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Wolfgang Sternstein: Pazifisten = Illusionisten?

Von Wolfgang Sternstein, Vortrag in Stuttgart-Feuerbach am 19.6.2013

Die Ansicht ist weit verbreitet, insbesondere unter Militärs und Politikern. Ich nenne sie Bellizisten im Unterschied zu den Militaristen. Militaristen sind im allgemeinen Sprachgebrauch Leute, die das Militär nicht nur für ein notweniges Übel halten, sondern eine positive Beziehung zum Militärischen haben, ja geradezu verliebt sind in alles Militärische.

Bellizisten dagegen sehen im Militär ein notwendiges Übel. Für sie steht fest, dass ein Staat sich gegen militärische Angriffe von außen oder innen verteidigen muss, weil er andernfalls Opfer von bewaffneten Angriffen wird. Er wird von anderen Staaten erobert und ausgelöscht, das Staatsgebiet annektiert, die Bevölkerung unterjocht, kolonialisiert oder vernichtet. Oder er fällt einem Staatsstreich zu Opfer, mit dem eine bewaffnete Organisation die Staatsgewalt an sich reißt. Um das zu verhindern, brauchen wir eine mit modernen Waffen ausgestattete Armee, um uns gegen derartige Angriffe zu verteidigen.

So weit, so klar. Hört man sich um unter den Leuten um, so erfährt man, dass die meisten Menschen so denken. Diese Auffassung kommt auch in dem Sprichwort zum Ausdruck: Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Oder in dem bekannten Römerspruch: Si vis pacem, para bellum. Zu deutsch: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Wer einen Blick in die Geschichtsbücher wirft, erfährt vor allem eins: Die Geschichte ist in erster Linie eine Geschichte von Krieg und Gewalt, von Machtkämpfen, Eroberungen, Unterdrückung und Ausbeutung. So hat die Menschheit viele tausend Jahre gelebt und es scheint, als könnte es auch in Zukunft so weitergehen. Das ist jedoch ein fataler Irrtum. Die fantastische Entwicklung der Produktivkräfte und der Destruktivkräfte aufgrund von Wissenschaft, Technik und Industrie, also das, was wir gewöhnlich den Fortschritt nennen, hat eine völlig neue Situation geschaffen. Beide, die Produktivkräfte wie die Destruktivkräfte, sind im Begriff, unsere Umwelt, Mitwelt und Nachwelt zu zerstören. Mit Umwelt meine ich die Natur, mit Mitwelt die zwei Drittel der Menschheit, die am und zum Teil auch unter dem Existenzminimum leben. Mit Nachwelt meine ich die kommenden Generationen, denen wir eine vergiftete und ausgeplünderte Welt hinterlassen.

Denken wir zum Beispiel an die zivile Nutzung der Atomkraft. Welch riesige Gefahren damit verbunden sind, ist durch Unfälle (Harrisburg, Tschernobyl, Fukushima), durch die radioaktive Verseuchung der Umwelt im Normalbetrieb, durch das gänzlich ungelöste und wohl auch unlösbare Problem der Entsorgung des Atommülls und schließlich die Weiterverbreitung der Atomwaffen mittlerweile hinreichend belegt. Ich kann es mir ersparen, das im Einzelnen auszuführen. Doch ist das nur ein Faktor unter vielen. Daneben gibt es die Vergiftung der Umwelt durch Chemikalien, den Raubbau an den Bodenschätzen, die Gefahren der Genmanipulation, die Überfischung der Meere, die Abholzung der tropischen Regenwälder, den Klimawandel usw. usf. Dieser Fortschritt erweist sich mehr und mehr als ein Fortschritt in die Katastrophe.

