Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Sonnenaufgänge - Momentaufnahmen vom Weltsozialforum in Tunis 2013

Von Julia Kramer (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 77 vom Juni 2013. Der gesamte Rundbrief Nr. 77 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 844 KB)

Aus aller Welt strömen sie auf den Campus der Manar-Universität in Tunis: Aktivist_innen aus Frankreich, die sich mit Flüchtlingsschicksalen auf dem Sinai beschäftigen, ein marokkanischer Gewerkschafter, der sich für Haus- und Wohnungsrechte einsetzt, ein muslimischer indischer Sozialarbeiter, eine Petrobras-Mitarbeiterin aus Brasilien, eine Feministin aus Fidschi, ein Lindwurm für Klimagerechtigkeit, Revolutionäre aus der arabischen Welt, protestierende afrikanische Flüchtlinge, neugierige Studierende,…

Die Vielfalt an Menschen, Diskursen, Erfahrungen ist überwältigend. Anarchistische, islamistische und Slogans für die Rechte Homosexueller auf derselben Betonwand. Konsenskreise, Vorträge, Demos und Tanz. Bereiche zu Klima & Umwelt, Frauen, Flucht & Migration, eine tunesische "Old Boy Group" nach dem Stil des Buena Vista Social Club" spielt unter einem Baum auf. Nach zwei Tagen habe ich Sonnenbrand und Blasen an den Füßen, so viel wandert man zwischen den Veranstaltungsorten hin und her.

Die vielen Gesichter der Arabellion

Junge Palästina-Aktivist_innen berichten von ihrer Bewegung. Sie leben in Israel, der West-Bank, Gaza und Libanon und arbeiten zusammen obwohl es fast unmöglich ist, dass sie sich auch physisch treffen. Die Palästinenser sind sehr präsent auf dem Weltsozialforum, demonstrieren und zeigen Flagge. Aber auch syrische und andere Gruppen machen lautstarke Demonstrationszüge über das Gelände. Dabei gibt es auch Auseinandersetzungen zwischen religiösen und eher säkularen Kräften.

Für mich ist das Weltsozialforum die Gelegenheit, mehr über die Bewegungen in Ländern zu erfahren, von denen man hier in Deutschland nicht viel hört.

Ein Karikaturist aus Bahrein stellt seine Werke aus, die u.a. die Formel Eins in Bahrein sowie Öl- und Waffengeschäfte mit Saudi-Arabien thematisieren. Ich sage ihm, wie leid es mir tut, dass mein Land Panzer an Saudi-Arabien verkauft, die auch gegen die Bewegung in Bahrein verwendet werden können. Er erzählt von Repressionen, aber auch davon, dass man in der Verzweiflung die Angst verliert.

Vor dem Westsahara-Infozelt Männer in weiten blauen Überwürfen. Die "Sahrawi" setzen sich als "letzte Kolonie Afrikas" für einen unabhängigen Staat ein, was von marokkanischer Seite massiv unterdrückt wird. Wie so oft geht es auch hier neben kultureller Identität und Menschenrechten um Bodenschätze.

In einer Veranstaltung zum Jemen berichtet ein junger Jemeni vor einem erschreckend kleinen Publikum von der Bewegung in seinem Land. Jemen ist nach den USA das Land mit den meisten Kleinwaffen pro Einwohner. Der Referent sagt, dass es dennoch ein fast unausgesprochener Konsens war, dass man eine Veränderung nur gewaltfrei herbeiführen könne und wolle. Dies sei auch eine Konsequenz aus negativen Erfahrungen mit gewaltsamen Aufständen zum Beispiel 2003. Die Jugend, insbesondere im Süden des Landes, sei motiviert, aber schlecht organisiert und unter schwierigen Bedingungen aktiv, zumal Infrastruktur fehlt und eine hohe Analphabetenquote herrscht. Gut funktioniere die Mobilisierung entlang von Themen, die alle betreffen, wie z.B. Wasser, Bildung und Arbeit. Als Herausforderungen sah er: Die Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer und religiöser Linien (Sufi - Wahabi); die internationale Isolation des Landes, auch was Medien angeht (die oft nur über Jemen als "Terror-Land" berichten); den Mangel an Schutz vor Menschenrechtsverletzungen für die Aktivist_innen und die Angst vor möglicher "Vereinnahmung" durch andere Golfstaaten.

Die sog. "Golf-Initiative" hatte während der Proteste 2011 ausgehandelt, dass Präsident Saleh geht, das System aber bleibt. Veränderungen gäbe es kaum. Medien aus den Golf-Staaten hatten die Proteste sogleich als US-gesteuert verunglimpft.

Der Fakt, dass nur drei Personen mit mir den Weg zu dieser Veranstaltung fanden, wirft bei mir die Frage nach der regionalen Solidarität auf. Die Bewegungen der Region scheinen sehr stark mit sich selbst und ihrem jeweiligen Kontext beschäftigt zu sein. Wenn ich daran denke, wie unterschiedlich einerseits die Kontexte sind und wie stark einen die Repression mit allem was an praktischen, gesundheitlichen, strategischen und psychologischen Faktoren dazugehört, beschäftigen kann, wundert es mich nicht. Auch interkulturelle Vorbehalte und Vorurteile untereinander sind selbst in den Bewegungen vorhanden. Dennoch finde ich es schade, dass dieses Forum so wenig zum Austausch genutzt wurde und wünsche mir nach wie vor, Räume zu schaffen, in denen ein befruchtender Austausch gerade unter diesen Akteuren stattfinden kann.

