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Interview mit Noam Chomsky über die Nato, Afghanistan und Obamas Rolle in Israel-Palästina (Teil I)

 

Von Amy Goodman und Noam Chomsky, 04.04.2009 - Democracy Now / ZNet

Amy Goodman: Präsident Obama und die europäischen Führer trafen [gestern] in Frankreich ein, im Voraus eines Schlüsseltreffens der NATO, um das 60. Bestehen der Allianz zu feiern. Obama wird heute ebenfalls Deutschland besuchen, welches das Gastland des NATO-Gipfels ist.

Die französische Stadt Straßburg steht unter Sicherheitsverschluss, mit 25.000 patrouillierenden Polizisten - nach einem Tag der Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Aufruhrpolizei. Dreihundert Menschen waren festgenommen worden, und ein deutscher Pressefotograf musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, nachdem er von einem Gummigeschoss der Polizei in den Bauch getroffen wurde. Zehntausende Demonstranten sind in Richtung Straßburg und die deutschen Städte Kehl und Baden-Baden gezogen, um gegen den Gipfel zu demonstrieren. Frankreich hat zusammen mit Deutschland vorübergehend die Grenzkontrolle wiedereingeführt, um den Zugang von Demonstranten zu begrenzen.

Der Themenfokus des Gipfels wird Afghanistan sein, wo 70.000 Truppen, hauptsächlich unter NATO-Kommando, im Krieg eingesetzt werden. Präsident Obama wird die Gespräche nutzen, um Unterstützung für seine Eskalation des Krieges zu bekommen. Obama hat zusätzliche 21.000 US-amerikanische Truppen nach Afghanistan entsandt und erwägt die Entsendung von weiteren 10.000.

Währenddessen markierten militante Taliban in Pakistan den Beginn des zweitägigen Gipfels, indem sie eine Gruppe von neun geparkten NATO-Fahrzeugen, die im Transit nach Afghanistan waren, zerstörten.

Letzte Woche verteidigte Präsident Obama seine Entscheidung, mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken.

Präsident Barak Obama: Die Welt kann sich den Preis nicht leisten, der fällig wird, wenn Afghanistan wieder zurück ins Chaos abgleitet oder Al-Qaida unkontrolliert weiteroperiert. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, zu handeln - nicht, weil wir Macht um ihrer selbst willen projizieren wollen, sondern weil unser eigener Frieden und unsere Sicherheit davon abhängen. Und was diesmal auf dem Spiel steht, ist nicht nur unsere eigene Sicherheit; es ist die grundlegende Idee, dass freie Nationen für unsere gemeinsame Sicherheit zusammenkommen können.

Amy Goodman: Zum Thema Afghanistan, NATO und die Situation der US-amerikanischen Wirtschaft und der militärischen Macht in der Welt heute, treffen wir den wohl scharfsinnigsten und wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit: Noam Chomsky - Linguist, Philosoph, Gesellschaftskritiker, politischer Kritiker.

Noam Chomsky ist ein höchst produktiver Autor und Professor im Ruhestand des MIT, des Massachusetts Institute of Technology, nur wenige Schritte von hier entfernt, wo er seit über einem halben Jahrhundert lehrte. Zu seinem umfangreichen Werk zählen: "Rogue States: The Rule of Force in World Affairs", "The New Military Humanism: Lessons from Kosovo", "Fateful Triangle: The United States, Israel, and the Palestinians", "Manufacturing Consent", "Necessary Illusions: Thought Control in Democratic Societies" und "Failed States: The Abuse of Power and the Assault on Democracy". Einen sehr guten Überblick über die auf Deutsch erschienenen Bücher/Werke Noam Chomskys bietet Wikipedia und das ZNet-Chomsky-Archiv sowie das Lebenshaus-Archiv .

Eine umfangreiche Sammlung seiner Arbeiten wurden gerade von Anthony Arnove, unter dem Titel "The essential Chomsky", herausgegeben.

Noam Chomsky, herzlich Willkommen zu Democracy Now!

Noam Chomsky: Ich freue mich, bei Ihnen zu sein.

Es freut mich ebenso, Sie hier im Massachusetts-Studio zu haben anstatt am Telefon, zu Hause, anzurufen.

Noam Chomsky: Ja.

60 Jahre NATO

Amy Goodman: Lassen Sie uns beginnen mit dem, was auf dem NATO-Gipfel passiert, der den 60. Jahrestag des Bestehens der NATO feiert, Frankreich hat sich nach 40 Jahren wieder dazugesellt. Ihre Analyse?

Noam Chomsky: Nun, die offensichtliche Frage ist, warum schert man sich überhaupt darum, die NATO zu feiern? Noch deutlicher ausgedrückt, warum gibt es sie? Es sind fast zwanzig Jahre her - fast - seit dem Fall der Berliner Mauer. Der Grund für die Gründung der Nato war, man mag es glauben oder nicht, dass man das westliche Europa gegen einen Angriff der Russen verteidigen wollte. Als die Mauer fiel und die Sowjetunion begann zusammenzufallen, war der Grund nicht mehr da. Daher lautet die erste Frage: Warum existiert die NATO?