Doch damit nicht genug. Der fantastischen Steigerung der Produktivkräfte auf Kosten von Mensch und Natur entspricht eine nicht minder fantastische Steigerung der Destruktivkräfte. Wenn wir die Geschichte der Waffentechnik von der Steinzeit bis zur Gegenwart überblicken, so stellen wir fest: Die Fähigkeit des Menschen, seine Artgenossen umzubringen, hat ein Schwindel erregendes Ausmaß erreicht. Vom Faustkeil und Steinbeil des Steinzeitmenschen bis zur 50 Megatonnen-Bombe führt ein langer Weg, an dessen Ende jedoch die Selbstvernichtung der Menschheit in einem atomaren Weltkrieg stehen wird. Gut möglich, dass der Mensch durch die Freisetzung des radioaktiven Inventars der Atomanlagen damit zugleich alles höhere Leben auf der Erde mit sich in den Abgrund der Vernichtung reißt.

Kein Geringerer als Albert Einstein hat das mit geradezu hellseherischer Klarheit erkannt:
"Die entfesselte Gewalt des Atoms hat alles verändert, außer unsere Denkgewohnheiten, und wir gleiten einer Katastrophe ohnegleichen entgegen. Eine neue Art zu denken ist notwendig, wenn die Menschheit überleben will. Die Abwendung dieser Gefahr ist das dringendste Bedürfnis unserer Zeit geworden. Atomenergie kann immer nur der Zerstörung dienen."

Alle Versuche, eine undurchlässige Trennwand zwischen der militärischen und der zivilen Nutzung der Atomkraft einzuziehen, müssen als gescheitert betrachtet werden. Das hat die aktuelle Auseinandersetzung um die "iranische Bombe" hinlänglich deutlich gemacht. Doch ist damit nur einer von dutzenden schwerwiegender Mängel und Gefahren der zivilen Atomkraftnutzung benannt. Die Lösung des Problems kann daher nur die Parole sein: "Atomanlagen und Atomwaffen - gemeinsam abschaffen!" (Roland Vogt)

Natürlich erscheint uns das unvorstellbar, und weil es unser Vorstellungsvermögen übersteigt, meinen wir, es könnte sich nicht ereignen. Der Wiener Philosoph und Schriftsteller Günther Anders hat das einmal in die einprägsame Formel gefasst: Wir können uns aufgrund unserer genetischen Ausstattung nur schwer vorstellen, was wir anzustellen imstande sind. Wir leben allesamt in den Tag hinein, als würde das Leben auf der Erde in Zukunft endlos so weitergehen wie in der Vergangenheit. Aber Einstein hat Recht: "Wir gleiten einer Katastrophe ohnegleichen entgegen. Eine neue Art zu denken ist notwendig, wenn die Menschheit überleben will. Die Abwendung dieser Gefahr ist das dringendste Bedürfnis unserer Zeit geworden. Atomenergie kann immer nur der Zerstörung dienen."

Diese Feststellung fordert natürlich die Kritik der Bellizisten heraus. Sie sagen: der Kalte Krieg ist der beste Beweis dafür, dass die Politik der atomaren Abschreckung den Frieden erhält. Aufgrund der Zweitschlagskapazität weiß heute jeder Angreifer, dass er als zweiter stirbt. Das hält ihn von einem Angriff ab. Die Abschreckung wirkt folglich nicht nur dem Gegner gegenüber, sondern auch sich selbst gegenüber. Das System der wechselseitigen Abschreckung und Selbstabschreckung verhindert, dass der Kalte Krieg in einen heißen Krieg übergeht. Es garantiert sozusagen einen "Kalten Frieden". Letzten Endes führte das atomare Wettrüsten sogar zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums und zum Ende des Kalten Krieges. Voller Stolz bekennen manche Bellizisten: Wir haben es geschafft, die Sowjets tot zu rüsten.

