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Der Tambourmajor-Instinkt

Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King ermordet. Zwei Monate vor seinem Tod, am 4. Februar 1968, hielt er in der Ebenezer Baptist Church in Atlanta eine Predigt, die wir nachfolgend anlässlich seines 49. Todestages in deutscher Übersetzung dokumentieren. 

Von Martin Luther King

Heute morgen möchte ich predigen über das Thema: "Der Tambourmajor-Instinkt". Unser Text für diesen Morgen ist einem sehr bekannten Abschnitt im 10. Kapitel des Markus-Evangeliums entnommen. Dort heißt es ab Vers 35: "Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, dass du uns tust, was wir dich bitten werden. Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisset nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen, mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten und zu meiner Linken, steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern welchen es bereitet ist."

Und dann fährt Jesus fort, gegen Ende des Abschnittes: "Aber so soll es nicht sein unter euch; sondern wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht." Die Situation ist deutlich. Jakobus und Johannes richten eine besondere Bitte an den Herrn. Sie hatten, wie die meisten Hebräer, von einem künftigen König Israels geträumt, der Jerusalem befreien würde. Und sein Königreich auf dem Berg Zion errichten und in Gerechtigkeit die Welt regieren würde. Sie sahen in Jesus diesen König, und sie dachten an den Tag, an dem Jesus unumschränkt herrschen würde als der neue König Israels. Und so sagten sie: "Wenn du deine Königsherrschaft aufrichtest, lass’ einen von uns zur Rechten und den anderen zur Linken deines Thrones sitzen."

Wir würden wohl sehr schnell, ohne lange zu überlegen, Jakobus und Johannes verdammen und sie selbstsüchtig nennen. Warum sprechen sie eine so selbstsüchtige Bitte aus? Aber bevor wir sie zu schnell verdammen, lasst uns ruhig und ehrlich uns selber betrachten. Und wir werden entdecken, dass auch wir dieses elementare Verlangen nach Anerkennung, nach Bedeutsamkeit haben, dasselbe Verlangen nach Beachtung, dasselbe Verlangen, erster zu sein. Natürlich waren die anderen Jünger wütend auf Jakobus und Johannes, und man versteht, warum. Aber wir müssen begreifen, dass auch wir einige eben dieser Eigenschaften von Jakobus und Johannes haben. Es gibt tief in uns allen einen Instinkt: es ist eine Art Tambourmajor-Instinkt - der Wunsch, ganz vorn zu sein; der Wunsch, die Parade anzuführen; der Wunsch, erster zu sein. Und das ist etwas, was alle Lebensbereiche durchzieht.

Und deshalb - bevor wir sie verdammen - lasst uns erkennen, dass wir alle den Tambourmajor-Instinkt haben. Wir alle wollen wichtig sein, andere übertreffen, etwas Besonderes sein, die Parade anführen. Alfred Adler, der große Psychoanalytiker, behauptet, dies sei der beherrschende Antrieb. Sigmund Freud behauptete, Sex sei der beherrschende Antrieb. Aber Adler kam mit einem neuen Argument, indem er erklärte, diese Suche nach Anerkennung, dieses Verlangen nach Beachtung, dieses Verlangen, etwas besonderes zu sein, sei der grundlegende Antrieb menschlichen Lebens - eben der Tambourmajor-Instinkt.

Und wie Ihr wisst, fangen wir früh an, vom Leben zu verlangen, es solle uns an die erste Stelle bringen. Unser erster Schrei als Baby war eine Bitte um Beachtung. Und durch die ganze Kindheit hält uns der Tambourmajor-Antrieb oder -Instinkt in besonderer Weise gefangen. Kinder erwarten vom Leben, dass es ihnen den ersten Platz gewährt. Sie sind ein kleines Bündel an Ich-Bezogenheit. Der Tambourmajor-Impuls oder auch der Tambourmajor-Instinkt ist ihnen angeboren.