Sicher sind die Antworten interessant. Michail Gorbatschow machte ein - zugegeben, er machte den USA zu dieser Zeit ein außergewöhnliches Zugeständnis. Die NATO wird hauptsächlich von den Vereinigten Staaten geführt. Er gestand der NATO zu, ein wiedervereinigtes Deutschland aufzunehmen, einer feindlichen militärischen Allianz also (gestand er es zu).

Amy Goodman: Ich werde Sie für eine Minute unterbrechen, Noam, weil das Mikrofon sehr statisch aufgeladen ist, und wir wollen das beheben. Wir machen deswegen eine kleine Musikpause, und dann kommen wir auf Sie zurück. Wir sprechen mit Noam Chomsky. Bleiben Sie bitte dran.

[Unterbrechung]

Amy Goodman: Aber, Noam, wie Sie gerade sagten, haben Sie bei MIT die gleichen technischen Schwierigkeiten, am Massachusetts Institute of Technology also.

Noam Chomsky: Ja, an dem führenden technologischen Institut der Welt. Zur akademischen Abschlussfeier bricht die Lautsprecheranlage fast zwangsläufig zusammen. So ist uns das sehr vertraut.

Amy Goodman: Können Sie kurz zusammenfassen, was Sie gerade gesagt haben, falls die Leute Probleme hatten, Sie zu verstehen, wegen der Statik.

Noam Chomsky: Sicher. Ich denke, die erste Frage zur Nato ist, warum existiert sie überhaupt? Wir begehen demnächst das zwanzigste Jubiläum des Mauerfalls, der Wiedervereinigung Deutschlands und der ersten Schritte, die zum Kollaps der Sowjetunion führten. Der angebliche Grund für die Existenz der NATO war, den Westen gegen russische Angriffe zu schützen. Man kann glauben, was man will, bezüglich dieses Grundes, aber es war der Grund. Im Jahre 1989 fiel dieser Grund weg. Daher stellt sich die Frage, warum existiert die NATO?

Sicher, diese Frage ist aufgekommen. Michail Gorbatschow hat zu dieser Zeit den USA, die die NATO führten, angeboten, dass das wiedervereinte Deutschland der NATO beitreten darf, einer feindlichen militärischen Allianz also, die gegen die Sowjetunion gerichtet war. Das ist ein höchst bemerkenswertes Entgegenkommen. Wenn Sie zurückblicken auf die Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts, so hatte allein Deutschland Russland praktisch mehrmals zerstört. Und jetzt bot Gorbatschow also einem wiedervereinigten, militarisierten Deutschland an, einem feindlichen militärischen Bündnis beizutreten, das durch die größte Militärmacht gestützt wurde.

Sicher gab es eine Gegenleistung (quid pro quo). George Bush, der Erste, war damals Präsident; James Baker Außenminister. Und Sie vereinbarten, in ihren eigenen Worten, dass die NATO nicht einen Inch nach Osten erweitert werden würde - um Russland zumindest einen gewissen Raum zum Atmen zu lassen. Darüber hinaus schlug Gorbatschow eine atomwaffenfreie Zone von der Arktis bis zum Mittelmeer vor, die wiederum einigen Schutz gewährt und in der Tat zur Friedenssicherung beigetragen hätte. Auch dies wurde abgelehnt. Ich glaube nicht einmal, dass eine Antwort darauf erfolgte. So standen die Dinge im Jahre 1989/1990.

Dann wurde Bill Clinton gewählt. Eine seiner ersten Handlungen war es, das Versprechen zu brechen und die NATO nach Osten zu erweitern, was natürlich eine Bedrohung für die russische Sicherheit ist. Nun, der Vorwand, der angegeben wurde, z. B. durch seinen - Strobe Talbott, der Staatssekretär für Osteuropa war, lautete, es sei notwendig, die ehemaligen Satellitenstaaten (Russlands) in die Europäische Union einzubinden. Aber so ist es nicht. Es gibt Staaten innerhalb der Europäischen Union, die nicht Teil der NATO sind: Österreich, wie Sie wissen, oder Finnland und Schweden. Irrelevant also. Es war eine Bedrohung, und Russland reagierte natürlich auf die feindliche Bedrohung. Es erhöhte die Spannungen.

Dies setzt sich fort bis zum heutigen Tage. Präsident Obamas Nationaler Sicherheitsberater, James Jones, ist ein starker Verfechter der Ansicht, dass die NATO nach Osten und Süden erweitert werden sollte, und dass sie praktisch…. nach Osten und Süden bedeutet, die energieproduzierenden Regionen kontrollieren. Der Chef der NATO, der niederländische NATO-Generalsekretär de Hoop Scheffer, hat vorgeschlagen und vertritt, die NATO solle die Sicherung der Energiezufuhr zum Westen - Pipelines, Wasserwege, usw. - sicherstellen.

Kommen wir zu Afghanistan, das wegen seiner Lage - genau in der Mitte - eine wichtige geostrategische Bedeutung hatte und heute mehr denn je hat. Aufgrund seiner Lage, in Hinblick auf die energieproduzierenden Regionen in der Golfregion und in Zentralasien, ist die Bedeutung Afghanistans heute größer denn je zuvor. Also, ja, das ist es, was wir gerade sehen.