Ein starkes Argument - so scheint es: Die Bombe als Friedensstifterin. Wenn das so ist, gebt jedem Staat und jeder Terroristenorganisation die Bombe in die Hand, dann ist der "ewige Frieden", von dem Kant träumte, erreicht! Perverser geht’s nicht. Denn die Idee der Selbstabschreckung durch die unvorstellbare Vernichtungskraft der Bombe erweist sich bei näherer Betrachtung als Wunschdenken. Sie übersieht nämlich die Gefahr eines Kriegsausbruchs aufgrund menschlichen und technischen Versagens. Sie übersieht die drohende Weiterverbreitung von Atomwaffen über die ganze Welt und die Gefahr, dass sie früher oder später in die Hände von Diktatoren und Terroristen fallen, die keine Hemmungen haben, sie auch einzusetzen. Ein Glück, dass Adolf Hitler die Bombe nicht hatte. Er hätte sie ohne Zögern eingesetzt, um in einer Wagnerschen Götterdämmerung mit ihr zusammen unterzugehen. Doch genügt am Ende wohl auch ein Kim Jong Un, ein Putin oder ein Obama, wenn sie in eine Zwangslage geraten, in der ihnen keine andere Wahl bleibt, als den Einsatz dieser Waffen anzuordnen.

Musste der Kalte Krieg unblutig zu Ende gehen? Wir neigen alle zu dieser Annahme, weil wir meinen, dass das, was geschichtliche Wirklichkeit wurde, auch so kommen musste. Doch das ist mitnichten der Fall. Wir hatten einfach Glück! Für diese Auffassung habe ich einen Zeugen, dem wohl niemand die Kompetenz für eine derartige Feststellung bestreiten wird. Ich meine den Oberkommandierenden der amerikanischen Atomstreitkräfte in den Jahren 1991-1994, General George Lee Butler. Er hielt 1999 eine Rede bei einer Veranstaltung des "Kanadischen Netzwerks für die Abschaffung von Atomwaffen", deren Kernsatz lautet: "Wir sind im Kalten Krieg dem nuklearen Holocaust nur durch eine Mischung aus Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich fürchte, das Letztgenannte hatte den größten Anteil daran."

Wenn Einstein und Butler Recht haben, dann gleiten wir einer "Katastrophe ohnegleichen entgegen. Eine neue Art zu denken ist notwendig, wenn die Menschheit überleben will". Das heißt mit einem Wort, eine radikale Umkehr ist nötig, und zwar eine Umkehr Einzelner, von Gemeinschaften, ganzen Völkern und der Menschheit insgesamt. Wie wahrscheinlich eine solche Umkehr zum Leben, eine solche "neue Art zu denken" ist, kann sich jede und jeder an den fünf Fingern abzählen. Sie ist gleich null.

Ich kehre damit die Gleichung im Titel meines Vortrags um. Statt: Sind Pazifisten Illusionisten? muss sie lauten: Bellizisten sind Illusionisten! Wer heute noch glaubt, durch Rüstung und Abschreckung Kriege verhindern zu können, wer heute noch glaubt, den Untergang der Menschheit und allen höheren Lebens auf der Erde durch atomare Abschreckung verhindern zu können, ist ein Illusionist, für den es eines nicht allzu fernen Tages ein schreckliches Erwachen geben wird.

Ich behaupte: Pazifisten sind Realisten! Dem nüchternen Blick des Wissenschaftlers erscheint die Situation aufs Ganze gesehen hoffnungslos. Es gibt keine Rettung für die Welt, denn die Kräfte, die diese Entwicklung vorantreiben, sind übermächtig. Kein Gautama Buddha, kein Sokrates, kein Jesus und kein Gandhi haben sie aufhalten können und selbst Tausende von Gandhis würde das nicht schaffen.

Müssen wir daraus den Schluss ziehen: Carpe diem. Genieße den Tag, denn morgen sind wir tot? Ich denke nicht so. Was gefordert ist, ist ja nicht nur die Umkehr der Menschheit als Ganzer, sondern die Umkehr jeder und jedes Einzelnen, wie auch die Umkehr jeder kleinen oder auch großen Gemeinschaft. Und die lohnt sich allemal.

Wir sollten erkennen, dass Gewalt als Mittel der Konfliktlösung untauglich ist. Sie hat auf der ganzen Linie versagt. Statt Gewalt abzubauen und Frieden zu ermöglichen, hat sie lediglich zu noch mehr Gewalt und Unrecht geführt. Gewalt als Mittel der Konfliktlösung ist ganz und gar untauglich, sofern es darum geht, einen Konflikt dauerhaft und im Interesse aller Beteiligten zu lösen. Gewalt ist im Endergebnis zerstörerisch und selbstzerstörerisch. Sie vergiftet unsere sozialen und politischen Beziehungen. Sie führt letztlich zu noch mehr Krieg und noch mehr Gewalt.