Auch als Erwachsene haben wir ihn, und wir werden ihn nie richtig los. Wir tun gern etwas Gutes, und wir wollen dafür natürlich gelobt werden. Wenn ihr das nicht glaubt, lebt einfach euer Leben weiter, und ihr werdet sehr bald entdecken, dass ihr euch gern loben lasst. Selbstverständlich hat das jeder gem. Irgendwie ist dieses warme Gefühl, das wir spüren, wenn wir gelobt werden oder unser Name gedruckt erscheint, so etwas wie Vitamin A für unser Ich. Niemand ist unglücklich, wenn er gelobt wird, selbst wenn er weiß, er hat es nicht verdient, und selbst wenn er es nicht glaubt. Nur dann sind Menschen unglücklich, wenn jenes Lob zu sehr einem anderen gilt. Jeder hat es gern, gelobt zu werden, eben wegen dieses ganz realen Tambourmajor-Instinkts.

Die Existenz dieses Tambourmajor-Instinkts ist auch der Grund dafür, warum sich so viele Menschen allem möglichen anschließen. Ihr wisst, es gibt Leute, die sich aber auch allem anschließen. Dahinter steht in Wirklichkeit ein Verlangen nach Beachtung, nach Anerkennung und Wichtigkeit. Und sie bekommen Namen, die ihnen diesen Eindruck vermitteln. So kommst du in bestimmte Gruppen, und sie werden für dich der große Patron; denn der kleine Mann, der zu Hause unter dem Pantoffel steht, braucht eine Gelegenheit, um der Würdigste aller Würdigen in irgendeiner Beziehung zu sein. Es ist der Tambourmajor-Impuls, dieses Verlangen, das alle Lebensbereiche durchzieht. Und deshalb finden wir dieses Verlangen nach Anerkennung überall. Wir schließen uns irgend etwas an; ja, wir schließen uns in Wirklichkeit zu vielem an, in dem Glauben, wir würden dadurch Anerkennung finden.

Die Existenz dieses Instinkts erklärt, warum wir so oft von Werbern gefangen werden. Ihr kennt diese Herren mit ihrer massiven Überredungskunst. Sie haben eine Art, mit einem zu sprechen, die einen gleichsam zum Kaufen zwingt. Um ein besonderer Mensch zu sein, musst du diesen Whiskey trinken. Um deine Nachbarn neidisch zu machen, musst du diese Automarke fahren. Um liebenswert zu sein, musst du diesen Lippenstift oder dieses Parfum benutzen. Und du weißt: bevor es dir bewusst wird, kaufst du schon das Zeug. Das ist die Methode, nach der die Werber handeln.

Kürzlich erhielt ich einen Brief. Er betraf eine neu erscheinende Zeitschrift. Und begann mit den Worten: "Sehr geehrter Herr Dr. King! Wie Sie wissen, stehen Sie auf vielen Anschriftenlisten. Sie gelten als sehr intelligent, progressiv, als Liebhaber der Künste und der Wissenschaft, und ich bin sicher, Sie sind interessiert zu lesen, was ich zu sagen habe." Natürlich war ich interessiert. Nachdem sie mir das alles gesagt und so genau dargelegt haben, wollte ich die Zeitschrift natürlich lesen.

Aber ganz im Ernst: Der Tambourmajor-Instinkt begleitet unser Leben, er ist eine Realität. Und ist euch klar, was er außerdem bewirkt? Er veranlasst uns oft, über unsere Verhältnisse zu leben. Es liegt an nichts anderem als dem Tambourmajor-Instinkt. Seht ihr nicht manchmal Leute, die Autos kaufen, an deren Kauf sie erst gar nicht denken sollten angesichts ihres Einkommens? Ihr habt sicher schon Leute in Cadillacs und Chryslers durch die Gegend fahren sehen, die nicht genug verdienen, um sich ein gutes Ford-T-Modell zu kaufen. Aber das tut einem unterdrückten Ich ja so gut.

Die Volkswirte raten uns bekanntlich, dass ein Auto nicht mehr kosten soll als die Hälfte des Jahreseinkommens. Also: wenn du ein Jahreseinkommen von 5000 Dollar hast, dann sollte dein Auto nicht mehr als ca. 2500 Dollar kosten. Das ist ganz einfach eine Frage guten Wirtschaftens. Und wenn in einer zweiköpfigen Familie beide zusammen ein Einkommen von 10000 Dollar haben, dann müssten sie mit einem Auto auskommen. Das wäre gutes Wirtschaften, auch wenn es oft unbequem ist. Aber so oft … habt ihr nicht schon Leute gesehen, die 5000 Dollar im Jahr verdienen und ein Auto fahren, das 6000 Dollar kostet? Und sie wundern sich, wenn sie mit ihren Einkünften nicht auskommen. Das ist eine Tatsache.