Tatsächlich gibt es aber noch mehr über die NATO zu sagen und darüber, warum sie existiert. Wir könnten, sagen wir mal, zehn Jahre zurückblicken - zum 50. Geburtstag der NATO. Also, der 50. Geburtstag der NATO war eine düstere Angelegenheit. Genau zu dieser Zeit bombardierte die NATO Serbien - illegal, wie alle (mittlerweile) einräumen. Damals wurde behauptet, es sei aus humanitären Gründen notwendig. Während des NATO-Gipfels (vor 10 Jahren) wurde viel darüber lamentiert, dass wir Gräueltaten so nahe an Europa nicht tolerieren könnten.

Eine interessante Aussage, da die NATO zur gleichen Zeit massive Gräueltaten direkt innerhalb der NATO unterstützte. So führte beispielweise die Türkei, mit massiver Unterstützung der USA, in großem Maßstab Gräuel gegen ihre kurdische Bevölkerung durch, die weitaus schlimmer waren als alles, was über den Kosovo berichtet wurde. Und genau zu dieser Zeit ging in Osttimor das Dili-Massaker weiter - Sie werden sich nicht selbst beweihräuchern wollen, also, wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich es tun: Sie (Amy Goodman) und Allan [Nairn] haben das Massaker heldenhaft aufgedeckt. Anfang 1999 nahmen die Massaker (in Ost-Timor) - mit starker Unterstützung der USA - wieder zu. Auch diesmal ging es weit über alles hinaus, was andererseits über den Kosovo berichtet wurde. Und dafür verantwortlich waren die USA und Großbritannien, der Kern der NATO also.

Tatsächlich wurde genau zur selben Zeit Dennis Blair, der heute dem inneren Zirkel von Präsident Obamas Nationalem Sicherheitsrat angehört, nach Indonesien geschickt - theoretisch ging es um den Versuch, die Indonesische Armee dazu zu bringen, die zunehmenden Gräuel zu beenden. Doch er hat sie unterstützt. Er traf sich mit dem wichtigsten indonesischen General, General Wiranto, und sagte im Wesentlichen: "Macht weiter" (go ahead). Und genau das taten sie auch.

In der Tat hätten die Gräuel jederzeit gestoppt werden können. Gezeigt hat sich das im September 1999, als Bill Clinton, unter enormem innen- und außenpolitischem Druck geraten, endlich beschloss, dem ein Ende zu bereiten. Er musste dafür nicht erst Jakarta bombardieren. Er musste dafür auch kein Embargo durchsetzen. Er sagte den indonesischen Generälen einfach, das Spiel ist aus - und sie zogen sich sofort zurück. Als große humanitäre Intervention ging dies in die Geschichte ein. Allerdings ist es nicht die wahre Geschichte. Bis zu diesem Zeitpunkt (bis zuletzt) hatten die USA die Gräueltaten weiter unterstützt. Großbritannien, unter dem Einfluss seiner neuen "moralischen Außenpolitik", hatte den Zug verpasst und unterstützte sie sogar noch, nachdem die von Australien geführten UNO-Friedenstruppen im Land (Indonesien) ankamen. Nun, das also war die NATO vor zehn Jahren.

Und dabei sind wir noch nicht einmal auf die Vorwürfe zum Thema Serbien eingegangen. Diese sollten uns ebenfalls einige Worte wert sein. Wir wissen, was in Serbien passierte. Es gibt massive… Kosovo. Es gibt umfangreiche Unterlagen des US-Außenministeriums, der NATO und von Beobachtern der Europäischen Union, die vor Ort waren. Ein gewisses Maß an Gräueln, verteilt sozusagen auf die Guerilla (z.B. UCK - Anmerkung d. Übersetzerin) und die Serben fand statt. Allerdings ging man davon aus, dass das NATO-Bombardement zu einer radikalen Steigerung der Gräuel führen würde. Und genau das trat ein. Wenn man sich die Anschuldigungen gegen Milosevic zur Zeit des Bombardements vergegenwärtigt, wurden alle Gräueltaten, fast ausschließlich, mit einer Ausnahme, nach dem NATO-Bombardement begangen. Sie hatten das erwartet. US-General Clark, der kommandierende General, hatte Washington schon Wochen zuvor darüber informiert, ja, die Konsequenzen würden so aussehen. Und er informierte die Presse darüber - als das Bombardement begann. So sah die humanitäre Intervention aus. Gleichzeitig unterstützte die NATO noch schlimmere Gräuel, direkt innerhalb der NATO, in Ost-Timor und in anderen Fällen. Das war die NATO vor zehn Jahren.

Allmählich wird uns aus diesen Sachverhalten klar, weshalb die NATO existiert. Existiert sie, um Europa vor einem Angriff zu schützen? In der Tat benutzt man heute diesen Vorwand. Als Präsident Bush beispielsweise Abwehrraketensysteme in Osteuropa installierte - begann, sie zu installieren -, lautete die Behauptung in diesem Zusammenhang: Es geht darum, Europa gegen Angriffe iranischer Raketen, die mit atomaren Gefechtsköpfen ausgerüstet sind, zu schützen. Die Tatsache, dass sie (die Iraner) überhaupt keine besitzen, interessiert nicht. Und die Tatsache dass, wenn sie welche hätten, es völlig verrückt wäre, auch nur eine einzige zu bestücken, weil das Land dann innerhalb von 30 Sekunden vaporisiert würde, zählt nicht. Es geht (bei den geplanten Abwehrsystemen in Osteuropa) um eine weitere Drohung gegen Russland, genau wie damals Clintons Osterweiterung der NATO.