Boat People in the Making

An verschiedenen Plätzen und Gelegenheiten trifft man protestierende Flüchtlinge aus Choucha, einem Flüchtlingscamp im Süden Tunesiens. Sie haben - fast parallel zu den Flüchtlingsprotesten in Deutschland - auf der "anderen Seite des Mittelmeers" begonnen, für ihre eigenen Rechte aufzustehen. Ich führe längere Gespräche mit einigen von ihnen, aus Tschad, Äthiopien und der Elfenbeinküste. Sie hatten oft jahrelang in Libyen gelebt und dort zum Teil auch schon Arbeit gefunden. Als in Libyen die bewaffnete Revolution und schließlich die NATO-Bombardierungen begannen, hatte das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR ihnen geraten, nach Tunesien auszuweichen. Dort waren sie in Choucha gelandet, einem provisorischen Flüchtlingscamp in der Wüste. Viele wurden von dort aus von UNHCR weitervermittelt, aber die ca. 200 verbleibenden hatten keine Anerkennung erhalten und UNHCR wolle nun das Lager schließen und diese Menschen sich selbst überlassen. Sie können weder zurück noch in Choucha bleiben, noch will der tunesische Staat sie anerkennen. Ein Äthiopier beschreibt, wie die Regierungen ihrer Länder von den Kolonialisten gelernt hätten, jetzt die gleiche Unterdrückung und Ausbeutung weiterführten und die ehemaligen Kolonialmächte Europas mit diesen Regimen zusammenarbeiten und die Flüchtigen fallen lassen und wegschieben. Ein junger Mann aus Tschad sagt: "Bald beginnt wieder die Boot-Saison. Wahrscheinlich werden einige von uns versuchen, nach Europa zu kommen."

Als ich vor der Installation von "Boats4People" stehe, läuft mir das Grauen den Rücken herunter. Ein kleines Ruderboot ist aufgestellt, und ein langes Banner trägt all die Namen oder zumindest Orte der über 16.000 Menschen, die bereits an den Grenzen der Festung Europa ums Leben gekommen sind - ob während der Überfahrt, im Abschiebeknast, oder sonst wo (http://www.unitedagainstracism.org/pdfs/listofdeaths.pdf).

Einige Tage später bekomme ich eine Email des jungen Mannes aus Tschad, UNHCR hätte das Wasser in Choucha abgestellt. Ich leite die Nachricht an Menschen in der Bewegung hier weiter, aber bekomme keine Reaktion, ich fühle mich hilflos.

Tunesien: Kulturkrise, Revolution und Depression. Ist Hannibal müde?

Ortswechsel: Die berühmte Avenue Bourgiba, der "Tahrir Platz" Tunesiens, wo die großen Demonstrationen stattfanden und weiter stattfinden, ist jetzt mit Bannern geschmückt, die die Gäste des Weltsozialforums auf verschiedenen Sprachen begrüßen. Vor dem Innenministerium Stacheldraht in mehreren Lagen. Gegen Abend wird die Avenue zum "Speakers Corner"; insbesondere Männer diskutieren hier in Grüppchen über politische Themen. Jemand hat Papier und Farben ausgelegt; Menschen schreiben und malen Botschaften. Als ich meine Hochachtung für den Mut der Menschen in der Region niederschreibe, spricht mich ein Kunstprofessor an: Die Revolution habe nichts gebracht, Facebook allein sei noch kein Fortschritt, Tunesien befinde sich in einer kulturellen Krise. Ich erwidere, dass die Diktatur eine kulturelle Krise sei, die die Menschen durch die Absetzung Ben Alis begonnen hätten zu transformieren. Schließlich sind wir uns einig, dass allerdings die Revolution und die kulturelle Transformation noch längst nicht beendet sind. Ich bedaure, dass all dies im Westen kaum wahrgenommen und gewürdigt wird. Er fragt mich, warum das wohl so sei und ich erwidere, dass wohl viele nur das "Schreckgespenst Islamismus" sehen. Er sagt: "Wir haben doch genauso Angst vor diesen Männern mit den Bärten."

In der Lobby des Hotel International treffe ich Maher Khachnaoui. Er ist tunesischer Journalist und Aktivist, war von Beginn an Teil der Revolution. Das vermittelte Treffen gestaltet sich sprachlich schwierig - ich kann kaum Arabisch und Französisch, er kaum Englisch. Schließlich erklärt er mir, dass er auf Kamera die Geschichte der Revolution von Anfang bis heute erzählen werde. Er stammt aus Sidi Bouzid, wo die Revolution mit der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi begann. Als er spricht, bemühe ich mich, Fetzen zu verstehen, ansonsten interessiert zu schauen und freue mich darauf, seine engagierte Rede zuhause übersetzt zu bekommen. Vom Nebentisch ruft eine Gruppe von Gewerkschaftern/Syndikalisten immer wieder Bestätigungen. Maher zeigt mir ein Röntgenbild seiner Schulter, die durch Polizeigewalt gebrochen wurde. Eines von so vielen mutigen Schicksalen, die mich hier umgeben!