Nun sagen die Volkswirte auch, dass ein Haus - wenn du eins kaufst - nicht mehr kosten sollte als das Zweifache deines Jahreseinkommens. Dann würden die Einkünfte ausreichen. Diese Erkenntnis beruht auf volkswirtschaftlichen Erfahrungen. Das bedeutet: Wenn du ein Jahreseinkommen von 5000 Dollar hast, dann hast du es schwer in dieser Gesellschaft. Aber angenommen, es handelt sich um eine Familie mit einem Einkommen von 10000 Dollar, dann sollte das Haus nicht mehr als 20000 Dollar kosten. Aber ich kenne Leute mit einem Einkommen von 10000 Dollar, die in Häusern für 40000 oder 50000 Dollar leben. Und ihr wisst, dass sie kaum zurechtkommen. Sie erhalten jeden Monat einen Scheck von irgendwoher, aber bevor das Geld hereinkommt, schulden sie es schon jemand anderem. Sie können nie etwas beiseitelegen für schlechte Tage.

Nun, das Problem ist der Tambourmajor-Instinkt. Und ihr wisst: immer wieder begegnet ihr Leuten, die vom Tambourmajor-Instinkt beherrscht werden. Sie leben ihr Leben, indem sie ständig versuchen, die Joneses zu übertreffen. Sie müssen unbedingt diesen Mantel haben, weil dieser besondere Mantel ein bisschen besser ist und ein bisschen besser aussieht als Mary’s Mantel. Und ich muss unbedingt dieses Auto fahren, weil an ihm etwas ist, was es ein bisschen besser macht als das meines Nachbarn. Ich kenne einen Mann, der in einem Haus für 35000 Dollar wohnte. Dann bauten sich andere ein Haus für 35000 Dollar. So baute er sich ein Haus für 75 000 und dann eins für 100000 Dollar. Und ich weiß nicht, wo er enden wird, wenn sein Leben weiter in dem Versuch besteht, die Joneses zu übertreffen.

Es kommt ein Zeitpunkt, an dem der Tambourmajor-Instinkt verderblich werden kann. Und darauf möchte ich jetzt eingehen. Ich  möchte so weit gehen und sagen, dass dieser Instinkt, wenn er gezügelt wird, ein sehr gefährlicher, schädlicher Instinkt wird. Wenn er nicht gezügelt wird, dann bewirkt er beispielsweise, dass die eigene Persönlichkeit verzerrt wird. Ich denke, das ist das Schädlichste an ihm - seine Wirkung auf die Persönlichkeit. Wenn er nicht gezügelt wird, kommt man schließlich dahin, dass man tagtäglich versucht, mit den Problemen des eigenen Ich fertig zu werden, indem man angibt. Habt ihr nicht auch schon Leuten zugehört - ich bin sicher, ihr seid ihnen begegnet -, die einen richtig krank machen, weil sie dasitzen und die ganze Zeit über sich selbst reden? Und sie prahlen und prahlen und prahlen. So verhält sich jemand, der seinen Tambourmajor-Instinkt nicht gezügelt hat.

Er hat auch noch andere Auswirkungen auf die Persönlichkeit. Manchmal veranlasst er euch, falsche Angaben darüber zu mach wen ihr kennt. Es gibt Leute, die sich wie Hausierer um Einfluss bemühen. In ihrem Versuch, mit dem Tambourmajor-Instinkt fertig zu werden, haben sie den Drang, sich mit den sog. Leuten mit den großen Namen zu identifizieren. Und wenn du nicht aufpasst, geben sie dir das Gefühl, sie würden jemand kennen, den sie in Wirklichkeit gar nicht kennen. Sie kennen sie gut. Sie sind bei ihnen Tee. Und sie machen mit ihnen dies und das … So etwas passiert mit Menschen.

Zum anderen veranlasst einen der Tambourmajor-Instinkt, sich in Aktivitäten zu engagieren, die letztlich nur dazu dienen, Aufmerksamkeit zu erregen. Von Kriminologen wissen wir, dass manche Menschen aufgrund dieses Tambourmajor-Instinkts in die Kriminalität getrieben werden. Sie haben das Gefühl, bei normalem Sozialverhalten nicht genügend Aufmerksamkeit zu bekommen. Und andere verlegen sich auf unsoziales Verhalten, weil sie Aufmerksamkeit bekommen und sich wichtig fühlen wollen. So beschaffen sie sich ein Gewehr. Und bevor es ihnen selbst bewusst ist, rauben sie eine Bank aus, in ihrer Suche nach Anerkennung, in ihrer Suche nach Bedeutsamkeit.