Amy Goodman: Frankreichs Beitritt?

Noam Chomsky: Wie?

Amy Goodman: Frankreichs Beitritt, bzw. Wiederbeitritt?

Noam Chomsky: Frankreichs Beitritt ist sehr interessant. Frankreich vertrat die von General de Gaulle initiierte Politik, Europa in eine "dritte Kraft", wie sie es damals nannten, zu verwandeln. Europa sollte unabhängig sein von den beiden Supermächten. Europa sollte also einen unabhängigen Kurs verfolgen. Er sprach von einem Europa vom Atlantik bis zum Ural. Darin bestand eine große Befürchtung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg: Europa könnte, nach dem Wiederaufbau, nach außen drängen. Das war möglich. Seine Wirtschaft ist auf demselben Stand wie die der Vereinigten Saaten. Es hätte keinen Grund gegeben - abgesehen von der militärischen Stärke. Ansonsten ist Europa mit den USA vergleichbar. Es hätte also ein Schritt in Richtung eines friedlichen, von den Supermächten unabhängigen Europa werden können. Tatsächlich bestand ein großer Teil des Zwecks der NATO darin, genau das zu verhindern und sicherzustellen dass Europa unter dem US-Schirm und unter US-Kontrolle bleibt.

Frankreich hat seine Haltung nun aufgegeben und sich erneut einem Bündnis angeschlossen, das heute eine reine Interventionsarmee ist - eine internationale Interventionsarmee, genauso wie James Jones, de Hoop Scheffler und andere es beschrieben haben. Es ist eine internationale Interventionsarmee unter US-Kommando. Warum sollte sie (die NATO) sonst existieren?

Wenn man auf die Jahre 1989 und 1990 zurückblickt, ist es sehr interessant, zu sehen, wie die Vereinigten Staaten auf den Zusammenbruch der Sowjetunion reagierten. Direkt nach dem Fall der Berliner Mauer, vor zwanzig Jahren, welche das Ende der Sowjetunion signalisierte, veröffentlichte die US-Administration unter Bush I umgehend eine Nationale Sicherheitsstrategie, ein Militärbudget und so weiter, die sehr interessant zu lesen sind. Zusammengefasst steht dort im Grunde, dass eigentlich alles ganz genauso weitergeht wie bisher - nur die vorgeschobenen Gründe sind neue. Was wir jetzt brauchen, ist ein riesiges militärisches Establishment und Militärbudget, nicht mehr um uns selbst vor den Russen zu schützen, die gerade kollabieren, sondern, so wortwörtlich, wegen des technologischen Fortschritts von Dritteweltmächten. Dies wurde ohne jeglichen Spott bekannt gegeben. Also wenn uns jemand vom Mars zugeguckt hätte, wäre er oder sie vor Lachen zusammengebrochen. Wegen des technischen Fortschritts der Dritteweltmächte müssen wir also unser riesiges Militärbudget beibehalten und unsere Interventionsstreitkräfte, die auf den Nahen/Mittleren Osten, dem Hauptziel unserer Interventionen, gerichtet sind. Warum? Nicht wegen der Russen, wie früher behauptet wurde. Nein, sie sagten, wir müssten unsere Interventionskräfte auf den Nahen/Mittleren Osten ausrichten, denn dort können wir unsere Probleme nicht vor der Tür des Kremls abladen. Mit anderen Worten sagten sie uns also: Wir haben euch 50 Jahre lang belogen, aber nun lichten sich die Wolken, und wir brauchen Interventionsstreitkräfte für den Nahen/Mittleren Osten, weil wir ihn kontrollieren müssen. Sie sagten, sie müssten jene Sache aufrechterhalten, die sie als "verteidigungsindustrielle Basis" bezeichnen. Das ist ein Euphemismus für die High-Tech-Industrie, die der Grund ist, warum wir Dinge wie Computer und das Internet haben. Es handelt sich um den großen staatlichen Sektor der High-Tech-Wirtschaft. Wir müssen ihn behalten - Sie wissen schon, wegen der großen (militärischen) Bedrohung durch die ‘Dritte Welt’. In anderen Worten, alles bleibt so, wie es ist, nur der Vorwand änderte sich. Das wurde ohne einen Mucks hingenommen.

Afghanistan

Amy Goodman: Noam Chomsky, Ich würde gerne zu Afghanistan kommen. Das ist zur Zeit das Hauptthema der NATO. Es gibt eine Debatte um die Frage, ob der Krieg in Afghanistan ausgeweitet werden sollte. In den Vereinigten Staaten ist Präsident Obamas Initiative nicht das Hauptthema der Debatte - also, ob wir (den Krieg) ausweiten sollen oder nicht. Wie denken Sie darüber?

Noam Chomsky: Das ist interessant. Diese Frage wird in den Vereinigten Staaten direkt in der Mitte des Establishments diskutiert. Foreign Affairs http://www.pacificcouncil.org/pdfs/RubinRashidFORREIGN%20AFFAIRSfinal.pdf ., das wichtigste Organ des politischen Establishments, hatte einen interessanten Artikel, ich glaube, vor sechs Monaten, von zwei der führenden Spezialisten für Afghanistan: Barnett Rubin und Ahmed Rashid. Ihre Hauptaussage darin lautete, die Vereinigten Staaten sollten die Auffassung aufgeben, dass ein militärischer Sieg die Antwort auf Alles wäre.

