Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Zum 30. Todestag von Rudi Dutschke: Radikale Leidenschaft für Menschen

Vor 30 Jahren, am 24. Dezember 1979, starb Rudi Dutschke im dänischen Aarhus im Alter von 39 Jahren. Er verkörperte die außerparlamentarische Opposition (APO) der sechziger Jahre in herausragender Weise. Rudi Dutschke starb 1979 an den Verletzungen der Kugeln, die ihm Josef Bachmann, ein aufgehetzter Rechtsextremist, 1968 in West-Berlin in den Kopf geschossen hatte.

Wir erinnern hier an Rudi Dutschke mit der Predigt, die der eng mit ihm befreundete Helmut Gollwitzer bei seiner Beerdigung gehalten hat.

Radikale Leidenschaft für Menschen

Beerdigungspredigt für Rudi Dutschke (7.3.1940 - 24.12.1979) am 3. Januar 1980 auf dem St. Annen-Friedhof in Berlin-Dahlem

Von Helmut Gollwitzer

Unser Abschiedsgottesdienst geschieht im Namen Gottes, des Vaters, von dem alles Leben kommt und zu dem alles Leben zurückgeht, - im Namen des Sohnes, Jesus Christus, der herabgestiegen ist in unsere Todeswelt, um uns zu befreien für das Leben, - im Namen des Heiligen Geistes, den wir bitten, unserem schwachen menschlichen Geiste beizustehen.

Wir sind zum Abschied von Rudi Dutschke versammelt in der St. Annen-Kirche und auf dem St. Annen-Friedhof. In dieser Kirche, der Kirche Martin Niemöllers, haben wir nach Niemöllers Verhaftung 1937 uns bis 1945 acht Jahre lang täglich vormittags und abends versammelt zur Fürbitte für Martin Niemöller und für alle Verfolgten des Nazi- Regimes. Darum ist es für uns, die in jenen Jahren dabei waren, tief bedeutsam, daß Rudi jetzt an der Seite mancher Menschen, die sich damals im Widerstand bewährt haben, sein Grab haben wird, und wir danken der Dahlemer Gemeinde, daß sie, ihrer bekennenden Tradition gemäß, ihn auf ihrem Friedhof aufgenommen hat.

Wir hören Worte des 39. Psalms (Vers 3-10. 13).

Ich bin verstummt und still und schweige fern der Freude
und muß mein Leid in mich fressen.
Mein Herz ist entbrannt in meinem Leibe;
wenn ich daran denke, brennt es wie Feuer.
So rede ich denn mit meiner Zunge:
"Herr, lehre mich doch,
daß es ein Ende mit mir haben muß
und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß.
Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir,
und mein Leben ist wie nichts vor dir.
Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben!
Sie gehen daher wie ein Schatten
und machen sich viel vergebliche Unruhe;
sie sammeln und wissen nicht, wer es einbringen wird."
Nun, Herr, wessen soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.
Errette mich aus aller meiner Sünde
und laß mich nicht den Narren zum Spott werden.
Ich will schweigen und meinen Mund nicht auftun;
denn du hast es getan…
Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien,
schweige nicht zu meinen Tränen;
denn ich bin ein Gast bei dir,
ein Fremdling wie alle meine Väter.

Liebe Freunde und Genossen von Rudi Dutschke, lieber Vater Dutschke, liebe Brüder Dutschke, lieber Hosea und liebe Polly, meine liebe Gretchen!

Wir verstummen im Tode, und wir verstummen beim Tode. Der Anblick des Toten, die Größe des Verlustes verschlägt uns die Sprache. Der Tote ist allein, und wir sind allein, und daß alles Leben zum Tode verurteilt zu sein scheint, das droht uns nichtig zu machen, was uns doch wichtig ist: dieses irdische Leben mit seinen Freuden und seinen Verantwortungen, auch diesen Kampf für das Leben, gegen seine Erniedrigung, Verkümmerung und Massentötung, diesen Kampf, in dem wir uns mit Rudi gefunden haben, in dem er uns mitgerissen hat durch seine Leidenschaft, und in dem er uns nun bitter fehlen wird.