Und die entscheidende Tragik der verzerrten Persönlichkeit ist diese: wenn jemand es nicht schafft, diesen Instinkt zu zügeln, wird er am Ende versuchen, andere herunterzudrücken, um sich selbst nach oben zu drücken. Wenn ihr das tut, geht ihr einer ganz besonders verwerflichen Tätigkeit nach. Ihr werdet dann übles, bösartiges und lügnerisches Geschwätz über Leute verbreiten, denn dann versucht ihr, sie herunterzuziehen, um euch selbst nach oben zu boxen.

Eine Hauptaufgabe im Leben ist es, den Tambourmajor-Instinkt zu zügeln. Nun, das andere Problem ist: Wenn ihr den Tambourmajor-Instinkt nicht zügelt, wenn er unkontrolliert bleibt, führt er zu snobistischer Exklusivität. Darin liegt, wie ihr wisst, die Gefahr gesellschaftlicher Klubs und Verbindungen. Ich bin selber in einer Verbindung, in zweien oder dreien. Was die Studentinnen-Verbindungen und ähnliche betrifft - ich spreche nicht gegen sie. Ich sage nur: sie bergen in sich eine Gefahr. Die Gefahr ist, dass sie Kräfte der Klassengebundenheit und Exklusivität werden, die euch ein gewisses Gefühl der Befriedigung vermitteln, denn dann seid ihr in etwas Exklusivem, und das erfüllt ein Bedürfnis, wie ihr wisst. Ich bin in dieser Verbindung, sie ist die beste Verbindung der Welt, und nicht jeder kann Mitglied dieser Verbindung werden. So wird das schließlich, wie ihr wisst, zu einer exklusiven Sache.

Ihr wisst, das kann auch in der Kirche vorkommen. Ich kenne Kirchen, die manchmal in diese Zwänge geraten. Ich bin in Kirchen gewesen, wo man mir sagte: "Wir haben so viele Ärzte und so viele Lehrer und so viele Rechtsanwälte und so viele Geschäftsleute in unserer Kirche." Und das ist gut so, weil Ärzte zur Kirche gehen sollen, und Rechtsanwälte, Geschäftsleute und Lehrer - sie sollen durchaus in der Kirche sein. Aber sie sprechen das aus - und selbst mancher Gemeindepastor lässt sich darauf ein -, sie sprechen das aus, als ob die anderen Leute nicht zählen. Aber die Kirche ist der eine Ort, an dem ein Arzt vergessen sollte, dass er Arzt ist. Die Kirche ist der eine Ort, an dem jemand mit Doktortitel vergessen sollte, dass er einen Dr. hat. Die Kirche ist der eine Ort, an dem die Lehrerin vergessen sollte, welcher akademische Grad hinter ihrem Namen steht. Die Kirche ist der eine Ort, an dem der Rechtsanwalt vergessen sollte, dass er Rechtsanwalt ist. Und jede Kirche, die gegen den Grundsatz: "Wer immer es möchte - lasst ihn kommen!" verstößt, ist eine tote, kalte Kirche und nicht mehr als ein kleiner gesellschaftlicher Verein mit einem dünnen Anstrich von Religiosität.

Wenn die Kirche ihrem Wesen treu bleibt, dann sagt sie: "Wer immer es möchte - lasst ihn kommen!" Und dann macht sie es sich nicht zur Aufgabe, die verdrehten Wünsche des Tambourmajor-Instinkts zu befriedigen. Sie ist der eine Ort, an dem jeder den gleichen Rang vor einem gemeinsamen Herrn und Retter haben sollte. Und daraus folgt eine Erkenntnis, nämlich die, dass alle Menschen Brüder sind, weil sie Kinder eines gemeinsamen Vaters sind.

Der Tambourmajor-Instinkt kann zu einem Exklusivitäts-Denken führen. Er kann dazu führen, dass jemand meint, weil er eine gewisse Ausbildung hat, ein bisschen besser zu sein als jemand, der sie nicht hat. Oder weil er eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit hat, ein bisschen besser zu sein als jemand, der sie nicht hat. Darin zeigt sich die unkontrollierte, pervertierte Anwendung des Tambourmajor-Instinkts.