Als ich wieder auf die inzwischen nächtliche Straße trete, eine Begegnung der 7. Art: Ausgerechnet Henning Zierock von "Kultur des Friedens" aus Tübingen, schmettert da auf großer Bühne griechische Arbeiterlieder. Auch eine Art von Mut…

Am anderen Abend eine weitere "deutsche Begegnung": In einem schicken Hotel richtet die Friedrich-Ebert-Stiftung einen Empfang unter dem Motto des Weltsozialforums aus, zu dem auch SPD-Fraktionsvorsitzender Frank-Walter Steinmeier auf seinem Tunesien-Besuch spricht. Aus informierten Kreisen erfahre ich, dass er die Zivilgesellschaft Tunesiens als schwach einschätzt - verwunderlich angesichts der Tatsache, dass ebendiese Zivilgesellschaft ja gerade einen langjährigen Diktator aus dem Land gejagt hat. Während ich den tunesischen "Menschen auf der Straße" bei einer solchen Einschätzung eigener Schwäche eher ein über viele Jahre kleingehaltenes Selbstbewusstsein unterstellen würde, vermute ich bei einem politischen Vertreter eher Kalkül: Mag es eine aktuelle Strategie der deutschen Außenpolitik sein, die neuen religiös ausgerichteten Regierungen in der Region zu stärken, und welche Rolle spielt dabei deren Unterstützung von der arabischen Halbinsel, von der wir ja gleichzeitig "unser" Öl bekommen?

Auf dem Weg ans Meer fahre ich an einem zerstörten und mit Grafitti übersäten Haus der Trabelsi-Familie, der Frau von Ben Ali, in der Rue Hanibal, vorbei. Während der Proteste wurden die Häuser der Familie geplündert, aber die Häuser der umliegenden reichen Gegend nicht. Ein Grafitti sagt sinngemäß, dass Hannibal - und die Tunesier - bewiesen haben, dass das Unmögliche möglich sei.

Sonnenaufgang der Frauen der "Entwicklungsländer": DAWN

Mehr durch Zufall stolpere ich am letzten Tag des Weltsozialforums in eine Gesprächsrunde von DAWN (= Sonnenaufgang), Development Alternatives with Women for a New Era. Es handelt sich um ein feministisches Netzwerk von Frauen aus dem globalen Süden, die sich mit den Zusammenhängen von Geschlecht, ökologischer und ökonomischer Gerechtigkeit beschäftigen. Eine Kolumbianerin spricht über die "Feminisierung" der Fürsorge-Tätigkeiten in den meisten Gesellschaften, die mit einer Abwertung dieser Aufgaben einhergeht, die sich auch wirtschaftlich für die Frauen auswirkt. Gleichzeitig wird es uns praktisch verunmöglicht, die Fürsorge-Aufgaben wirklich zu erfüllen, dadurch, dass wir als Gesellschaften die Erde vergiften und Kriege führen.

Eine Frau aus Fidschi beschreibt den ExtraktivismusDer Begriff des Extraktivismus lässt sich auch mit Raubbau umschreiben, dem "Extrahieren" von Werten wie z.B. natürlicher Ressourcen, ohne dass wieder angemessene Werte in ein System zurückgeführt werden., der unsere kapitalistischen Gesellschaften bestimmt. Der Extraktivismus bezieht sich sowohl auf unsere Körper als Frauen, als auch auf unsere Umwelt, deren Teil wir sind. Als Beispiel nennt sie ein Vorhaben des Tiefseerohstoffabbaus des (u.a. militärischen) Großkonzerns Lockheed Martin mit dem kleinen Inselstaat Fidschi. Allein der Jahresumsatz von Lockheed Martin übersteigt den Fidschis um ein Vielfaches - daher ist zu erwarten, dass die Vermeidung möglicher Umweltrisiken durch das experimentelle Vorhaben nicht von dem kleinen Land vermieden werden können, zumal ein Dekret-Entwurf der Fiji International Seabed Sponsorship Authority Proteste untersagt. Die Tiefsee und ihr Leben sind noch kaum erforscht. Die Leidenschaft, der Mut und die Klarheit dieser Frauen berühren mich.

Hier spüre ich, dass es unter, hinter allen Diskursunterschieden, Kommunikations- und Solidaritätslücken, doch so etwas wie eine Stärke gibt, die in der Vielfalt und Kreativität lebt. Und trotz der offenen Frage einer gemeinsamen Vision ist das Weltsozialforum eine kraftvolle Erinnerung daran, dass die Menschlichkeit und die Menschenwürde überall zuhause ist und wir Anteil haben an der Bemühung, die Welt gerechter, friedlicher, gesünder und menschlicher zu gestalten.

Fußnoten

Veröffentlicht am

08. Juni 2013

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