Die USA sollten ihre politische Strategie umorientieren, sagten sie (Rubin und Rashid), so dass es eine regionale Lösung geben könne, zu der die interessierten - die betroffenen Staaten, einschließlich vor allem Iran, aber auch Indien, Russland und China, ein eigenes regionales Abkommen entwickeln sollten; die Afghanen sollten untereinander etwas ausarbeiten. Die Autoren weisen darauf hin, zurecht, dass die Länder der Region nicht gerade erfreut darüber sind, dass Afghanistan zu einem militärischen Zentrum der NATO geworden ist. Dies stellt offensichtlich eine Bedrohung für sie dar. In der Vergangenheit - wurde anders gehandelt. Es gibt mittlerweile einige Gesten in diese Richtung, vielleicht grüßt hier und da ein stellvertretender Minister einen iranischen Vertreter oder so, aber das Problem wird nicht als Hauptpunkt der politischen Strategie betrachtet.

Parallel dazu kann man noch eine andere Entwicklung feststellen. Es gibt eine wichtige Friedensbewegung in Afghanistan. Wir kennen ihre Ausmaße nicht. Aber anscheinend ist sie groß genug, dass Pamela Constable von der Washington Post vor kurzem in einem Artikel über Afghanistan schrieb, den neu verlegten amerikanischen Truppen würden bald zwei Feinde gegenüber stehen: die Taliban und die öffentliche Meinung. Damit meinte sie die Friedensbewegung, deren Motto lautet: "Legt eure Waffen nieder. Wir haben nichts dagegen, dass ihr hier seid - allerdings für Hilfe und Entwicklungshilfe. Wir wollen keine Kampfhandlungen mehr."

Tatsächlich wissen wir aus westlichen Umfragen, dass sich etwa 75% der Afghanen für Verhandlungen der Afghanen untereinander aussprechen. Dies schlösse auch die Taliban mit ein, sofern sie Afghanen sind, im Grunde selbst die Taliban in Pakistan. Es gibt da einen Unterschied - die wirklich umkämpften Gebiete sind von Paschtunen besiedelt. Ihre Siedlungsgebiete werden durch eine künstliche, ehemals von den Briten festgelegte Linie, die so genannte Durand-Linie, getrennt. Die Briten hatten diese Grenze eigenmächtig festgelegt, um ihre indische Kolonie (British India) zu schützen und zu erweitern. Sie wurde von ihnen (den Paschtunen) nie akzeptiert. Es zerteilt ihr Territorium in zwei Hälften. Als Afghanistan noch ein funktionierender Staat war, akzeptierte er sie niemals - bis in die 70er Jahre hinein nicht. Die afghanischen Taliban sind natürlich Afghanen. Und auch Präsident Karsai, der bis vor kurzem unser Mann war - jetzt ja nicht mehr, da er außer Kontrolle geraten ist…

Amy Goodman: Wie? Wie meinen Sie das, dass er außer Kontrolle geraten ist?

Noam Chomsky: Nun, das ist interessant. Als Präsident Obama gewählt wurde, schickte ihm Präsident Karsai eine Nachricht, die - soviel ich weiß - unbeantwortet blieb, worin er Präsident Obama inständig darum bat, keine weiteren Afghanen mehr zu töten. Außerdem wandte sich Karsai an eine UN-Delegation und teilte ihr mit, dass er einen Zeitplan für den Abzug der ausländischen Truppen haben wolle. Tja, seine Beliebtheit nahm danach schnell ab. Vorher wurde er oft für seine schönen Gewänder und sein vornehmes Auftreten gepriesen und von den Medien und den Berichterstattern bewundert. Jetzt ist er sehr tief unten. Plötzlich soll er korrupt sein und so weiter.

Amy Goodman: Sie meinen, in der westlichen Welt und die westliche Presse?

Noam Chomsky: In der westlichen Welt, vor allem in den USA, aber auch im Westen allgemein. Das erfolgte direkt auf die Meinungsäußerungen (Karsais). Sehr wahrscheinlich ist die Mehrzahl der Afghanen, wenn nicht gar mehr, dieser Ansicht.

Er (Karsai) ging noch weiter. Er sagte, er würde Mullah Omar, das Haupt der Taliban, nach Afghanistan einladen, um eine Lösung auszuarbeiten. Er fügte hinzu: "Die Vereinigten Staaten werden das nicht mögen, aber sie haben nur zwei Möglichkeiten: Sie können es akzeptieren oder mich rauswerfen". Im Grunde tun sie es gerade. Es gibt heute Pläne, Präsident Karsai zu ersetzen, ihn quasi die Karriereleiter hoch zu schubsen - man nimmt an, dass er die nächste Wahl gewinnt, also wird man ihm eine symbolische Position geben und einen Surrogaten überstülpen, der im Grunde von den USA bestimmt sein wird und das Land im Wesentlichen regieren wird -, denn so etwas ist nicht zu tolerieren.

Jedenfalls gibt es Alternativvorschläge - die hier und in weiten Kreisen Afghanistans auf höchster Ebene und offensichtlich auch unter der Bevölkerung diskutiert werden. Sie lauten, einfach in Richtung einer friedlichen Lösung unter den Afghanen und in Richtung einer regionalen Lösung zu gehen, unter Einbeziehung der Anliegen der benachbarten Mächte in der Region.