Eine weitere Auswirkung dieses Instinktes ist die, dass er - wir haben das so oft erlebt - zu tragischen Rassenvorurteilen führt. Viele haben über das Problem geschrieben. Lillian Smith hat es in mehreren ihrer Bücher eindrucksvoll formuliert. Sie beschrieb es in einer Weise, dass Männer wie Frauen die Ursprünge des Problems sahen. Ist euch bewusst, dass das Rassenproblem weitgehend eine Folge des Tambourmajor-Instinkts ist? Ich meine das Bedürfnis mancher Menschen, sich überlegen zu fühlen; das Bedürfnis mancher Menschen, das Gefühl zu haben, sie seien die Ersten und ihre weiße Haut habe ihnen die Weihe verliehen, die Ersten zu sein. Und sie haben es immer wieder ausgesprochen, auf verschiedene Weise, wie wir selber sehen können. Tatsächlich behauptete vor gar nicht langer Zeit ein Mann unten in Mississippi, Gott sei ein Gründungs-Mitglied des "White Citizen Council" ("Vereinigung weißer Bürger"). Und wenn Gott ein Gründungsmitglied ist, bedeutet das: Jeder, der dazu gehört, besitzt eine Art Göttlichkeit, eine Art Überlegenheit.

Und erinnert euch an das, was in der Geschichte passiert ist als Folge dieser perversen Anwendung des Tambourmajor-Instinkts. Es hat zu äußerst unheilvollem Vorurteil, zu äußerst unheilvollen Formen der Unmenschlichkeit zwischen Menschen geführt.

Ich versuche immer, ein bisschen Bekehrungsarbeit zu leisten, wenn ich im Gefängnis bin. Und als wir vor kurzem in Birmingham im Gefängnis waren, kamen alle weißen Aufseher gern zu unserer Zelle, um sich über das Rassenproblem zu unterhalten. Und sie machten uns klar, warum es so falsch von uns sei zu demonstrieren. Und sie machten uns klar, warum Rassentrennung so richtig sei. Und sie macht uns klar, warum eine Heirat zwischen Schwarzen und Weißen falsch sei. Deshalb fing ich an zu predigen, und wir kamen ins Gespräch - ganz ruhig, denn sie wollten ja mit uns darüber sprechen. Und eines Tages - es war der zweite oder dritte Tag - kamen wir schließlich an den Punkt, an dem wir uns darüber unterhielten, wo sie wohnten und was sie verdienten. Und als sie mir ihren Verdienst nannten, sagte ich: "Wisst ihr was? Ihr solltet mit uns marschieren! Ihr seid  genauso arm wie Schwarze." Und ich sagte: "Man hat euch dahin gebracht, eure Unterdrücker zu unterstützen. Wegen eurer Vorurteile und eurer Blindheit seht ihr nicht, dass dieselben Kräfte, die die Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft unterdrücken, auch die Armen unter den Weißen unterdrücken. Das einzige, wovon ihr lebt, ist die Genugtuung, eine weiße Haut zu haben, und der Tambourmajor-Instinkt, der euch denken läßt, ihr seid große Leute, weil ihr weiß seid. Dabei seid ihr so arm, dass ihr eure Kinder nicht auf Schulen schicken könnt. Ihr solltet draußen sein und mit jedem von uns mitmarschieren, jedesmal wenn wir einen Marsch veranstalten."

Nun, das ist eine Tatsache: der arme Weiße ist in diese Situation gebracht worden, in der er aufgrund von Blindheit und Vorurteilen gezwungen ist, seine Unterdrücker zu unterstützen. Und das einzige, was er für sich verbuchen kann, ist das falsche Gefühl, er sei überlegen, weil seine Haut weiß ist. Dabei hat er kaum genug zu essen, und er kommt kaum mit seinem Geld aus über all die Wochen.

