Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!

In Deutschland dümpelt der längst überfällige Massenprotest gegen die angemaßte neoliberale Plutokratie vor sich hin. Es fehlt schlicht an der Fähigkeit, sich eine bessere Welt vorzustellen. Ein Grund für die Kapitulation der schöpferischen Fantasie vor der "Realpolitik" ist das zu Unrecht schlechte Image von Visionen.

Von Roland Rottenfußer

Politiker - so könnte man nach Jahrzehnten zermürbender "Reformpolitik" meinen - sind Personen, die wir dafür bezahlen, dass sie Verschlechterungen für unsere Lebenssituation ersinnen und durchsetzen. Von dem Geld, was wir ihnen geben, bezahlen wir obendrein noch den Propagandaapparat, mit dessen Hilfe uns die betreffenden Verschlechterungen als Verbesserungen - oder als schicksalhafte Notwendigkeiten - verkauft werden sollen. Nach kurzem Aufbegehren, duckt sich das Volk stets aufs Neue unter die Knute vermeintlicher ökonomischer Sachzwänge: "Na gut, wie ihr wollt, Hauptsache, wir dürfen überhaupt noch ein bisschen leben und arbeiten". Natürlich - die Politiker meinen es ja nicht böse, sie können halt leider Gottes nur so viel Geld ausgeben wie sie haben, und auf rätselhafte Weise wird das immer weniger.

Dabei wäre das Geld für die wesentlichen sozialen und ökologischen Aufgaben unserer Zeit da, es ist nur - wie so oft in der Geschichte - ungerecht verteilt. Und man lässt eben lieber breite Bevölkerungsschichten verarmen oder - wie in vielen Ländern der Dritten Welt - verrecken, bevor man sich an das geheiligte Recht auf Privateigentum (das heißt auf Erträge aus Wucherzinsen) heranwagt "Es ist genug da für jedermanns Bedürfnisse", sagte Gandhi, "aber nicht für jedermanns Gier". So ist das an und für sich Hoffnung suggerierende Wort "Reform" mittlerweile bis zum Überdruss pervertiert worden. Als "Reform" definieren wir heute graduelle Verschlechterungen unserer Lebensqualität, die eine Politikerkaste über uns verhängt, um den Besitzern ohnehin großer Vermögen ein weiteres unbegrenztes Vermögenswachstum zu ermöglichen. Die "Volksvertreter" verwandeln sich mehr und mehr in "Steuerpächter", vergleichbar etwas der Figur des Zöllners Zachäus im Evangelium: Steuereintreiber im Dienst einer fremden, übernationalen Besatzungsmacht. Aufgabe dieser Zöllner ist es, den geordneten Transfer der von den Leistungsträgern erwirtschafteten Werte in die Hände weniger Bezieher leistungsloser "Einkommen" zu sichern.

Was die Raubzüge des internationalen Finanzkapitals betrifft, so fehlt es mittlerweile nicht an brillanten Analysen und herzzerreißenden Elegien. Es käme aber nicht darauf an, über die Hand, die in unsere Taschen greift, zu klagen, sondern sie zu stoppen. "Nicht das Volk sollte seine Regierung fürchten, sondern die Regierung das Volk", heißt es im Skript des Hollywood-Films "V for Vendetta" - geschaffen von den genialischen Wachowski-Geschwistern ("The Matrix"). Immer wieder haben Aufstände und Revolten in jüngerer Zeit eine Ahnung davon vermitteln können, was Politikern blühen kann, die mit beispielloser Überheblichkeit an den Bedürfnissen und am Willen der Menschen vorbei regieren. Die Occupy-Bewegung, der arabische Frühling, die Regierungsbildung in Griechenland, auch immer wieder aufflammende lokale Proteste wie jene gegen die Ermordung schwarzer Bürger durch Polizisten in den USA - diese Ereignisse zeigen ein Potenzial auf, brechen einzige Ziegelsteine aus der Mauer, die unsere Freiheit und unser Denken umschließt und lassen etwas Licht aus möglichen besseren "Zukünften" durchscheinen.

Dergleichen müssen Merkel, Gabriel & Co. von den traditionell obrigkeitstreuen Deutschen nicht befürchten. Nicht zu Unrecht dürfte deren unausgesprochenes Motto lauten: "Die haben alles, was wir ihnen bisher zugemutet haben, so widerstandslos hingenommen, dass wir problemlos draufsatteln können." Aus historischer Perspektive dürfte unser Jahrzehnt als eine Epoche charakterisiert werden, in der ein Teilbereich der Gesellschaft - die Wirtschaft - alle anderen Bereiche (z.B. Kultur und soziales Leben) massiv terrorisiert, ihnen ihre Gesetze, ihre Begriffe und ihre Denkweise aufoktroyiert hat. Künftige Generationen werden mit einer Mischung aus verächtlichem Lächeln und unglaubwürdigem Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen, wie wenig Widerstand wir gegen den offensichtlichen gefährlichen Unsinn der herrschenden marktradikalen Ideologie geleistet haben.

