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Warum gibt es im 21. Jahrhundert immer noch verbreitet Hungerkatastrophen und was ist dagegen zu tun?

Fragen und Antworten der Autoren Eric Toussaint und Damien Millet zum Thema

 

Von Damien Millet/Eric Toussaint, 11.05.2008 - ZNet

Wie erklärt sich die Tatsache, dass es im 21. Jahrhundert noch immer Hungerkatastrophen gibt? Von 7 Personen auf diesem Planten hungert eine ständig.

Die Ursachen sind durchaus bekannt: die zutiefst ungerechte Verteilung von Reichtum und eine kleine Minderheit von Großgrundbesitzern, die das Monopol auf Landbesitz hält. Laut der Nahrungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAOUnited Nations Food and Agriculture Organization www.fao.org . litten 2008 963 Millionen Menschen an Hunger. Paradoxerweise leben diese Menschen zum großen Teil in ländlichen Gebieten. Die meisten sind Bauern ohne Landbesitz oder mit zu wenig Land und nicht ausreichenden Mitteln, um dieses effektiv zu kultivieren.

Was verursachte die Krise 2007/2008?

Es ist wichtig, zu betonen, dass die Zahl der Menschen, die an Hunger leiden, 2007/2008 um 140 Millionen gestiegen ist. Dieser scharfe Anstieg war eine Folge der Explosion der NahrungsmittelpreiseSiehe den Artikel von 2008: "Why a world food crisis? (yet again)’" von Eric Toussaint und Damien Millet und Eric Toussaints Artikel "Getting to the root cause of the food crisis" .. In mehreren Staaten stieg der Ladenpreis für Lebensmittel um 50% oder mehr.

Woher dieser Anstieg? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, zu verstehen, was in den letzten drei Jahren passiert ist. Nur so können Alternativen - in Form einer entsprechenden Politik - umgesetzt werden.

Einerseits verstärkten die staatlichen Behörden im Norden ihre Subventionen und Beihilfen für Agrarkraftstoffe (die oft fälschlicherweise als Biokraftstoffe bezeichnet werden, obwohl sie absolut nicht organisch sind). Plötzlich wurde es profitabel, subventionierte Anbaupflanzen durch Futterpflanzen oder einen Teil der Kornproduktion (Weizen, Mais usw.) durch eben jene Pflanzen zu ersetzen, die als Kraftstoffe dienen sollten.

Auf der anderen Seite platzte in Amerika die Immobilienblase. Dies hatte Konsequenzen für die ganze übrige Welt. Die großen Investoren (Rentenfonds, Investmentbanken, Hedgefonds usw.) verschoben den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf andere Gebiete und spekulierten in den so genannten ‘Zukunftsmarkt’. In diesem Börsenmarkt werden Verträge für die Preise künftiger Lebensmittel ausgehandelt (in den USA gibt es drei solcher Börsen - in Chicago, Kansas City und Minneapolis). Aus diesem Grund ist es dringlich geboten, dass Bürger aktiv werden, um die Spekulation auf Nahrungsmittelpreise rechtlich verbieten zu lassen. Die Spekulationen erreichten ihren Höhepunkt Mitte 2008 und gingen dann wieder zurück. Die Preise an den Zukunftsmärkten schossen in den Keller. Doch die Preise für Lebensmittel folgten diesem Trend nicht sofort. Die meisten Menschen auf der Welt verfügen über ein sehr geringes Einkommen. Sie leiden bis heute unter den dramatischen Folgen des Anstieges der Lebensmittelpreise 2007/2008. Für 2009/2010 wird weltweit mit mehreren zehntausend Entlassungen gerechnet - was die Situation zusätzlich verschärfen wird. Im April 2009 teilte die FAO den G8-Staaten mit, es sei zu erwarten, dass die Zahl der chronisch Hungernden in diesem Jahr um zwischen 75 und 100 Millionen steigen werde. Die Gesamtzahl der Hungernden wird sich damit auf mehr als 1 Milliarde erhöhen. Um dieser Situation etwas entgegenzusetzen, müssen staatliche Stellen die Nahrungsmittelpreise kontrollieren.

Noch - zumindest im Augenblick - hängt die zunehmende globale Hungersnot nicht mit dem Klimawandel zusammen, aber künftig wird auch dieser Faktor negative Auswirkungen auf die Produktion in bestimmten, vor allem subtropischen und tropischen, Weltregionen haben. Man nimmt an, dass die Produktion in den gemäßigten Zonen weniger betroffen sein wird. Die Lösung wären radikale Schritte zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. (Das Internationale Klimagremium IPPCIPCC: International Panel on Climate Change www.ipcc.ch/languages/french.htm . schlägt eine Reduzierung um 80% in den meisten Industrieländern und 20% in den übrigen Staaten vor).

Ist es möglich, den Hunger zu eliminieren?

Das ist durchaus möglich. Die grundlegende Lösung, um dieses vitale Ziel zu erreichen, wäre eine Politik, die Nahrungsmittelsouveränität und Agrarreformen schafft. Das heißt, Populationen sollten über eine lokale Produktion versorgt werden. Importe und Exporte sind zu begrenzen.