Die Auswirkungen des Tambourmajor-Instinkts reichen nicht nur bis in den Kampf zwischen Rassen, sie reichen bis in den Kampf zwischen Nationen. Und deshalb möchte ich euch heute morgen zu bedenken geben: Was falsch ist in der heutigen Welt, ist die Tatsache, dass die Nationen der Welt in einen ungeheuren und bitteren Kampf um die Vorherrschaft verwickelt sind. Und wenn nicht etwas passiert, um diese Entwicklung anzuhalten, dann habe ich die schlimme Befürchtung, dass wir hier nicht mehr allzu viele Jahre haben werden, um über Jesus Christus, über Gott und über Brüderlichkeit zu reden. Wenn nicht jemand dieser selbstmörderischen Tendenz ein Ende macht, die wir in der Welt von heute beobachten können, wird es uns nicht mehr geben. Denn aufgrund unseres sinnlosen Umherirrens wird irgendeiner den Fehler begehen, eine Atombombe irgendwo fallen zu lassen, und dann wird eine weitere fallen. Und lasst euch von niemandem etwas vormachen: das kann innerhalb von Sekunden geschehen. In Russland gibt es 20-Megatonnen-Bomben, die eine Stadt wie New York in drei Sekunden zerstören können, alle Menschen und alle Gebäude. Und wir können dasselbe Russland und China antun.

Das ist genau die Richtung, in der wir treiben. Und wir treiben in die Richtung, weil ganze Nationen vom Tambourmajor-Instinkt gefangen sind. Ich muss der Erste sein. Ich muss der Höchste sein. Unsere Nation muss die Welt regieren. Und ich muss traurigerweise sagen, dass die Nation, in der wir leben, der Hauptangeklagte ist. Und ich werde das auch in Zukunft zu Amerika sagen, denn ich liebe dieses Land zu sehr, um zuzuschauen, wie es in die eingeschlagene Richtung treibt.

Gott hat Amerika nicht berufen, das zu tun, was es jetzt in der Welt tut. Gott hat Amerika nicht berufen, sich in einem sinnlosen und gerechten Krieg zu engagieren, wie dem in Vietnam. Wir sind Verbrecher in diesem Krieg. Wir haben fast mehr Kriegsverbrechen begangen als irgendeine Nation in der Welt, und ich werde das auch in Zukunft sagen. Und wir werden nicht mit dem Krieg aufhören aufgrund unseres Stolzes und unserer Arroganz.

Aber Gott kennt Wege, selbst Nationen an ihren Platz zu weisen. Gott, den ich anbete, hat eine bestimmte Weise zu sagen: "Fordere mich nicht heraus!" Er hat eine Weise zu sagen - wie der Gott Alten Testaments zu den Hebräern - "Fordere mich nicht heraus, Israel. Fordere mich nicht heraus, Babylon. Sei still und wisse, dass ich Gott bin. Und wenn du deinen rücksichtslosen Kurs nicht aufgibst, werde ich mich erheben und das Rückgrat deiner Macht brechen." Und das kann Amerika passieren. Gelegentlich greife ich zurück auf Gibbon’s "Niedergang und Zusammenbruch des Römischen Reiches". Und wenn ich mir dann Amerika ansehe, dann sage ich mir: Die Parallelen sind erschreckend.

Wir haben den Tambourmajor-Instinkt pervertiert. Doch lasst mich jetzt schnell zum Schluss kommen, denn ich möchte, dass euch wird, was Jesus wirklich sagte. Welche Antwort gab Jesus den Männern? Sie ist sehr interessant. Man hätte vermuten können, dass Jesus sagte: "Euer Wunsch ist völlig abwegig. Ihr seid selbstsüchtig. Warum stellt ihr überhaupt solch eine Frage?"

Aber das tat Jesus nicht. Er tat etwas völlig anderes. Er sagte Sinn nach: "Du willst also der erste sein. Du willst groß sein. Du willst wichtig sein. Du willst bedeutend sein. Nun, das sollst du auch. Wenn du mein Schüler sein willst, musst du das sein." Aber er ordnete Prioritäten neu. Und er sagte: "Ja, behalte diesen Instinkt. Es ist guter Instinkt, wenn du ihn richtig anwendest. Es ist ein guter Instinkt, wenn du ihn nicht verdrehst und pervertierst. Verzichte nicht auf ihn. Halte fest an dem Wunsch, wichtig zu sein. Halte fest an dem Wunsch, Erster zu sein. Aber ich möchte, dass du der Erste in Liebe bist. Ich möchte, dass du der Erste in moralischer Größe bist. Ich möchte, dass du der Erste in Großherzigkeit bist. Das erwarte ich von dir."