Amy Goodman: Warum, glauben Sie, weitet Obama diesen Krieg aus? Würden Sie von "Obamas Krieg" sprechen?

Noam Chomsky: Nun, das reicht weit zurück. Ich denke, die USA haben in Weltangelegenheiten sozusagen einen Wettbewerbsvorteil, vor allem, was die militärische Macht angeht - allerdings nicht hinsichtlich der ökonomischen Macht, nicht hinsichtlich der Finanzreserven, wissen Sie. Die USA sind ein sehr mächtiger Staat, aber, wissen Sie, eben nur einer unter mehreren. In ökonomischer Hinsicht kann man Amerika mit Europa vergleichen oder mit Ostasien, das im Aufstieg begriffen ist. Was allerdings die militärische Macht angeht, so ist Amerika einzigartig.

Die USA investieren in militärische Stärke ungefähr soviel wie Rest der Welt zusammen.

Technologisch gesehen sind sie wesentlich weiter entwickelt. Wenn man einen Wettbewerbsvorteil besitzt, ist man geneigt, ihn zu nützen. Daher tendieren politische Entscheidungen dazu, in Bereiche abzudriften, wo man stark ist, wo man militärische Stärke besitzt. Wissen Sie, es ist der alte Witz: Wenn du einen Hammer hast, siehst du in allem einen Nagel. Das ist eine sehr starke Triebfeder, wissen Sie.

Außerdem besitzt Amerika seit langem eine Imperialmentalität: Wir müssen kontrollieren und beherrschen. Vor allem müssen wir alle Energieressourcen dominieren. Das reicht weit zurück. Wissen Sie, nach dem Zweiten Weltkrieg war das der primäre Faktor in der US…. (nicht zu verstehen)

Amy Goodman: Was ist mit den Energieressourcen in Afghanistan?

Noam Chomsky: Nein, sie liegen nicht in Afghanistan. Die - meisten liegen im Golf; Zentralasien rangiert an zweiter Stelle. Allerdings befindet sich Afghanistan direkt in der Mitte dieses Systems.

Ich denke, es geht um eine Pipeline. Wie mächtig ist diese Frage? Darüber kann nur spekuliert werden. Aber die Pläne für eine Pipeline von Turkmenistan in Zentralasien bis Indien - TAPI genannt, da sie von Turkmenistan über Afghanistan und Pakistan nach Indien führen soll -, existieren seit langem.

Für die Vereinigten Staaten ist die Sache (Pipeline) aus mehreren Gründen wichtig: erstens, falls sie - falls sie mitten durch Afghanistan und durch eine der konfliktreichsten Regionen, nämlich durch die Provinz Kandahar, verlaufen sollte. Wenn es zum Bau kommt, würde zum einen die Abhängigkeit der zentralasiatischen Staaten von Russland abnehmen. Dadurch wäre die Rolle Russlands geschwächt. Noch wichtiger ist, dass der Iran umgangen würde. Was ich sagen will: Indien braucht Energie, und die natürlichste Quelle ist der Iran. Tatsächlich steht eine Pipeline vom Iran nach Indien zur Debatte. Gelänge es aber, Erdgas aus Zentralasien nach Indien fließen zu lassen und dabei den Iran zu übergehen, wäre dies für die amerikanische Politik nützlich. Diese Politik ist heute glasklar erkennbar (was Obama angeht, so nimmt sie konkretere Formen an): Es geht darum, ein Bündnis regionaler Staaten zu formen, die sich gegen den Iran stellen.

John Kerry, der Vorsitzende des ‘Komitees für Außenbeziehungen’ des US-Senates (Senate Foreign Relations Committee) hielt in dieser Hinsicht vor kurzem eine wichtige Rede zu Israel/Palästina. Er sagte, wir bräuchten bei diesem Thema ein neues Konzept. Es solle nicht um das Problem Israel-Palästina gehen. Das sollten wir in gewisser Weise beiseite legen und eine Allianz zwischen Israel und den so genannten moderaten arabischen Staaten schmieden. "Moderat" ist ein technischer Begriff und meint: Sie tun, was wir ihnen sagen, daher zählen die brutale Diktatur in Ägypten, die radikal-fundamentalistische Diktatur in Saudi-Arabien und andere zu den moderaten arabischen Staaten. Sie sind die Gemäßigten. Sie sollen sich mit uns und Israel zu einer Allianz gegen den Iran verbinden, so Kerry. Und natürlich müssen wir die bestehenden Verbindungen zwischen dem Iran und Indien - und anderen - so gut es geht kappen. Das israelisch-palästinensische Problem - will heißen ‘Thema’ - wird so zur Nebensache.

Amy Goodman: Ich möchte auf Israel-Palästina zu sprechen kommen, aber wir müssen zuvor eine Pause machen. Noch eine kurze Frage: Glauben Sie, dass Obama die Truppen umgehend aus Afghanistan abziehen sollte?

Noam Chomsky: Nun, ich denke, die Afghanen sollten diese Entscheidung treffen.

Amy Goodman: Wie?

