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Helmut Gollwitzer war durch und durch ein Mensch der Mitmenschlichkeit

Helmut Gollwitzer, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, wäre am 29. Dezember 2008 100 Jahre alt geworden. Wir erinnern in der Lebenshaus-Website an ihn durch die Veröffentlichung verschiedener Predigten, Reden und Artikel.

Nachfolgend veröffentlichen wir einen Text von Christiane Gollwitzer über ihren Onkel Helmut Gollwitzer. Der Text wurde im vergangenen Jahr für einen Gesprächskreis der Ev. Kirchengemeinde Stuttgart-Vaihingen verfasst.

Von Christiane Gollwitzer

"Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade" Joh.1,16.

Dieses Wort galt ihm als Leitmotiv für sein ganzes Leben. Helmut Gollwitzer war durch und durch ein Mensch der Mitmenschlichkeit. Wo immer er war, bildete sich ein "Rudel" um ihn; jeder war ihm als Gesprächspartner willkommen, jedes Schicksal interessierte ihn intensiv.

Ganz typisch war für ihn sein bayuwarisches Temperament - samt dem Dialekt, den er bis zum Lebensende beibehielt- seine Sangesfreude und sein herzerfrischender Humor.

Er kam ja vom "Wandervogel" her, hatte auf dem Hohen Meissner die Treue zu diesen Idealen gelobt und der "Zupfgeigenhansel" und Wolfgang Pommers bayrische Weihnachtslieder begleiteten ihn, neben seinen geliebten Paul-Gerhardt-Liedern, auf allen Wegen.

Jeder der mit Helmut Gollwitzer zu tun hatte empfand spontan seine Zugewandtheit und es ist recht typisch, dass seine Studenten von ihm nur als vom "Golli" sprachen.

Da er ein begnadeter Redner war hatte man auch in seinen Predigten stets den Eindruck, als spreche er gerade zu einem selbst. So waren seine Gottesdienste immer voll bis auf den letzten Platz, von Hörern aller Altersstufen, unvergesslich wohl für jeden, der dabei war.

Er war ein großer Zuhörer und Anteilnehmer, einer, der sich immer auch, und unbedingt, für alle mitverantwortlich fühlte.

Nächstenliebe darf nicht im Almosen-Geben stecken bleiben, sondern muss zugleich nach den Umständen fragen, die den oder jenen in die Verarmung getrieben haben. "Es ist nötig, wenn man Christ ist, dass man auch politisch eingreift!", war so ein Kernsatz von ihm. "Bis zum letzten Atemzug sollte man eintreten für das, was man für gut hält!"

Sein "Bewusstsein von der Freiheit eines Christenmenschen" schrieb er stets dankbar seinen beiden theologischen Lehrern: geistig: Luther und irdisch: Karl Barth zu. So beschloss er auch, für manche überraschend, die Reihe seiner Vorlesungen an der Freien Universität Berlin vor seiner Emeritierung mit einer Auslegung von Luthers Kleinem Katechismus.

Helmut Gollwitzer wurde 1908 als viertes Kind von sechs Geschwistern geboren. Sein Vater war ein streng lutheranischer Pfarrer und sehr deutsch-national eingestellt.

In der Geschwisterrunde, die alle - außer dem Jüngsten - nur ein Jahr Abstand im Alter hatten, war Helmut Gollwitzer wohl von klein auf der Radikalste.

Oft kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, vor allem mit dem sehr konservativen Vater. Diese vielen heftig geführten "Gott-und-die-Welt-Gespräche", wie sie es nannten, waren auch mit prägend für Gollwitzers Jugendjahre. Ebenso die Jahre auf dem Augsburger Gymnasium.

Als Schwerpunkte für sein geistiges Reifen in dieser Zeit nannte er später: die wachsenden Einsichten in den Pazifismus, ins Judentum und in das Denken von Karl Marx.

1928 machte am Augsburger Gymnasium das Abitur und begann sofort mit dem Studium, vorerst der Philosophie und Kirchengeschichte, dann der Theologie an der Münchner Universität.