Er veränderte die Situation, indem er eine neue Bestimmung von Größe gab. Und ihr wisst doch, wie er das sagte? Er sagte: "Brüder, ich kann euch keine Größe verleihen. Und ich kann euch wirklich nicht zu den Ersten machen." Das sagte Jesus zu Jakobus und Johannes. Ihr müsst es verdienen. Wahre Größe entsteht nicht durch Begünstigung, sondern durch Fähigkeit. Die Plätze zu meiner Rechten und zu meiner Linken kann ich nicht vergeben, sie gehören denen, denen sie bereitet sind.

Und so gab Jesus uns einen neuen Maßstab für Größe. Wenn du wichtig sein willst - wunderbar. Wenn du anerkannt werden willst - wunderbar. Wenn du groß sein willst - wunderbar. Aber mach dir klar: Wer unter euch der Größte sein will, sei euer Diener. Das ist dein neuer Maßstab für Größe. Und was mir heute morgen daran so gefällt: diese Definition von Größe schließt ein, dass jeder groß sein kann. Denn jeder kann dienen. Du brauchst keinen akademischen Grad, um zu dienen. Du brauchst nicht die Grammatik zu beherrschen, um zu dienen. Du brauchst nichts von Plato und Aristoteles zu wissen, um zu dienen. Du brauchst nicht Einsteins Relativitätstheorie zu kennen, um zu dienen. Du brauchst nicht das 2. thermodynamische Gesetz der Physik zu kennen, um zu dienen. Du brauchst nur ein Herz voll Barmherzigkeit. Eine Seele, die von Liebe angetrieben ist. Und du kannst jener Diener sein.

Ich kenne einen Menschen, und ich möchte gern eine Minute von ihm erzählen. Ihr werdet im Laufe meiner Rede möglicherweise herausfinden, von wem ich spreche, denn er war ein großer Mensch. Er ging umher und diente. Er wurde in einem unbekannten Dorf geboren, als Kind einer armen Frau vom Lande. Und dann wuchs er in einem anderen unbekannten Dorf auf, wo er als Zimmermann arbeitete, bis er dreißig Jahre alt war. Dann machte er sich auf und zog drei Jahre als Wanderprediger umher. Und er vollbrachte einige Taten. Er besaß nicht viel. Er schrieb kein einziges Buch. Er besaß kein Haus. Er besuchte nie ein College. Er besuchte nie eine große Stadt. Er kam nie weiter als 200 Meilen von seinem Geburtsort weg. Er tat nichts von dem, was die Welt gewöhnlich mit Größe verbindet. Er hatte keine empfehlenden Zeugnisse außer sich selbst.

Er war 33, als die öffentliche Meinung sich gegen ihn richtete. Sie nannten ihn einen Volksaufwiegler. Sie nannten ihn einen Unruhestifter. Sie sagten, er sei ein Rädelsführer. Er übte zivilen Ungehorsam. Er verstieß gegen richterliche Verfügungen. Und so wurde er Feinden ausgeliefert und bekam einen Prozess, der ein Hohn war. Die größte Ironie bei alledem ist die Tatsache, dass seine Freunde ihn auslieferten. Einer seiner engsten Freunde verleugnete ihn. Ein anderer überlieferte ihn den Feinden. Und während er starb, würfelte Leute, die ihn töteten, um seine Kleidung - den einzigen Besitz, den er in der Welt hatte. Als er tot war, wurde er in einem fremden Grab begraben, dank des Mitleids eines Freundes.

Neunzehn Jahrhunderte sind gekommen und gegangen, und heute steht er da als die einflussreichste Person, die je in die menschliche Geschichte eingegangen ist. Alle Armeen, die je marschierten, alle Flotten, die je segelten, alle Parlamente, die sich je versammelten, und alle Könige, die je regierten, zusammengenommen haben auf das Leben der Menschen dieser Erde nicht eine solche Wirkung gehabt wie dieser einzelne Mensch. Sein Name mag euch vertraut sein. Aber heute höre ich, wie man von ihm spricht. Hin und wieder sagt jemand: "Er ist der König der Könige." Und ich höre jemand sagen: "Er ist der Herr der Herren." Irgendwoanders höre ich jemand sagen: "In Christus gibt es weder Ost noch West." Und sie fahren fort und sagen: "In ihm gibt es weder Nord noch Süd, sondern nur eine große Gemeinschaft der Liebe über die ganze weite Welt." Er besaß nichts. Er ging umher, dienend und Gutes tuend. Heute morgen könnt ihr an seiner rechten und seiner linken Hand sein, wenn ihr dient. Nur so kommt man dahin.

