfahrungen in Verbindung bringen, wenn wir uns sein Leben als Quelle der Inspiration erschließen, dann könnten wir zu Antworten auf die grundlegenden Herausforderungen kommen, vor denen wir heute stehen. Vor allem könnten wir uns von diesem Visionär des Konkreten auch viel Anregung und Ermutigung holen, um nicht zu resignieren und hoffnungslos zu werden. Michael Schmid, wohnhaft in Gammertingen, Kreis Sigmaringen; Pädagoge, Sozialwissenschaftler; Mitarbeiter beim Projekt “Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.”, mit dem versucht wird, Gewaltfreiheit in Theorie und Praxis zu entfalten. Kommentar zu diesem Artikel: Lieber Michael, Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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