Nach Abschluss des Studiums und dem Examen kam er auf das Münchner Prediger-Seminar. Bald darauf wurde er aber - aufgrund einer Affäre, die man heute nicht mehr nachvollziehen kann -, von dort ausgeschlossen und kam 1932 als Hofprediger und Erzieher der Kinder des Prinzen von Reuß auf das Schloss Ernstbrunn in der niederösterreichischen Diaspora.

Am 29. Sept 1936 wurde er in Thüringen als Pfarrer der Bekennenden Kirche (BK) ordiniert. Am 1.Mai 1937 trat er seinen Dienst in Berlin als sog. "Hilfsprediger" und Sachreferent beim Preußischen Bruderrat der Bekennenden Kirche an.

Als, zwei Monate später, am 1. Juli 1937 Niemöller verhaftet wurde, war auch Helmut Gollwitzer drei Tage in Haft. Am 4. Juli übernahm er dann dessen Pfarrstelle an der Annenkirche Dahlem und hielt von da an tägliche Fürbitte-Gottesdienste für Niemöller und alle anderen, die in Lebensgefahr waren. Anmerk. Lebenshaus-Redaktion: Nachdem Martin Niemöller, im Juli 1937 inhaftiert worden war, übernahm Gollwitzer zwar Prediger- und Pfarrdienste an dessen Pfarrstelle, der Sankt-Annen-Kirche in Berlin-Dahlem. Der Gemeinderat hielt Niemöllers Stelle jedoch frei, so dass Gollwitzer nicht dessen offizieller Nachfolger oder Vertreter wurde.

Für die erste dieser Andachten wählte er als Predigttext einen Vers aus der Apostelgeschichte: "Und Petrus ward zwar im Gefängnis gehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott."

Seine Predigten wurden hier Kampfhandlung, Bekenntnis und Lobpreis zugleich - und wurden auch als solche vom NS-Regime verstanden.

Besonderen Eindruck machte bei allen Hörern seine Bußtagspredigt am 16. Nov.1938 nach der sog. Reichskristallnacht. Veröffentlicht in: "Helmut Gollwitzer: Skizzen eines Lebens". Chr.Kaiser, Gütersloher Verlagshaus, 1998. S.120ff.

Danach wurde er verhaftet und war für sieben Wochen im Gefängnis. Nach der Entlassung fuhr er mit Freunden zum Sommerhaus der Bonhoeffers im Harz zur Erholung. Auf der Autofahrt gab es ununterbrochenes Singen von Chorälen, ihm kostbar wie Perlen, aufgehängt am Faden von Zeit und Ewigkeit.

Zwei Jahre später, 1940, kam dann das Redeverbot für Helmut Gollwitzer und die Ausweisung aus Berlin. Am 5.12.1940 wurde er als Sanitäter zur Wehrmacht einberufen. Von 1943 bis 1949 war er in Russland, davon viereinhalb Jahre in Gefangenschaft. Über seine Erlebnisse in russischer Kriegsgefangenschaft schrieb er den Bericht "…und führen wohin Du nicht willst", der 1951 erschien.

Ab 1950 war Helmut Gollwitzer Professor für Systematische Theologie in Bonn. 1952 fand die Eheschließung mit Brigitte Freudenberg statt. Vater Adolf Freudenberg lehrte an der Kirchlichen Hochschule Berlin. 1957 wurde Helmut Gollwitzer schließlich an die FU Berlin berufen, seiner eigentlichen Alma mater.

In jenem Jahr war die Bundeswehr gegründet worden und Konrad Adenauer sagte in einer Pressekonferenz: dass sie auch eine Ausrüstung mit Atomwaffen benötige; diese seien ja (Zitat!) "nichts weiter als eine Weiterentwicklung der Artillerie".

Das brachte führende deutsche Atomwissenschaftler dazu, in ihrer "Göttinger Erklärung" die Öffentlichkeit vor einer solchen Verharmlosung taktischer Atomwaffen zu warnen. Zugleich forderten sie die Bundesregierung auf, grundsätzlich auf eine Atombewaffnung zu verzichten! Der Protest der "Göttinger 18" hatte einen Massenprotest zur Folge. Er war der Beginn der "Ostermärsche" und der "Anti-Atomtod-Bewegung" und letztlich auch Mitauslöser der 68er-Studentenrevolte.