Angesichts des Todes werden wir stumm. Es kommt darauf an, daß wir nicht auch taub werden, taub und gefühllos für die Stimmen des Klagens und die Tränen der Verlassenen, aber auch nicht taub und hoffnungslos, wenn Worte des Lebens laut werden, Worte von einer Position des Lebens aus, die dem Tode das letzte Wort bestreiten, die gegen das Nichtigwerden ankämpfen, die Auferstehung proklamieren an den Gräbern, die das Licht Gottes gegen die Nacht des Todes setzen. Solche Worte, die Worte des Evangeliums, machen uns das irdische Leben wieder wichtig und geben so auch unserem politischen Kampf für das Leben gegen die Todesmächte einen Sinn, der bis in die Ewigkeit reicht.

In der Stunde, in der Rudi vom Tod überfallen wurde, wiederholten über den ganzen Erdball hinweg unzählige Stimmen den Ruf der Gottesboten über dem Arme-Leute-Feld von Betlehem: "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden den Menschen; denn Gott meint es gut mit ihnen." Wiewirauchdieses Fest der Erscheinung des Lichtes in der Finsternis, des Lebens mitten in derTodeswelt haben verkommen lassen, wie wir es auch entleert, verkitscht, kommerzialisiert haben, immer noch durch Gottes Gnade dringt dieser Ruf zu uns, auch jetzt zu uns, die wir stumm werden am Grabe, hinein in unsere taubgewordenen Ohren und Herzen, und will uns öffnen fürs Leben, damit wir weiterleben, auch unverzagt weiterkämpfen können fürs Leben. Gott meint es gut mit uns, sagt dieser Ruf uns, die wir es so oft schlecht meinen mit unseren Mitmenschen und auch mit uns selbst, und die wir so oft meinen, in Zeit und Ewigkeit meine es niemand gut mit uns.

Es ist einer da, der es gut mit uns meint. Er, der es gut mit uns meint, hat das letzte Wort über uns und für uns, und nicht der Tod und das Nichts. Gott - das heißt auf deutsch: Der es gut mit uns meint. Gott meint es gut mit dir, liebe Gretchen, Gott meint es gut mit euch, Hosea und Polly. Mitten im Schmerz umgibt er euch mit seiner Liebe und bittet euch, ihm zu vertrauen. Er wird euch führen und weiterhelfen, immer wieder werden Menschen Werkzeuge seiner Hilfe für euch sein, und daß er euer Leben mit Rudi verbunden hat, auch das kam aus seiner Liebe.

Gott hat es gut gemeint mit Rudi. Durch den Tod hat er ihn, wie es uns allen verheißen ist, dorthin geführt, wo er mit uns allen von Angesicht zu Angesicht ihm dankt: Du hast es gut gemeint und gut gemacht, Ehre sei dir in der Höhe! Rudi hat das in seiner Jugend, in der Jungen Gemeinde, durch das Evangelium gehört, vor allem auch durch seine Mutter, und das hat ihn nie ganz verlassen, wie problematisch ihm als einem Intellektuellen unseres Jahrhunderts auch vieles von der christlichen Glaubenstradition geworden ist. Weil das Evangelium von dem Gott spricht, der es gut mit allen Menschen meint, deshalb war es ihm wichtig, daß Christentum und Sozialismus zusammengehören, ursprüngliches Christentum und ein Sozialismus, der es gut meint mit den Menschen. Am Gründonnerstag, an dem die Christenheit Jesus auf seinem Todesweg begleitet, trafen Rudi 1968 die Schüsse, die sich nun als tödlich erwiesen haben, und am vergangenen Heiligen Abend hat er kurz vor seinem Tod mit Heinz Brandt ein Telefongespräch geführt, bei dem Heinz Brandt ihm richtig sagte: "Rudi, du hast nie verlassen, wovon du ausgegangen bist, deine Anfänge bei der Jungen Gemeinde in der DDR und bei der Kriegsdienstverweigerung." Rudi bejahte das, und sie grüßten sich gegenseitig mit dem Weihnachtsgruß: "Friede auf Erden!" Jawohl, diesem Grundimpuls ist er treu geblieben, er ist in ihm zur Leidenschaft geworden. Deshalb war es bei ihm immer eine Leidenschaft für Menschen, radikal, aber nie fanatisch. Immer blieb er sich bewußt, daß Sozialismus eine Sache für die Menschen ist, daß nicht die Menschen für den Sozialismus da sind, sondern der Sozialismus für die Menschen. Dafür brannte er, eine an beiden Enden brennende und sich verzehrende Kerze. In diesen Dienst stellte er seinen wachen, offenen lernbegierigen Intellekt. Nie verschwand ihm der Mensch hinter der Sache, der einzelne hinter der Masse. Darum schrieb er an den armen Josef Bachmann tröstend ins Gefängnis. Darum überwältigte uns immer wieder der Eindruck seiner Güte, seiner Freundlichkeit, seiner Teilnahme am Schicksal anderer Menschen. Darum war er euch Kindern ein fürsorglicher Vater und uns ein so fürsorglicher Freund.