Woran fehlt es uns - an Mut? An Einsicht in die Faktenlage? An Energie, um das als richtig Erkannte in die Tat umzusetzen? Sicher an all dem, ich möchte aber noch einen anderen Punkt hervorheben, der mir wichtig erscheint: Der Mensch braucht Visionen wie die Luft zum Atmen. Ohne Visionen erstickt er in der geistfeindlichen Enge des Realitätsprinzips. Der Grauschleier der sogenannten Realpolitik hat sich so flächendeckend über unsere geistige Landschaft gelegt, dass wir verlernt haben, über den Ist-Zustand hinaus zu denken, zu träumen und zu wünschen. "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen", sagte der ehemalige oberste "Graue Herr" Deutschlands, Helmut Schmidt. Ich denke, umgekehrt wird ein Schuh draus: Wer keine Visionen mehr hat, ist nicht mehr ganz, nicht mehr heil, benötigt also Heilung. Wozu, frage ich, sind uns die entsprechenden Gehirnareale gegeben worden, mit denen wir uns neue, in der vordergründigen Realität (noch) nicht vorhandene Welten vorstellen können? Industriell gefertigte Fluchträume (z.B. Fantasy-Kinofilme und Videospiele) zeugen noch immer von der suggestiven Kraft des noch Ungeschaffenen. Nur hat sich die Richtung dieser Kraft gedreht - nach innen. Kreative Impulse versanden auf den gesellschaftlich unfruchtbaren Mindfuck-Spielplätzen unserer privaten Fernseh- und Computerwelten.

Wir sind nicht nur latent unzufrieden, wir haben verlernt uns auch nur vorzustellen, was uns zufriedener machen könnte. Wir haben verlernt, uns zu beklagen, wo wir uns ungerecht behandelt fühlen, aufzuschreien, wo man uns weh tut, weil jedes "Ich will mehr" von argumentativen Keulen ("Besitzstanddenken") niedergeknüppelt wird - ähnlich wie bei Charles Dickens Romanfigur Oliver Twist, wenn dieser im Armenhaus nach einem Schüsselchen Suppe mehr verlangt. Solange man uns gnädigerweise das Hemd lässt, schämen wir uns, dagegen zu protestieren, dass man uns den Rock stielt. Sicher, es gibt Weltregionen, denen es ungleich schlechter geht als uns. Aber die langsame Erosion unserer "Kaufkraft" und die dramatische Verelendung der Straßenkinder in Brasilien sind nur zwei - graduell unterschiedlich schlimme - Folgen ein und desselben ökonomischen Irrsinns, gegen den wir uns erheben müssen.

"Die Deutschen jammern zu viel", heißt es unisono in den Brainwashkampagnen, mit denen Politik, Wirtschaft und gleichgeschaltete Mainstreammedien uns überziehen. Gemeint ist natürlich: Wir sollten, anstatt zu jammern, schlucken, was uns vorgesetzt wird. Ich meine: Sogar Jammern, Sich-Beklagen kann fruchtbar sein, solange es den Beginn und nicht das Ende des Widerstands markiert. Die ganze Energie derer, die sich noch immer weigern aufzugeben, verpufft derzeit im aufreibenden Sisyphos-Kampf gegen von oben verordnete "unvermeidliche" Verschlechterungen unserer Lebenssituation. Somit besteht die letzte verbleibende Vision unserer Zeit offenbar in dem Wunsch, die Geschwindigkeit, in der sich Verschlimmerungen vollziehen, zu verlangsamen. Verständlicherweise vermag eine solchermaßen kastrierte "Vision" nicht mehr zu motivieren, geschweige denn zu begeistern. So muss der erste Appell, der an unsere deutschen Landsleute zu richten wäre, heißen: Habt den Mut, euch eurer imaginären Kraft zu bedienen. Jede bahnbrechende Innovation ist ein ehemaliges Hirngespinst, etwas, was von den "Altvorderen" anfangs als Ding der Unmöglichkeit verlacht worden ist.

Siehe ebenfalls den Artikel von Roland Rottenfußer:

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 03.07.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Roland Rottenfußer.

Veröffentlicht am

06. Juli 2015

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