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Weltpolitischer Totalschaden

Eine Forschungseinrichtung der deutschen Streitkräfte übt scharfe Kritik an der Haltung der politisch-militärischen Führung zum Krieg in Afghanistan. Aufgrund schwerwiegender "strategischer Fehler" bestehe die "Gefahr eines Scheiterns" der ISAF-Operation; dies komme einem "weltpolitischen Totalschaden" gleich, erklärt das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr in einer aktuellen Publikation. Ziel der verbalen Attacken ist insbesondere die Bundesregierung, der "Selbsttäuschung" und "Realitätsverlust" vorgeworfen werden. Gleichzeitig wird die politische Leitung und militärische Führung des Einsatzes als "hochgradig ineffektiv" charakterisiert. Nach Ansicht der Wissenschaftler ist die Transformation der Bundeswehr zur weltweit agierenden Interventions- und Besatzungsarmee "unvollständig" geblieben; es mangele an einem "ausreichend differenzierten Fähigkeitsspektrum" zur Aufstandsbekämpfung. Auch sei deren Notwendigkeit der deutschen Bevölkerung nicht hinreichend vermittelt worden. So hätten nach dem von einem deutschen Oberst angeordneten Massaker von Kunduz "Rechtfertigungsdiskurse" und eine typisch "deutsche Nabelschau" in der Öffentlichkeit dominiert.

Desaströse Konsequenzen

Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SoWi) übt in seiner soeben erschienenen "Jahresschrift 2011" scharfe Kritik an der Haltung der politisch-militärischen Führung zum Krieg in Afghanistan. Zu den Autoren der Publikation zählt unter anderem der Politiker Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen), der dem "Beirat Innere Führung" des Bundesverteidigungsministeriums angehört. Nachtwei spricht offen von "vertanen Chancen und strategischen Fehlern" und beschwört die "Gefahr eines Scheiterns" des von der NATO geführten Afghanistaneinsatzes. Ein solches Scheitern wiederum hätte laut Nachtwei "desaströse Konsequenzen" für die von den westlichen Industriestaaten konstituierte internationale Ordnung: "Es wäre ein weltpolitischer Totalschaden."Winfried Nachtwei: Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr - Von der Friedenssicherung zur Aufstandsbekämpfung. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012.

Realitätsverlust

Der Bundesregierung attestiert Nachtwei "Selbsttäuschung und Realitätsverlust". Diese führten dazu, dass die in Afghanistan "wuchernde Aufstandsbewegung" nicht "wirksam eingedämmt" werden könne. Insbesondere die öffentliche Ankündigung des für 2014 geplanten Truppenabzugs ruft seinen entschiedenen Widerspruch hervor. Eine solche Absichtserklärung führe dazu, dass "Aufständische inmitten der Bevölkerung nur (zu) warten brauchen", erklärt der grüne Spitzenpolitiker.Winfried Nachtwei: Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr - Von der Friedenssicherung zur Aufstandsbekämpfung. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012. Ganz ähnlich äußert sich auch der Militärhistoriker Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung in der "Jahresschrift" des SoWi. Um den "weiteren politischen Konsenserhalt" für den Afghanistaneinsatz zu sichern, habe die Bundesregierung "Ausschau nach Exitoptionen und -terminen" gehalten, "ohne dass die Exitkriterien hinreichend geklärt worden wären", schreibt der Wissenschaftler.Klaus Naumann: A Troubled Partnership - Zum Verhältnis von Politik und Militär im ISAF-Einsatz. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012.

Hochgradig ineffektiv

Die Militäroperationen in Afghanistan selbst bezeichnet Naumann als "hochgradig ineffektiv". Dies liegt seiner Auffassung nach daran, dass die deutschen Streitkräfte nicht über ein "ausreichend differenzierte(s) Fähigkeitsspektrum" zur Aufstandsbekämpfung verfügen; insgesamt sei die angestrebte "Transformation" der Bundeswehr in eine global agierende Interventions- und Besatzungsarmee "unvollständig" geblieben. Den Grund für die von ihm diagnostizierte Fehlentwicklung sieht der Wissenschaftler in der Unfähigkeit der politisch-militärischen Führung, den "selbst verkündeten Übergang von der Landesverteidigung zum Sicherheitsparadigma" konsequent nachzuvollziehen: "Den operativen Anpassungs- und Lernprozessen im Einsatzgebiet entsprach kein (…) politisch-strategischer Verarbeitungsprozess in der/den Zentrale(n)".Klaus Naumann: A Troubled Partnership - Zum Verhältnis von Politik und Militär im ISAF-Einsatz. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012.