Nahrungsmittelsouveränität muss im Zentrum der politischen Entscheidungen von Regierungen stehen. Regierungen sollten ihren Schwerpunkt auf bäuerliche Familienbetriebe legen, die sich technisch auf den Anbau organischer Nahrungsmittel ausrichten. Das würde auch zu einer guten Nahrungsqualität für die Menschen führen: ohne Genpflanzen, Pestizide, Herbizide oder chemischen Dünger. Für dieses Ziel müssten 2 Milliarden Bauern ausreichend mit Land versorgt werden, auf dem sie arbeiten können. Das würde bedeuten, diese Bauern arbeiten für sich selbst und nicht mehr, um den Reichtum von Großgrundbesitzern, multinationalen Agrounternehmen und großen Lebensmittelketten zu vermehren. Staatliche Hilfen sollten bereitgestellt werden, die es den Bauern ermöglichen, ihr Land zu kultivieren, ohne es zu schädigen.

Um dies zu erreichen, braucht es Agrarreformen - sei es in Brasilien, Bolivien, Paraguay, Peru, in Asien oder bestimmten afrikanischen Staaten. Diese Agrarreformen müssten das Land neu verteilen, privaten Großgrundbesitz verbieten und öffentliche Hilfen für Bauern bereitstellen.

Es gilt zu betonen, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank einen Großteil der Verantwortung für die Nahrungsmittelkrise tragen. Diese Institutionen rieten den Regierungen des (globalen) Südens, keine Kornsilos mehr anzulegen, mit denen der heimische Markt versorgt wurde, wenn es zu Mangel oder massiven Preisanstiegen kam. Die Weltbank und die IWF regten die Regierungen des Südens zudem dazu an, nur eine geringe Zahl von öffentlichen Kreditanstalten für Bauern zu unterhalten. Das trieb die Bauern in die Hände von privaten Kreditgebern (meistens große Kaufleute) oder Privatbanken, die exorbitante Zinsen verlangen. Dadurch haben sich viele Kleinbauern in Indien, Nicaragua, Mexiko, Ägypten und in Ländern der afrikanischen Subsahara-Zone verschuldet. In Indien nahmen sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts 150.000 Bauern das Leben. Offizielle Studien belegen, dass hohe Verschuldung die Hauptursache für diese Suizide war. In Indien hatte die Weltbank die Behörden erfolgreich davon überzeugt, öffentliche Kreditanstalten für Bauern nicht aufkommen zu lassen. Damit nicht genug: In den letzten 40 Jahren zwangen Weltbank und IWF die Staaten der tropischen Regionen, den Anbau von Weizen, Reis und Mais zu reduzieren und diese Pflanzen durch Exportpflanzen zu ersetzen (Kakao, Kaffee, Tee, Bananen, Erdnüsse, Blumen usw.). Die Krönung ihrer Anstrengungen für Big Agro und die größten Kornexportnationen (USA, Kanada und Westeuropa - in dieser Reihenfolge) war, dass diese Institutionen Regierungen davon überzeugen konnten, ihre Grenzen für Lebensmittelimporte (die von den massiven Regierungssubventionen im Norden profitierten), zu öffnen. Auf diese Weise gingen im Süden viele Bauern bankrott. Der substantiell wichtige lokale Anbau von Korn ging zurück.

Zusammenfassung: Es muss Nahrungsmittelsicherheit geschaffen und Agrarreformen müssen umgesetzt werden. Die Produktion industrieller Agrarkraftstoffe muss aufgegeben und die öffentliche Subventionierung für die Produzenten dieser Pflanzen gestrichen werden. Im (globalen) Süden müssen wieder öffentliche Nahrungsmittelreserven aufgebaut werden (vor allem in Form von Reis, Weizen, Mais usw.). Öffentliche Kreditanstalten für die Bauern und zur Regulierung der Lebensmittelpreise müssen wiedereingeführt werden. Es ist sicherzustellen, dass Menschen mit geringem Einkommen Zugang zu qualitativ hochwertiger Nahrung zu niedrigen Preisen haben. Der Staat muss garantieren, dass kleine Landwirte ihre Waren zu einem Preis verkaufen können, der zu einer merklichen Verbesserung ihrer Lebenssituation beiträgt. Staaten müssen in ländlichen Gebieten öffentliche Dienstleistungen (in den Bereichen ‘Gesundheit’, ‘Bildung’, ‘Kultur’) sowie öffentliche Samen-"Banken" usw. bereitstellen. Staatliche Stellen sind durchaus in der Lage, gleichzeitig für subventionierte Lebensmittelpreise für Konsumenten und für Warenpreise, die den Kleinproduzenten ein adäquates Einkommen bieten, zu sorgen.

Ist der Kampf gegen den Hunger nicht Teil eines viel größeren Kampfes?

