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EU: Im stillen Tal

Die Geisterfahrt bei CETA ist keine Momentaufnahme. Sie bezeugt den Zustand einer Union, die schon lange über ihre Verhältnisse lebt

Von Michael Krätke

"CETA ist nicht tot!", rief die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland Anfang der Woche in Ottawa. Und Premierminister Justin Trudeau wollte den Vertrag an diesem 27. Oktober unbedingt in Brüssel unterzeichnen. Ein Scheitern nach sieben Jahren mühsamer Verhandlungen und nach erheblichen Konzessionen wollten sich die Kanadier nicht zumuten. Die Europäer noch weniger, hat sich doch die EU eine Blamage sondergleichen eingehandelt, hausgemacht und selbstverschuldet. Sie ist mit sich selbst kollidiert, schließlich wollte das vereinte Europa stets auch Bund der Regionen sein. Und ist es nun. Folglich muss hingenommen werden, dass die sozialistische Regierung einer abgehängten, ignorierten, verarmten Region wie Wallonien die ihr zuerkannte Vetomacht nutzt, um existenzielle Interessen geltend zu machen. So wie das aus anderen, vorrangig rechtlichen Gründen auch das Verfassungsgericht in Karlsruhe handhaben kann, das am 13. Oktober CETA nur unter Vorbehalt zugestimmt hat, ohne sich abschließend zur Verfassungskonformität des Vertragsinhalts zu äußern. Was noch aussteht.

Der Ruf Europas als Handelsmacht scheint gründlich ruiniert. Die USA werden sich ein vergleichbares Gezerre nicht bieten lassen. Das CETA-Debakel läutet mutmaßlich den TTIP-Abschied ein und verschafft Theresa May mehr als nur eine Ahnung davon, dass ihr EU-Ausstieg kein Selbstläufer sein wird. Bei einer zusehends heterogenen EU lässt sich auf keinen harmonischen Verhandlungsverlauf hoffen.

Mit Freihandelsoffensiven aus der Weltdepression zu kommen, das wirkt als Konzept schlüssig, ist es aber nur bedingt. Niemand kann etwas gegen fairen und freien Warenaustausch haben, schon gar nicht mit einem Land, das Europa so nahesteht wie Kanada. Niemand kann im Ernst gegen den Abbau von Zöllen sein, wenn die Partner eines solchen Agreements annähernd gleich stark sind. Niemand wird sich über die Angleichung von technischen und sonstigen Standards erregen, solange die nicht rigoros gesenkt werden, sondern merkliche Verbesserungen auf beiden Seiten auslösen. Allerdings ging es bei CETA - auch in der nachgebesserten Form - um den Versuch, der Demokratie hüben und drüben einen marktkonformen Zuschnitt zu verpassen. Ein Sonderrecht und eine Sondergerichtsbarkeit für Investoren, besonders für multinationale Unternehmen, dies geht weit über das hinaus, was ein Handelsvertrag braucht. Derlei gehört nicht in ein solches Abkommen und ist zwischen Ländern mit Rechtsstaatstradition genauso überflüssig wie ein CETA-Lenkungsausschuss, der Mitglieder ohne demokratisches Mandat vereint, aber dafür geeignet und gedacht ist, die künftige Gesetzgebung der CETA-Partner zu beeinflussen. Wenn das in einem Handelsvertrag verankert ist, wird damit mehr beabsichtigt, als Warenflüsse zu stimulieren.

Weil es diese problematischen Vertragsbestimmungen gab, musste CETA durch nationale, in föderalen Staaten regionale Parlamente abgesegnet werden. Für den eigentlichen Skandal hat dabei nicht Wallonien gesorgt. Er besteht darin, dass die Regierungen der meisten EU-Länder die neuen Privilegien für die Herren der Märkte bereits geschluckt haben. Nicht zum ersten Mal zeigt sich, dass ein "demokratisches Defizit" vor allem in den Köpfen der Damen und Herren einer politischen Klasse besteht, die ausblendet, dass in Europa Nationalismus bevorzugt deswegen grassiert, weil der als Befreiung von solcherart Fremdbestimmung empfunden wird. Weder in der Regierung Kanadas noch in der EU-Kommission scheint begriffen zu werden, dass Gleichheit vor dem Gesetz für Normalbürger wie Vorstände von Konzernen gilt. Austerität und Konkurrenz um jeden Preis - beggar thy neighbour auf Teufel komm raus, wie es die deutsche Exportwirtschaft vorexerziert - untergraben die letzten Reste europäischer Solidarität.

Das Gerangel um CETA zeigt einmal mehr, wie sehr die EU durch konstitutionelle Defizite über einen toten Punkt nicht mehr hinauskommt. Wer sich das hybride, zwischen Freihandels- und Politischer Union schwebende Gebilde anschaut, denkt sofort an die Metapher vom Fahrrad: Wenn es nicht fährt, sondern steht, fällt es um. Der Staatenbund ist zu überdehnt, um politische und soziale Kohärenz zu bewirken oder zu erhalten. Ihn beschädigt sein ungelöstes Verfassungsproblem. Wir haben es mit einer Assoziation ohne klare föderale Strukturen zu tun, mit einem völker- und staatsrechtlichen Zwitter, irgendwo zwischen Staatenunion und Unionsstaat, zwischen europäischem Bundesstaat und europäischem Staatenbund vagabundierend. Die EU-Kommission ist keine richtige Regierung, das Europäische Parlament nur ein halbes Parlament, der Europäische Gerichtshof kein hinreichend befugtes Verfassungsgericht. Wie auch, wenn dem gesamten Konstrukt keine Magna Charta, sprich: Verfassung, zugrunde liegt, mithin eine klare Kompetenzverteilung zwischen Union und Unionsstaaten fehlt. Nur ist eben das Verfassungsprojekt von 2005 bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden vor allem aus einem Grund gescheitert. Eine Mehrheit der dazu befragten Bürger hat Souveränitätsverzicht als Identitäts- und Demokratieverlust gedeutet. Mehr als ein Jahrzehnt später wurde aus diesem Gefühl ein Bewusstsein, dem die EU immer weniger entgegensetzen kann.

Quelle: der FREITAG vom 23.11.2016. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

24. November 2016

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