Die Realität des Einsatzes

Einig sind sich die Autoren der SoWi-Jahresschrift zudem in ihrer Kritik an der Gestaltung der militärpolitischen Propaganda. Beispielhaft erscheint ihnen dabei der Umgang mit dem am 4. September 2009 von Oberst Georg Klein nahe Kunduz angeordneten Luftangriff, der 142 zivile Opfer forderte.s. dazu Die Bomben von Kunduz , Termini Technici , Die Gesetze des Krieges und Im Sinne der Soldaten . Anstatt nach dem Massaker "eigene Vorstellungen oder neue Herausforderungen (…) zur Diskussion zu stellen, dafür zu werben und gegebenenfalls zu kämpfen", hätten sich deutsche Politiker in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss "verzettelt", erklärt Klaus Naumann.Klaus Naumann: A Troubled Partnership - Zum Verhältnis von Politik und Militär im ISAF-Einsatz. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012. Ähnlich argumentiert auch Winfried Nachtwei. Ihm zufolge vermochte die Politik nach dem mörderischen Luftangriff nicht, "der Bevölkerung Sinn, Verantwortbarkeit und Realität des Einsatzes überzeugend zu vermitteln". In der Öffentlichkeit dominiert hätten vielmehr "Rechtfertigungsdiskurse" in Form einer typisch "deutsche(n) Nabelschau".Winfried Nachtwei: Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr - Von der Friedenssicherung zur Aufstandsbekämpfung. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012.

Soldatische Psychohygiene

Auch andere Autoren der SoWi-Jahresschrift äußern offen Verständnis für die Gewaltexzesse deutscher Soldaten in Afghanistan. So hätten sich diese durch ihr 2006 publik gewordenes Posieren mit menschlichen Totenschädeln lediglich ein "psychohygienisches Ventil" verschafft, erklärt etwa Herausgeber Phil C. Langer. Wie der Leiter des SoWi-Projekts für "Interkulturelle Kompetenz" weiter ausführt, handele es sich bei der "Totenschädel-Affäre" nicht um "ein zu kriminalisierendes Verhalten", sondern um das "Ausagieren eines Unbehagens" angesichts der permanenten "Präsenz von Gewalt und Tod".Phil C. Langer: Erfahrungen von "Fremdheit" als Ressource verstehen - Herausforderungen interkultureller Kompetenz im Einsatz. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012. Sinngemäß identisch argumentiert die Theologin Angelika Dörfler-Dierken, die beim SoWi für Fragen der Ethik und der "Inneren Führung" zuständig ist: "Posieren mit Symbolen der Vergänglichkeit dürfte Soldaten ihrer eigenen Lebendigkeit vergewissert haben, um deren Fragilität und Vulnerabilität sie in besonderer Weise und schon in jungen Jahren wissen."Angelika Dörfler-Dierken: Von "Krieg" und "Frieden": Zur Wahrnehmung des Afghanistaneinsatzes bei Soldatinnen und Soldaten, Politik und Kirchen. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012.

Militärische Subkultur

Gleichzeitig warnen Autoren der SoWi-Publikation vor einem durch intensive Gewalterfahrungen bedingten "Riss in der Truppe": Es bestehe die Gefahr, dass die an blutigen Kriegsoperationen wie in Afghanistan beteiligten Bundeswehrsoldaten "innerhalb der Organisation eigene subkulturelle Milieus entwickeln".Anja Seiffert: "Generation Einsatz" - Einsatzrealitäten, Selbstverständnis und Organisation. In: Anja Seiffert/Phil. C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 11, Wiesbaden 2012.

Quelle: www.german-foreign-policy.com   vom 29.02.2012.

Fußnoten

Veröffentlicht am

06. März 2012

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