Auch wenn alle Welt den Römerspruch: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor, für richtig hält, so ist er doch grundfalsch. Wir bekommen stets das, was wir vorbereiten. Wer den Krieg vorbereitet, bekommt den Krieg und wer den Frieden vorbereitet, bekommt den Frieden. Wer ein paar Eier in die Pfanne schlägt, bekommt Spiegeleier und kein Schnitzel, und wer ein Stück Fleisch in die Pfanne legt, bekommt ein Schnitzel und keine Spiegeleier. So einfach ist das. Der Römerspruch müsste daher lauten: Si vis pacem, para pacem. Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor!

Aber wie macht man das? Wie bereitet man den Frieden vor? Der erste Schritt in dieser Richtung besteht darin, ehrlich zu werden im Hinblick auf unsere Ziele. Anders ausgedrückt, wir sollten aufhören, uns selbst zu belügen und zu betrügen. Es gibt nämlich einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel. Sie sind so eng verbunden, wie Same und Pflanze. Selbst im Zeitalter der Gentechnik wird es nie gelingen, aus einem Apfelkern einen Kastanienbaum oder aus einer Kastanie einen Apfelbaum zu züchten. Wer Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit erreichen, wer Demokratie und Menschenrechte verteidigen will, der kann das nur durch gewaltfreie Mittel. Wählt er gewaltsame, wird er scheitern. Wer dagegen Macht, Geld, Besitz, Ansehen und Privilegien erwerben will, kann das nur durch direkte oder indirekte Gewalt. Wählt er oder wählt sie gewaltfreie, wird er oder sie hoffnungslos scheitern.

Wer diesen schlichten Zusammenhang, der unter dem Namen Zweck-Mittel-Beziehung oder Zweck-Mittel-Relation bekannt ist, erkannt hat, dem fällt es wie Schuppen von den Augen. Er entdeckt, wie verlogen und vergiftet unser öffentliches Leben ist. Da schwafeln die Politiker von der Erhaltung der Demokratie und dem Schutz der Menschenrechte. In Wahrheit aber geht es ihnen und uns allen um die Erhaltung unserer Machtstellung in der Welt, und sei es auch auf Kosten der Umwelt, der Mitwelt und der Nachwelt. In Wahrheit geht uns um die Sicherung von Rohstoffquellen sowie den Zugang zu Märkten und Transportwegen. Mit anderen Worten, wir Deutschen als eine der größten Exportnationen sind die Profiteure des Weltwirtschaftssystems und wollen das auch bleiben, egal um welchen Preis, basta!

Können wir uns aus diesem weltweiten Netz, das uns wie das Internet umspannt, überhaupt befreien? Sind wir nicht hoffnungslos darin gefangen? Ein berühmtes Wort von Theodor Adorno lautet: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Daran ist etwas Wahres. Und doch bin ich nicht ganz so pessimistisch wie Adorno. Es gibt die Möglichkeit der Umkehr für Einzelne und für Gemeinschaften. Sie besteht darin, dass wir versuchen, einfach zu leben, damit andere leben können. Sie besteht darin, sich um gewaltfreie Konfliktlösung in unseren Alltagskonflikten zu bemühen. So trivial es auch klingt: Jede und jeder von uns hat Konflikte und diejenigen, die es gelernt haben, diese Konflikte gewaltfrei zu lösen, haben den "Stein der Weisen" gefunden. Sie werden zu Pazifisten, das heißt zu Friedensstiftern, zu Friedensmachern. Wir tragen für das Weltganze, für die große Welt nur eine ganz kleine Verantwortung, aber wir tragen eine große Verantwortung für die kleine Welt unserer sozialen Beziehungen. Es geht folglich darum, Gemeinschaften zu bilden, in denen Gewalt durch Gewaltfreiheit, Hass durch Liebe, und Konkurrenz durch Kooperation ersetzt wird, mit einem Wort, in denen Böses mit Gutem vergolten wird. Das sollte nicht nur innerhalb dieser Gemeinschaften gelten, sondern auch im Verhältnis zu ihrer sozialen und natürlichen Umwelt.