Man kann nicht erwarten, den Hunger wirklich zu bekämpfen, wenn man die grundlegenden Ursachen für die aktuelle Situation nicht bekämpft. Verschuldung ist eine davon. Das Theater und die Publicity um dieses Thema bei den G8- und G20-Gipfeln in den vergangenen Jahren konnten nicht verhehlen, dass es dieses Problem nach wie vor gibt. Die aktuelle globale Krise verschärft die Situation in den ‘Entwicklungsländern’. Der Süden sieht sich mit den Kosten der Verschuldung konfrontiert, während am Horizont neue Schulden drohen. Die Verschuldung hat dazu geführt, dass die Menschen des Südens - wie reich an menschlichen Ressourcen und Naturressourcen sie auch sein mögen -, insgesamt verarmen. Verschuldung ist organisierte Plünderung. Sie ist dringend zu stoppen.

Der teuflische Schuldenmechanismus ist im Grunde das Haupthindernis, wenn es darum geht, die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Zu diesen Bedürfnissen zählt auch das Recht auf anständige Nahrung. Es besteht kein Zweifel: Die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen gehen über alle anderen Erwägungen - seien es geopolitische oder finanzielle. Moralisch gesehen ist das Recht der Gläubiger, der Privatanleger und Spekulanten als gering zu bewerten, verglichen mit dem fundamentalen Recht von 6 Milliarden Menschen, die im Räderwerk der Verschuldung zerrieben werden.

Es ist unmoralisch, von Ländern, die durch eine globale Krise verarmen, für die sie in keinster Weise verantwortlich sind, zu verlangen, einen Großteil ihrer Ressourcen darauf zu verwenden, die reichen Gläubiger (ob aus dem Süden oder dem Norden) auszuzahlen, anstatt eigene, grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen. Die unmoralische Natur der Verschuldung hängt zudem oftmals damit zusammen, dass Verträge mit undemokratischen Regimen eingegangen wurden, die das Geld, das sie erhielten, nicht im Interesse ihrer Bevölkerung verwendeten, sondern den Großteil auf sich selbst. Sie taten es mit dem stillschweigenden oder aktiven Einverständnis der Staaten des Nordens, der Weltbank und des IWF. Die Kreditgeber in den meisten Industrieländern vergaben Kredite, obwohl sie sich völlig im Klaren waren, dass es sich häufig um korrupte Regime handelte. Nun verlangen sie von den Völkern dieser Länder, die unmoralischen und illegalen Schulden zurückzuzahlen.

Zusammengefasst ist zu sagen, dass Verschuldung der wesentliche Mechanismus ist, mit dem der Kolonialismus der neuen Art operiert. Leidtragende sind die Menschen. Zu diesem Mechanismus kommen die historischen Verbrechen der reichen Länder hinzu: Sklaverei, Auslöschung indigener Populationen, koloniale Fesselung, Plünderung von Rohstoffen, der Biodiversität und des Wissens der Bauern (durch die Patentierung landwirtschaftlicher Anbauprodukte des Südens, siehe Basmati-Reis) zum Profit der multinationalen Agrokonzerne des Nordens. Geplündert werden auch kulturelle Werte. Kluge Köpfe wandern ab (brain drain) usw.. Das alles geschieht im Namen der Gerechtigkeit. Es wird Zeit, diese Herrschaftslogik durch eine Logik der Neuverteilung von Reichtum zu ersetzen.

Die G8, der IWF, die Weltbank und der Paris Club stülpen uns ihre eigene Wahrheit und ihre eigene Gerechtigkeit über. Sie sind Richter und Partei zugleich. Angesichts der Krise hat die G20 die Herausforderung angenommen und den diskreditierten IWF ins Zentrum des politischen und ökonomischen Spielfeldes gestellt. Wir müssen jene Ungerechtigkeit beenden, von der die Unterdrücker, im Norden und im Süden, profitieren.

Der vorliegende Artikel wurde von Francesca Denley mit Unterstützung von Judith Harris aus dem Französischen ins Englische übersetzt.

Eric Toussaint (Doktor der Politikwissenschaften) ist Präsident des ‘Committeee for the Abolition of Third World Debt’ (Belgien) www.cadtm.org und Autor von ‘A Diagnosis of Emerging Global Crisis and Alternatives’, 2009 bei Vikas Adhyayan Kendra in Mumbai, Indien erschienen und von ‘The World Bank: A Critical Primer’, erschienen 2008 bei Pluto Press, London.

Damien Millet ist Mathematiker und Sprecher des Komitees für die Abschaffung der Schulden in der ‘Dritten Welt’, Abteilung Frankreich. Millet ist Mathematiker und Autor mehrerer Bücher zum Thema.

Toussaint und Millet haben gemeinsam den Band ‘60 Questions 60 Résponses sur la dette, le FMI et la Banque Mondial’ verfasst, der 2008 von CADTM-Syllepse, Liège-Paris, veröffentlicht wurde. Eine englische Version erscheint dieses Jahr.

 

Quelle:  ZNet Deutschland vom 12.05.2009. Originalartikel:  Why is there rampant famine in teh 21st century and how can it be eradicated? Übersetzt von: Andrea Noll. 

Fußnoten

Veröffentlicht am

13. Mai 2009

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