Noam Chomsky: Sie haben Möglichkeiten. So fordert zum Beispiel die Friedensbewegung eine ‘loya jirga’ - was der traditionellen Art ihrer Entscheidungsfindung entspricht. Wissen Sie, ein Großtreffen, mit den Ältesten und anderen Persönlichkeiten usw., die versuchen würden, auf diese Art einen Konsens dazu zwischen allen Afghanen zu erzielen. Es sollte ihre Entscheidung sein. Ich meine, wir haben nicht das Recht, dort zu sein.

Amy Goodman: Im Gespräch mit Noam Chomsky, emeritierter Professor am MIT und Autor von mehr als hundert Büchern, zum Thema amerikanische Außen- und Innenpolitik. Wir melden uns wieder nach einer Minute. (Pause)

(Nach der Pause)

Die neue israelische Regierung

Amy Goodman: Wir sind hier in Boston. Ich unterhalte mich mit Prof. Noam Chomsky. Wir sprechen über die globale US-Außenpolitik - das Themenspektrum umfasst NATO, Afghanistan, die neue israelische Regierung. Können Sie uns etwas zu Benjamin Netanyahu sagen? Was wird, Ihrer Meinung nach, geschehen?

Noam Chomsky: Nun, Benjamin Netanyahu ist auf der - nein, man kann nicht mehr sagen, auf der äußersten Rechten. Das Land ist so sehr nach rechts gerückt, dass er fast schon in der Mitte ist. Sein Außenminister, Avigdor Lieberman, ist rechtsaußen. Gestern hat Lieberman seine erste Ankündigung gemacht. Er sagte, Israel fühle sich keiner seiner eingegangenen Verpflichtungen verpflichtet - auch nicht der von Annapolis - um irgendwann irgendeinen - unklar welchen - Palästinenserstaat zu formen. Man sei nur noch der Roadmap verpflichtet. So jedenfalls berichtete es gestern die Presse.

Worin besteht Israels Verpflichtung gegenüber der Roadmap? Das weiß er (Lieberman) ganz genau. Die Roadmap war die berühmte Entscheidung des ‘Quartetts’ (USA, Europa, Russland, UNO). Vor einigen Jahren entwarf das Quartett vage Pläne, was zu tun sei. Es würde sich lohnen, einen Blick darauf zu werfen, aber lassen wir’s, es bringt wirklich nichts - denn sobald die Roadmap veröffentlicht wurde, akzeptierte Israel sie zwar, knüpfte aber umgehend vierzehn Bedingungen daran, die die Roadmap völlig aushöhlten. Ein Beitrag, den Jimmy Carters Buch zum Thema Israel/Palästina geleistet hat, ist, dass Carter meiner Meinung nach einer der Ersten war, der die Öffentlichkeit auf die israelischen Bedingungen aufmerksam gemacht hat. Sie werden im Anhang seines Buches genannt - seines so bitter verurteilten Buches. Niemand hat diesen sehr wesentlichen Beitrag erwähnt."Palestine: Peace Not Apartheid" von Jimmy Carter (2007), ‘Appendix 7: Israel’s response to the roadmap, May 25, 2003’.

Im Grunde sagte Israel damals: "Wir werden die Roadmap zwar unterzeichnen, aber wir werden sie nicht beachten - denn hier sind die Bedingungen". Eine Bedingung lautete zum Beispiel, man werde nichts unternehmen können, solange die Palästinenser nicht alle Gewalt einstellten, alle Gewalt, natürlich, aber auch alle Hetze, alles, was sich kritisch mit Israel auseinandersetzt. Auf der anderen Seite steht dort, nichts könne Israel davon abhalten, Gewalt auszuüben bzw. zu hetzen. Es stand dort explizit, mit etwa diesen Worten. Und so geht es weiter. Die Existenz (jüdischer) Siedlungen sei nicht diskutabel; im Grunde dürfe es keine Diskussion über irgendeinen wichtigen Punkt geben. Das ist die Roadmap. Die USA haben dies unterstützt - was im Grunde heißt, sowohl die USA als auch Israel weisen die Roadmap zurück. Lieberman sagte gestern, nun, das ist unsere einzige Verpflichtung. Hätten wir funktionierende Medien, wissen Sie, hätte dies in den Schlagzeilen gestanden.

Es gäbe darüber noch Vieles zu sagen. Sie wissen, Präsident Obama hat George Mitchell zum Gesandten für den Nahen/Mittleren Osten ernannt. Wäre es ihm erlaubt, irgendetwas zu tun, so wäre Mitchell keine schlechte Wahl. Im Moment hat er lediglich die Erlaubnis, praktisch jedem, aber eben doch nicht jedem, zuzuhören. Der gewählten Regierung Palästinas - unter Führung der Hamas - darf er nicht zuhören. Es würde ihm auch schwer fallen, denn die Hälfte von ihnen sitzt in israelischen Gefängnissen. Dennoch, sie haben Stimmen. Sie unterstützen beispielsweise den Aufruf für eine Zwei-Staaten-Lösung - die von den USA und Israel zurückgewiesen wird. Sie (die Hamas-Leute) haben sich bei diesem Thema mit der Welt verbündet.