Bei Gandhi habe ich einen Text gefunden, der den zugrunde liegenden Psychomechanismus mit geradezu klassischen Worten beschreibt: "Immer und immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Gute Gutes hervorruft, das Böse aber Böses erzeugt. Wenn daher dem Ruf des Bösen kein Echo wird, so büßt es aus Mangel an Nahrung seine Kraft ein und geht zugrunde. Das Übel nährt sich nur von seinesgleichen. Weise Menschen, denen diese Tatsache klar geworden ist, vergalten daher nicht Böses mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem und brachten dadurch das Böse zu Fall. Gleichwohl lebt das Böse weiter. Denn nicht viele befolgen diese Lehre, obwohl das Gesetz, das ihr zugrunde liegt, mit wissenschaftlicher Genauigkeit arbeitet."

Wie soll das gehen, angesichts unserer Unfähigkeit zum Guten in dem Sinn, wie Gandhi es hier beschreibt? Machen Sie doch einmal den Selbstversuch mit dem von Gandhi hier beschriebenen "Gesetz". Versuchen Sie, Böses mit Gutem zu vergelten, um es auf diese Weise zu überwinden, gleichsam wieder aus der Welt zu schaffen. Vielleicht gelingt es ihnen einmal - gut! Vielleicht gelingt es Ihnen sogar zweimal in Folge - besser! Dreimal in Folge ist bereits nahezu ausgeschlossen. Das schafft kaum ein Mensch. Und doch kommt es gerade darauf an, die Fähigkeit zu erwerben, das Böse möglichst immer mit Gutem zu vergelten und dadurch zu überwinden.

Doch wie können wir diese Fähigkeit erwerben? Ich habe darauf nur eine Antwort: Durch eine lebenslange Beschäftigung mit den Schriften von Gandhi, King, den Brüdern Berrigan, Albert Schweitzer und vielen anderen und dem Bemühen, sie in die Praxis unseres Alltags zu übersetzen. Wem es gelingt, auch nur wenige Schritte auf diesem Weg zu gehen, der wird sich selbst und sein soziales Umfeld verändern. Er oder sie wird die Früchte solcher Bemühung ernten. Er oder sie wird die große Welt nicht retten, die ist verloren. Er oder sie wird jedoch die kleine Welt der persönlichen Beziehungen retten, für die sie oder er in erster Linie verantwortlich ist. Das ist allemal der Mühe wert.

Zum Schluss möchte ich noch ein Wort der Kritik und Selbstkritik anfügen. Es gibt bei den Bellizisten das Vorurteil, die Pazifisten seien Drückeberger. Sie weigerten sich zu kämpfen und ließen lieber andere für sich kämpfen. Da ist leider etwas dran, auch wenn es hie und da Ausnahmen gibt. Pazifisten sind dem Wortsinn nach Friedensstifter, Friedensmacher. Frieden stiften heißt aber: Kämpfen! Kämpfen gegen die Atomkraft, kämpfen gegen Krieg, Unrecht und Gewalt, kämpfen gegen Stuttgart 21, usw. Pazifismus bedeutet Widerstand gegen die Welt, die wir nicht wollen und Aufbau der Welt, die wir wollen. Diesen Kampfgeist für eine bessere Welt vermisse ich nicht bei allen, aber doch bei vielen Pazifisten. Der Jesuit und Pflugscharaktivist Daniel Berrigan hat diese Kritik in dem folgenden Text auf den Punkt gebracht. An diesem Maßstab sollten wir uns alle messen. Er gilt selbstverständlich auch für mich.

