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Leonardo Boff: Der Platz des Religiösen in der Welt

Von Leonardo Boff

So verweltlicht die Gesellschaft auch geworden ist und so materialistisch sie sich in mancher Hinsicht zeigt, lässt sich doch nicht leugnen, dass eine starken Rückkehr in Richtung Religiosität, Mystizismus und Esoterik zu verzeichnen ist. Die Menschen scheinen der exzessiven Rationalisierung und Funktionalisierung unserer komplexen Gesellschaft müde zu werden. Die Rückkehr zur Religiosität zeigt, dass der Mensch auf der Suche nach etwas Größerem ist. Wir würden gern die unsichtbare Seite dieser sichtbaren Welt aufdecken. Darin liegt möglicherweise ein geheimer Sinn, der unser unermüdliches Streben nach dem, was wir nicht benennen können, erfüllt. Vor diesem nicht-konfessionellen Hintergrund kann es sinnvoll sein, vom Religiösen oder dem Spirituellen zu sprechen.

Es musste schon alle Arten von Attacken über sich ergehen lassen, doch ist es ihm stets gelungen zu überleben. Die frühe Moderne sah in ihm etwas Vormodernes, ein fantastisches Wissen, das dem positiven und kritischen Wissen Platz machen müsse (Auguste Comte). Die folgende Lesart war die einer Krankheit: ein Opium, eine Entfremdung und ein falsches Bewusstsein für diejenigen, die sich selbst noch nicht gefunden haben oder, wenn sie sich gefunden hatten, sich wieder verloren haben (Karl Marx). Danach wurde es interpretiert als eine Illusion des neurotischen Geistes, der danach sucht, sein Verlangen nach Sicherheit zu befriedigen und unsere widersprüchliche Welt erträglich zu machen (Sigmund Freud). Später wurde es als eine Realität interpretiert, die aufgrund des Rationalisierungsprozesses und der Desillusionierung der Welt allmählich verschwinden würde (Max Weber). Für einige schließlich war es etwas Absurdes, da es weder belegt noch widerlegt werden kann (Karl Popper und Rudolf Carnap).

Meiner Meinung nach liegt der große Irrtum diverser Interpretationen darin, dass das Religiöse an der falschen Stelle verortet wurde, nämlich innerhalb der Vernunft. Die Gründe hierfür liegen in der Vernunft selbst. Die Vernunft an sich ist nicht vernunftbedingt. Sie ist etwas Unbekanntes. In den Upanishaden heißt es schon weise: "Das, wodurch jeder Gedanke gedacht wird, kann nicht gedacht werden." Vielleicht liegt die Wiege des Religiösen in diesem "Nicht-Gedachten", d. h. in diesen von der modernen Rationalität exorzierten Instanzen wie der Fantasie, dem Imaginären, dem Beweggrund des Verlangens, dem alle Träume und Utopien entspringen, die unsere Gedanken beschäftigen, unsere Herzen mit Enthusiasmus erfüllen und die Rakete für die großen Transformationen der Geschichte zünden. Sein Platz findet sich in dem, was der Philosoph Ernst Bloch als das Prinzip Hoffnung bezeichnete.

Es ist diesen Instanzen - Utopie, Fantasie, Imaginäres - eigen, dass sie sich nicht mit konkreten, rationalen Daten zufrieden geben. Vielmehr bestreiten sie solche Daten, die sie verdächtigen, immer nur Fakten zu sein; Daten und auch Fakten sind nicht alles, was existiert. Die Wirklichkeit ist größer als das. Zur Wirklichkeit gehört auch das Potenzial dessen, was noch nicht ist, aber einmal sein könnte. Deshalb steht Utopie nicht im Widerspruch zur Wirklichkeit; sie deckt deren Potenzial und deren ideale Dimension auf. Wie Emile Durkheim so weise am Schluss seines berühmten Buchs über "Die elementaren Formen des religiösen Lebens" sagte: "Die ideale Gesellschaft befindet sich nicht außerhalb der realen Gesellschaft; sie ist ein Teil von ihr." Und er endet mit den Worten: "Nur der Mensch besitzt die Fähigkeit, das Ideal wahrzunehmen und es der Wirklichkeit hinzuzufügen". Ich würde sagen: es inmitten der Wirklichkeit aufzudecken und sicherzustellen, dass diese Wirklichkeit, in der sich das Ideal befindet, immer größer ist als alle Daten, die uns zur Verfügung stehen.

Gerade inmitten der Erfahrung des Potenzials, der Utopie, taucht das Religiöse auf. Deshalb sagt Ruben Alves, der am gründlichsten in Brasilien das "Rätsel der Religion" (mit dem gleichnamigen Buchtitel) studierte: "Die Absicht der Religion besteht nicht darin, die Welt zu erklären. Religion entsteht gerade aus dem Protest gegen diese Welt, die sich von der Wissenschaft beschreiben und erklären lässt. Die wissenschaftliche Beschreibung heiligt die etablierte Ordnung, indem sie sich rigoros innerhalb der Grenzen der gegebenen Wirklichkeit bewegt. Im Gegensatz dazu ist die Religion die Stimme eines Bewusstseins, das sich mit der Welt, wie sie ist, nicht zufrieden geben kann und versucht, diese zu transzendieren."

Aus diesem Grund ist das Religiöse die älteste und systematischste Organisation der utopischen Dimension, die dem Menschen inhärent ist. Bloch drückte dies sehr schön aus: "Wo Religion ist, da ist Hoffnung", dass noch nicht alles verloren ist. Diese Hoffnung ist die Liebe für das, was noch nicht da ist, "Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht", wie es im Hebräerbrief (11,1) heißt, die aber das Fundament dessen sind, worauf man hofft.

Es war der Philosoph und Mathematiker Ludwig Wittgenstein, der mit Klarheit dieses einzigartige Charakteristikum des Religiösen erkannte und sagte: Der Mensch nimmt nicht nur die rationale und wissenschaftliche Haltung ein, die immer danach fragt, wie die Dinge sind, und nach einer Antwort auf alles sucht. Er hat auch die Fähigkeit zur Ekstase: "Ekstase kann nicht als Frage ausgedrückt werden; darum gibt es auf sie auch keine Antwort." Das Mystische existiert: "Das Mystische liegt nicht darin, wie die Welt ist, sondern in der Tatsache, dass sie existiert." Die Begrenztheit der Vernunft und des wissenschaftlichen Geistes hat ihren Grund darin, dass es nichts gibt, worüber sie zu schweigen hätten.

Das Religiöse und das Mystische hüllt sich letztlich in nobles Schweigen, denn es findet sich in keinem Wörterbuch ein Begriff, um es zu definieren.

Bisher haben wir über das Religiöse in seiner guten, gesunden Ausprägung gesprochen. Es kann allerdings auch krank werden, und dann entsteht die Krankheit des Fundamentalismus, des Dogmatismus und des exklusiven Wahrheitsanspruchs. Da jede Krankheit den Bezug zur Gesundheit herstellt, muss das Religiöse von seinem gesunden Standpunkt aus analysiert werden, nicht von seiner Krankheit. Folglich macht uns das gesunde Religiöse sensibler und menschlicher. Es ist heute an der Zeit, dass es zu seinem gesunden Zustand zurückkehrt, denn es hilft uns, das Unsichtbare zu lieben und das zu verwirklichen, was noch nicht ist, aber einmal sein kann.

Leonardo Boff ist Theologe und Philosoph; Mitglied der Erd-Charta Kommission

Quelle:  Traductina , 14.02.2014.

Veröffentlicht am

18. Februar 2014

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