Warum wird uns nicht erlaubt, den Hamas-Leuten zuzuhören? Weil sie drei Bedingungen, die aufgestellt wurden, nicht erfüllen. Die erste Bedingung lautet, sie müssen die Roadmap akzeptieren - die wir und Israel zurückweisen, aber sie sollen sie akzeptieren, sonst können wir sie nicht in die zivilisierte Welt aufnehmen. Zweitens müssen sie der Gewalt abschwören. Nun, die Frage, ob die USA und Israel der Gewalt abschwören, brauchen wir nicht zu diskutieren. Das können wir abhaken. Drittens müsse sie (die Hamas) Israel anerkennen. Aber natürlich müssen wir umgekehrt Palästina nicht anerkennen, auch Israel muss dies nicht tun. Folglich sollen sie drei Bedingungen erfüllen, die wir nicht erfüllen, die Israel nicht erfüllt. Aber auch das wird kommentarlos hingenommen.

Amy Goodman: Welche Rolle sollte Präsident Obama aktuell einnehmen - was meinen Sie? Welche Aktion wäre für ihn die effektivste?

Noam Chomsky: Er sollte sich mit der Welt verbünden. Seit mehr als 30 Jahren existiert ein überwältigender internationaler Konsens. Dieser wurde 1976 explizit gemacht, als die arabischen Staaten eine Resolution in den Sicherheitsrat einbrachten, die die Schaffung zweier Staaten forderte, gemäß der internationalen Grenze. Diese internationale Grenze war bis dahin auch von den USA akzeptiert. Gemeint ist die (israelisch-palästinensische) Grenze, wie sie vor Juni 1967 bestand. Als die USA - Ende der 60er Jahre - noch Teil der Welt waren, lautete die offizielle US-Terminologie diesbezüglich: "… mit kleinen, wechselseitigen Modifikationen", das heißt, einige Kurven hätten noch begradigt werden können. Fast die gesamte Welt ist dafür. Die USA blockieren es. Die USA legten gegen diese Resolution ein Veto ein - ebenso wie gegen eine ähnliche im Jahr 1980.

Ich will nicht alles noch einmal durchgehen, aber im Prinzip ist es bis heute das Gleiche.

Was sollte Präsident Obama tun? Im Grunde das, was Präsident Clinton in den letzten Wochen vor dem Ende seiner Regierungszeit getan hat. Es ist wichtig, zu erkennen, was damals geschah. Im Sommer 2000 fanden in Camp David Verhandlungen statt. Sie brachen zusammen. Clinton gab Arafat, dem Leiter der palästinensischen Delegation, die Schuld für den Kollaps. Von dieser Haltung rückte er allerdings kurze Zeit später wieder ab. Im Dezember (desselben Jahres) erkannte er formal an, dass die amerikanisch-israelischen Vorschläge von Camp David für keinen Palästinenser akzeptabel gewesen wären. Clinton legte seine eigenen Parameter (so nannte er sie) vor. Sie waren zwar etwas vage, aber entgegenkommender. Dann hielt er eine Rede, eine wichtige Rede, in der er sagte, dass beide Seiten diese Parameter akzeptiert aber auch Bedenken geäußert hätten. Man traf sich im Januar 2001 im ägyptischen Taba, beide Seiten, um diese Bedenken auszubügeln. Sie kamen einem Ergebnis sehr nahe, das dem internationalen Konsens sehr, sehr ähnlich gesehen hätte.

Amy Goodman: Wir müssen es im Moment dabei belassen. Was ich noch erfahren möchte: Sind Sie für einen Staat oder für eine Zwei-Staaten-Lösung?

Noam Chomsky: Niemand unterstützt - ich meine, Sie können natürlich über die Lösung ‘ein Staat’ reden, wenn Sie wollen. Die beste Lösung wäre sowieso die Kein-Staat-Lösung. Aber das ist natürlich sehr utopisch. Wenn Sie wirklich für eine ein-staatliche Lösung sind - ich war mein Leben lang dafür -, hieße dies, nicht einfach einen Staat, sondern einen bi-nationalen Staat zu akzeptieren. Aber um von Hier nach Da zu kommen, braucht es einen Weg. Sonst bleibt alles nur Gerede. Der einzige Weg, der jemals vorgeschlagen wurde…

Amy Goodman: Wir haben noch zehn Sekunden.

Noam Chomsky: … führt über zwei Staaten. Das wäre das erste Stadium.

Amy Goodman: Unser Gast ist Noam Chomsky. Der zweite Teil dieses Gespräches wird kommende Woche gesendet. Darin geht es um die Kernschmelze in der globalen Wirtschaft. Noam Chomsky ist emeritierter Professor des Massachusetts Institute of Technology. Diese Sendung wurde von Boston ausgestrahlt.

Amy Goodman ist Moderatorin des TV- und Radioprogramms ‘Democracy Now! , das aus rund 500 Stationen in Nordamerika täglich/stündlich internationale Nachrichten sendet.

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und hat in den 60er Jahren die Vorstellungen über Sprache und Denken revolutioniert. Zugleich ist er einer der prominentesten und schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Weltordnung und des US-Imperialismus.

 

Quelle:  ZNet Deutschland vom 09.04.2009. Originalartikel: US Expansion of Afghan Occupation, the Uses of NATO, and What Obama Should Do in Israel-Palestine . Übersetzt von: Irena Furhoff, Timo, Britta Schellens und Andrea Noll.

Fußnoten

Veröffentlicht am

13. April 2009

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