Als ob eine Fackel plötzlich entzündet und an der Kolonne vorbeigetragen wird und dann ebenso plötzlich wieder, in die Dunkelheit hineingeworfen, verlischt, so war sein Leben unter uns in diesen fünfzehn Jahren. Rudi hat seine Legende überlebt, den Mythos Dutschke, Gott sei Dank, - er wurde wieder einer unter vielen, umstritten und kritisiert, wie es sich unter uns gehört. Der Ruhm machte ihm Spaß, aber Führer zu sein, Chefideologe, Autorität, danach stand ihm nicht der Sinn. Für ihn galt, was Che Guevara in dem Abschiedsbrief an seine Eltern von sich sagt: er war "einer von denen, die ihre Haut hinhalten, um ihre Wahrheiten zu beweisen". Sein Mut kam aus seiner Selbstlosigkeit und seine Selbstlosigkeit daraus, daß er es gut meinte mit den Menschen - in der Tat ein Nachfolger dessen, der es gut meint mit uns Menschen.

Nach dem Attentat durfte er noch einmal in Fahrt kommen, dafür sind wir dankbar, und mitten aus der Fahrt wurde er uns plötzlich jetzt entrissen. So steht er in der Reihe jener Revolutionäre, die auf dieser Erde nicht alt geworden sind. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Gustav Landauer ließ man nur zehn Jahre älter werden als ihn; Georg Forster starb, wie Rudi 39-jährig, im Exil, Camillo Torres und Che Guevara fielen in seinem Alter, und wie viele, viele mit ihnen in diesen Jahrzehnten der blutigen, menschenfeindlichen Konterrevolution! Die Tränen, die um sie alle geweint wurden, sind nun auch unsere Tränen. Rudi, daß wir dich nicht mehr umarmen, nicht mehr deinen kratzigen Kuß an unserer Backe spüren, nicht mehr deine stürmischen Fragen, die persönlichen und die politischen, hören können, das will uns jetzt das Herz abdrücken. Unentbehrlich und unersetzlich - das sind Worte, die in den Briefen, die ich in diesen Tagen zu Rudis Tode bekomme, immer wieder zu lesen stehen. Das ist wahr, und dafür war mir hilfreich, Worte zu lesen, die Dietrich Bonhoeffer am Heiligen Abend 1943 in seiner Gefängniszelle draußen in Tegel niedergeschrieben hat: "Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann, man soll das auch gar nicht versuchen; man muß es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr unausgefüllt und hilft uns dadurch, unsere alte Gemeinschaft - wenn auch unter Schmerzen - zu bewahren. Ferner: je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude."

Das gilt es jetzt zu lernen, und weil das ein Lernprozeß ist, fällt es uns zunächst schwer einzustimmen: "Ehre sei Gott in der Höhe!" Wir spüren bitter den Widerspruch zwischen dem Versprechen, daß Gott es gut mit uns meint, und dem Schmerz, der uns zugefügt ist, den Widerspruch zwischen der Verheißung des Sieges des Lebens und der Wirklichkeit des Todes. "Der Tod ist notwendig eine Konterrevolution", schrieben Pariser Studenten im Mai 1968 an die Mauer der Sorbonne. Damit wir vor keiner Konterrevolution kapitulieren, damit wir weiter tätig uns zum Leben bekennen und alle Verhältnisse revolutionieren, die dem Tode dienen statt dem Leben, und damit wir uns nicht verlassen wähnen, wenn ein so guter Freund uns verläßt, bittet uns Jesus Christus, an dessen Geburtsfest Rudi in die Ewigkeit hinübergerufen worden ist, im Namen des lebendigen Gottes: "Glaubt mir, glaubt meinem Rufe des Lebens! Vertraut dem, der es in Zeit und Ewigkeit gut mit uns meint! Haltet euch an seine Nähe und Liebe! Seid nichttaubfürseine Worte! Empfangt seinen Frieden auf Erden und tut von daher und ausgerüstet von ihm, was ihr könnt, für den Frieden auf Erden!" Amen.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, Januar 1980, 41. Jahrgang, S. 3ff.

Veröffentlicht am

23. Dezember 2009

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