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Ostafrika: Hunger durch Handel?

Die Freihandelspolitik untergräbt das Recht auf Nahrung systematisch.

Von Anne Jung

In dem kleinen Supermarkt am Rande einer informellen Siedlung in Kenias Hauptstadt Nairobi wartet ein blauer Teddy auf einer Packung Babybrei von Nestlé auf Kundschaft. "Keine einzige Packung von dem Mist habe ich verkauft", beschwert sich der Ladenbetreiber. Diese Szene offenbart die ganze Scheinheiligkeit der "Afrikapolitik" der G20-Staaten und damit auch der Bundesregierung. Der Zusammenschluss der mächtigsten Industrienationen setzt auf Investitionen von Großkonzernen, um die Wirtschaft in afrikanischen Ländern anzukurbeln. Das auf den Weg gebrachte Abkommen "Compact with Africa" soll sie für mehr Engagement begeistern. Lebensmittelmultis wie Nestlé sind es schon: Ihre Produkte überschwemmen die lokalen Märkte. "Zielgruppengerecht" verkaufen sie ihre Produkte in Minigrößen, sodass sich auch die Armen sie leisten können. "Popularly positioned products" nennt Nestlé das. Ein Großteil der Lebensmittel sind Fertigprodukte mit zu viel Salz, Zucker und Geschmacksverstärkern. Convenience Food als Symbol für den sozialen Aufstieg. Am elenden Alltag ändert es gleichwohl nichts, es macht nur krank. In Kenia ist aufgrund von Fehl- und Mangelernährung inzwischen jeder Vierte übergewichtig. Zu den tödlichen Begleiterscheinungen gehören Diabetes und Herzkreislauferkrankungen. Weitere Folgen dieser Investitionspolitik: Der lokale Handel wird ruiniert und das Angebot an gesunden Nahrungsmitteln von heimischen Märkten sinkt.

Die asymmetrischen Handelsbeziehungen, die das Verhältnis zwischen den Industrienationen und vielen afrikanischen Ländern prägen, tragen zu der paradoxen Gleichzeitigkeit von Fehlernährung und Hunger bei. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit zeigt sich aktuell in Ostafrika, in dem die Hungerkrise weite Teile weiter fest im Griff hat.

Während in Kenia insgesamt dank der laufenden humanitären Hilfe die schlimmsten Szenarien verhindert werden konnten, sind die Berichte der medico-Partnerorganisationen KAPLET aus Kenia und NAPAD aus Somalia aus den Provinzen Garissa und Gedo entlang des Grenzgebietes erschütternd: Viele Menschen sind zu entkräftet, um Orte zu suchen, an denen es noch Wasser und Nahrung gibt. Tote Tiere, darunter sogar Kamele, die bekanntlich besonders dürreresistent sind, zeugen vom Ernst der Lage. Für die Menschenrechtsaktivisten von KAPLET, die vor allem in den informellen Siedlungen in Nairobi arbeiten, dort u.a. laienjuristische Beratung anbieten und sich für das Recht auf Ernährungssicherung und Gesundheit einsetzen, ist die Verteilung von Hilfsgütern Teil eines solidarischen, politischen Handelns zur dauerhaften Überwindung von Not und Unmündigkeit. "Wir müssen das zusammen denken. Denn wie sollen wir mit Menschen über ihre Grundrechte sprechen, wenn sie vom Hungertod bedroht sind?", fragt David Makori von KAPLET.

Vertrauen als Sicherheitsstrategie

Mit einem ursachenbezogenen Hilfsansatz wollen die medico-Partner Notlagen ohne von außen übergestülpte Hilfe abmildern. Bei einer Sondierungsreise für die Vorbereitung der Hilfslieferung in die Provinz Garissa haben die Aktivistinnen und Aktivisten von KAPLET aufmerksam zugehört und genau hingeschaut. Sie haben mit Dorfältesten und mit religiösen Führern gesprochen und ausgelotet, wie Wasser und Lebensmittel so schnell und (bedarfs-)gerecht wie möglich verteilt werden können. Die Aufgabe ist umso herausfordernder, weil Überfälle durch die islamistischen Milizen der al-Shabaab in den vergangenen Jahren Misstrauen und Angst geschürt haben. Gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung fand KAPLET einen ideenreichen Umgang mit dem Sicherheitsproblemen: Dorfälteste und andere lokale Persönlichkeiten begleiten die LKW mit den Hilfslieferungen auf Teilen der Strecke und schützen sie so. Indem der medico-Partner die lokalen Hierarchien einbindet, schafft er Vertrauen und bleibt gleichzeitig unabhängig - ein gelungenes Beispiel kritischer Nothilfe. Die Angst fährt dennoch auf jeder Reise mit. Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Ostafrika sind auch insofern prägend, weil sie die Hungerkrise massiv verschärft haben: Viele wichtige Handelswege sind zum Erliegen gekommen, Vertreibungen und Plünderungen haben die Vorratshaltung untergraben. Der kenianische Dürreexperte Dr. Alex O. Awiti erläutert im Gespräch mit medico, wie eng die bewaffneten Konflikte wiederrum mit der Handelspolitik zusammenhängen: "Schrumpfende Handlungsspielräume, mitverursacht durch die Privatisierung von fruchtbarem Land und den Klimawandel, haben die Verteilungskonflikte in der ganzen Region angeheizt."