"Wir haben den Namen Friedensstifter angenommen, doch wir waren - aufs Ganze gesehen- nicht bereit, einen nennenswerten Preis dafür zu bezahlen. Und weil wir den Frieden mit halbem Herzen und halbem Leben wollen, geht der Krieg natürlich weiter, denn das Krieg führen ist seiner Natur nach total, doch das Frieden stiften ist aufgrund unserer Feigheit partiell. So gewinnt ein ganzer Wille, ein ganzes Herz und ein ganzes nationales Leben, auf Krieg aus, Oberhand über das kraftlose, zögernde Wollen des Friedens. In jedem nationalen Krieg seit Gründung der Republik hielten wir es für selbstverständlich, dass der Krieg die härtesten Kosten auferlegt und dass diese Kosten mit freudigem Herzen bezahlt werden sollten. Wir halten es für selbstverständlich, dass in Kriegzeiten Familien für lange Zeit getrennt, Männer eingesperrt, verwundet, in den Wahnsinn getrieben, an fremden Stränden getötet werden. Vor solchen Kriegen erklären wir ein Moratorium für jede normale menschliche Hoffnung - für Ehe, Gemeinschaft, Freundschaft, für moralisches Verhalten gegenüber Fremden und Unschuldigen. Wir werden belehrt, dass Entbehrung und Disziplin, privates Leid und öffentlicher Gehorsam unser Los sind. Und wir gehorchen. Und wir erleiden es - denn leiden müssen wir -, denn Krieg ist Krieg, und guter Krieg oder schlechter, wir haben ihn und seine Kosten auf dem Hals.

Doch was ist der Preis des Friedens? Ich denke an die guten, ehrbaren, friedliebenden Leute, die ich zu Tausenden kenne, und ich frage mich: Wie viele von ihnen leiden an der zehrenden Krankheit der Normalität, sodass, selbst wenn sie sich zum Frieden bekennen, ihre Hände in instinktivem Krampf in Richtung ihrer Angehörigen, in Richtung ihres Komforts, ihres Heims, ihrer Sicherheit, ihres Einkommens, ihrer Zukunft, ihrer Pläne greifen - des Fünfjahresplans für das Studium, des Zehnjahresplans für die berufliche Stellung, des Zwanzigjahresplans für das familiäre Wachstum und die familiäre Eintracht, des Fünfzigjahresplans für ein anständiges Berufsleben und eine ehrenvolle Entlassung in den Ruhestand. ‚Natürlich wollen wir den Frieden’, so rufen wir, ‚doch zugleich wollen wir die Normalität, zugleich wollen wir nichts verlieren, wollen wir unser Leben unversehrt erhalten, wollen wir weder Gefängnis, noch schlechten Ruf, noch die Zerreißung persönlicher Bindungen.’ Und weil wir dieses erlangen und jenes bewahren müssen, und weil der Fahrplan unserer Hoffnungen um jeden Preis - um jeden Preis - auf die Minute eingehalten werden muss, und weil es unerhört ist, dass im Namen des Friedens ein Schwert niederfahren soll, das jenes feine und kluge Gewebe das unser Leben gesponnen hat, zertrennt, weil es unerhört ist, dass gute Menschen Unrecht leiden sollen, Familien getrennt werden oder der gute Ruf dahin ist - deswegen rufen wir Friede und rufen Friede, und da ist kein Friede. Da ist kein Friede, weil da keine Friedensstifter sind. Es gibt keine Friedensstifter, weil das Frieden stiften mindestens so kostspielig ist wie das Krieg führen - mindestens so anspruchsvoll, mindestens so zerreißend, mindestens so geeignet, Schande, Kerker und Tod nach sich zu ziehen."

Dr. Wolfgang Sternstein (Stuttgart), ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Seit 1975 ist er in der Bürgerinitiativen-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv. Er hat an zahlreichen gewaltlosen Aktionen teilgenommen, stand deswegen mehr als ein Dutzend Mal vor Gericht und war neunmal für sein gewaltfreies Engagement im Gefängnis. Er ist Vorsitzender und Mitarbeiter des Instituts für Umweltwissenschaft und Lebensrechte (UWI) und unter anderem Mitglied von Lebenshaus Schwäbische Alb.

Veröffentlicht am

24. Juni 2013

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