Hin und wieder, so vermute ich, denken wir alle realistisch nach über jenen Tag, an dem wir das Opfer werden jenes letzten gemeinsamen Nenners des Lebens - jenes Etwas, das wir Tod nennen. Wir alle denken darüber nach. Und hin und wieder denke auch ich an meinen Tod, und ich denke an meine Beerdigung. Ich denke daran nicht in einer krankhaften Weise. Hin und wieder frage ich mich selbst: "Was sollte - wenn es nach mir geht - dann gesagt werden?" Ich will euch heute morgen darüber Auskunft geben.

Wenn einige von euch dabei sind, wenn mein Tag kommt: ich möchte keine lange Beerdigung. Und wenn ihr jemanden die Grabrede halten lasst, sagt, sie sollen nicht zu lange reden. Hin und wieder frage mich, was sie nach meinem Wunsch sagen sollten. Sagt ihnen, sie sollen nicht erwähnen, dass ich den Friedensnobelpreis erhielt. Das ist nicht wichtig. Sagt ihnen, sie sollen nicht erwähnen, dass ich 300 oder 400 Auszeichnungen habe. Das ist nicht wichtig. Sagt ihnen, sie sollen nicht erwähnen, wo ich zur Schule ging.

Ich möchte, dass jemand an jenem Tag sagt: "Martin Luther King, Jr., versuchte mit seinem Leben anderen zu dienen." Ich möchte, dass jemand an jenem Tag sagt: "Martin Luther King versuchte, Liebe zu üben." Ich möchte, dass ihr an jenem Tag sagt, dass ich versuchte, in der Kriegsfrage auf der richtigen Seite zu stehen. Ich möchte, dass ihr an jenem Tag sagen könnt, ich versuchte die Hungrigen zu speisen. Und ich möchte, dass ihr an jenem Tag sagen könnt, ich versuchte in meinem Leben, die Nackten zu kleiden. Ich möchte, dass ihr an jenem Tag sagt, ich versuchte in meinem Leben, die im Gefängnis zu besuchen. Ich möchte, dass ihr sagt, ich versuchte, die Menschheit zu lieben und ihr zu dienen.

Ja, wenn ihr sagen wollt, dass ich wie ein Tambourmajor vorausging, dann sagt, dass ich ein Tambourmajor für Gerechtigkeit war; dass ich ein Tambourmajor für Frieden war; dass ich ein Tambourmajor für Rechtschaffenheit war. Und all die anderen unwichtigen Dinge werden keine Rolle spielen. Ich werde kein Geld hinterlassen. Ich werde keine vornehmen und luxuriösen Dinge hinterlassen. Ich möchte nur ein hingebungsvolles Leben hinterlassen.

Und das ist alles, was ich sagen möchte. Wenn ich jemand helfen kann auf meinem Weg, wenn ich jemand aufmuntern kann, mit einem Wort oder einem Lied, wenn ich jemand zeigen kann, dass er in die falsche Richtung geht, dann wird mein Leben nicht vergeblich sein. Wenn ich meine Pflicht als Christ tun kann, wenn ich Erlösung für eine einst aufgewühlte Welt bringen kann, wenn ich die Botschaft wie der Herr ausbreiten kann, dann wird mein Leben nicht vergeblich sein.

Ja, Jesus, ich möchte an deiner rechten oder linken Seite sein, nicht aus selbstsüchtigen Motiven. Ich möchte an deiner rechten oder linken Seite sein, nicht wegen eines politischen Königreiches oder aus Ehrgeiz. Nein, ich möchte dort einfach sein in Liebe und in Gerechtigkeit, in Wahrheit und in der Verpflichtung gegenüber den anderen, damit wir aus dieser alten Welt eine neue Welt schaffen können.

Quelle: (c) Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh. Diese Predigt vom 4. Februar 1968 wurde veröffentlicht in: King, Martin Luther: Testament der Hoffnung: letzte Reden, Aufsätze u. Predigten / Martin Luther King. Eingel. u. übers. von Heinrich W. Grosse. - Originalausgabe, 4. Aufl., (25.-32. Tsd.). - Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn. 1981. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Rede.

Veröffentlicht am

04. April 2017

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