Auch die Partner von NAPAD, im Zuge der Dürre im Jahr 2006 von somalischen NGO- und UN-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegründet, sind sich der Risiken bewusst. Sie bündeln Erfahrungen in der Nothilfe und sind seit vielen Jahren im Südwesten Somalias aktiv. Und sie haben in Folge der damaligen Dürre im Rahmen ihrer Möglichkeiten Präventionsmaßnahmen etabliert. Wichtig seien einkommensschaffende Maßnahmen vor allem für Frauen, um die ökonomischen Folgen der Dürre zu überwinden und die Einnahmequellen zu diversifizieren, berichten Abdullahi Hersi und Mohamed A. Arai. Auch seien Wasserauffangbecken gebaut worden. Es sei aber nicht genug gewesen, um die jetzige Notlage abzuwenden. Und das hat viel mit der "Kurzsichtigkeit" der nationalen, aber auch der internationalen Krisenpolitik und dem "Hilfsbusiness" zu tun: "Viele vor sorgende Ansätze ließen sich nicht umsetzen, weil Fördergelder, kaum war die Dürre damals vorüber, gestrichen oder gekürzt wurden", berichten die Kollegen. Krisen werden nicht zur notwendigen Veränderung genutzt, sondern reproduzieren eher bestehende Abhängigkeiten. Das zeigt sich auch im Verhältnis von Kenia und der Europäischen Union.

Dem Freihandel ausgeliefert

2016 unterschrieb die Regierung in Nairobi das Freihandelsabkommen EPA mit der EU - allerdings keineswegs aus freiem Willen. Als sich die Regierung sträubte, verhängte die EU Einfuhrzölle auf kenianische Produkte. Das zeigte Wirkung. Das Abkommen selbst belegt, was Freihandel unter ungleichen Partnern bedeutet: Während nur 10 Prozent der afrikanischen Produkte auf dem Weltmarkt als konkurrenzfähig gelten, ermöglicht es EPA, dass auf 80 Prozent der Exporte der Europäischen Union nach Ostafrika keine Zölle erhoben werden dürfen. Die erzwungene Absenkung von Zöllen und Steuern beraubt Kenia nicht nur wichtiger Einnahmequellen, sondern auch der Möglichkeit, die eigene Wirtschaft zu schützen. Der europäischen Wirtschaft hingegen sichert das Abkommen optimale Marktzugänge. Jenseits dieser Handelspolitik pachten Firmen aus der EU weiterhin riesige Landflächen in Kenia für den Anbau der Pflanze Jatropha, aus der Biosprit produziert wird. Die kenianische Gesellschaft hat nichts davon, im Gegenteil: Die eigene Landwirtschaft und damit die Ernährungssouveranität werden geschwächt, die Landaneignungen durch Konzerne führt zu Vertreibung und Enteignung.

Im Widerspruch dazu streiten Organisationen wie NAPAD und KAPLET und viele andere mit enormer Beharrlichkeit für den Erhalt und Ausbau der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sowie für ein gutes Verteilungskonzept. Unermüdlich etwa fordert KAPLET, das in der neuen Verfassung des Landes verankerte Recht auf Nahrung auch zu gewährleisten und die Agrarpolitik an den Bedürfnissen der Bevölkerung zu orientieren. "Rechte statt Mitleid" - so war ein Aufruf überschrieben, den medico während der Dürre von 2006 gemeinsam mit vielen afrikanischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern veröffentlicht hatte. Die tödliche Verschränkung der aktuellen Hungerkrise mit den internationalen Handelsinteressen belegt, wie überlebenswichtig diese Forderung immer noch und immer mehr ist.

Um die Ernährungssicherheit in den ostafrikanischen Staaten zu sichern, braucht es neben der akuten Hilfe nachhaltige und dauerhafte Veränderungen - hier wie dort. Im Kampf gegen die Hungerkrise leisten die medico-Partner vor Ort nicht nur in den am schlimmsten betroffenen Gebieten kritische Nothilfe. Sie setzen sich auch politisch für das Recht auf Ernährungssicherheit ein.

Quelle: medico international - 13.07.2017. Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2017.

Veröffentlicht am

20. Juli 2017

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