Helmut Gollwitzer stand von Anfang an auf der Seite der Studenten: verkrustete autoritäre Strukturen aufzubrechen war auch in seinem Sinn. Rudi Dutschke war ihm wie ein eigener Sohn - und eine enge herzliche Freundschaft verband ihn mit Heinrich Albertz und Präses Kurt Scharf. "Das zornige Kleeblatt" oder "Dreigestirn" wurden sie oft genannt; und als Albertz Regierender Bürgermeister von Berlin wurde, bekamen die politischen Stellungnahmen der drei noch mehr Gewicht.

Ich würde hier gerne ein kleines Textbeispiel von Helmut Gollwitzer einfügen:

"Jeder von uns ist als Bürger einer Klassengesellschaft tief verstrickt in das Privilegiensystem, von ihm geprägt, an seiner Aufrechterhaltung - nolens volens - mitarbeitend und von ihm profitierend.

Wir werden ernährt, gut ernährt, durch entmenschlichende Unterdrückung, die schon alten Datums ist und die heute in vielerlei Formen an uns, den von ihr ernährten, sich entmenschlichend auswirkt.

Schlimm wäre es, wenn wir durch unsere Teilhabe an unserem Privilegiensystem uns bestechen ließen, es zu rechtfertigen … und zu beschönigen durch Ignorierung oder Bagatellisierung seiner Brutalitäten, die die massenhaften Opfer unseres Systems mehr zu spüren bekommen als wir. So haben Oberschichten sich immer schon ihre Gemüts- und Gewissensruhe erhalten.

Die ‘Bergpredigt’ will uns darin stören. Sie fordert uns auf, die Unbrüderlichkeit und Brutalität unserer Privilegienordnung unbeschönigt ins Auge zu fassen…. Sie besagt, wofür das faktische Vorhandensein des Staates als eines Apparates, der Gewalt androhen und anwenden kann, von Gottes Liebeswillen beschlagnahmt wird: Die Schwächeren vor den Stärkeren zu schützen, genauso: den Schwächeren gegen den Stärkeren zu ihrem Recht zu verhelfen".

Das führte Helmut Gollwitzer bis hin zur Solidarisierung mit den Hausbesetzern, wenn er diese im Recht fand.

Als die Studentenrevolte auf dem Höhepunkt war, war er der einzige Vertreter der Professoren, den sie im Audimax der Freien Universität noch ans Rednerpult ließen. Und es gelang ihm tatsächlich, in dieser überhitzten Atmosphäre versöhnlich zu sprechen und zwischen Studenten und Rektorat zu vermitteln. Sich der Vergangenheit stellen, Schuld zu bekennen, Nein zur Wiederbewaffnung! - das waren auch Helmut Gollwitzers ureigenste Forderungen.

"Das Wettrüsten ist die Panzerspitze der Erdzerstörung. Niemand kann zwei Herren dienen: Gott, dem Schöpfer des Lebens - oder dem Moloch der Todeswaffen. - Was der Mensch sät, das wird er ernten!

Wir müssen alles tun, um das größte Menschenunrecht, die Massenvernichtungswaffen, aus der Welt zu schaffen!"

Die "Kampf dem Atomtod"-Blockaden, an denen Helmut Gollwitzer sich beteiligte, sind nicht zu zählen.

Eine jahrelange enge Freundschaft verband Helmut Gollwitzer mit Gustav Heinemann. Als dieser Bundespräsident wurde, schlug Gollwitzer ihm vor, ihre Freundschaft während der Präsidentschaft "ruhen" zu lassen - wohl wissend um seine Umstrittenheit. Heinemann lehnte dies strikt ab und verfügte sogar, vorausschauend, dass er ihn beerdigen solle, falls er der Erste sei.

So kam es, dass Helmut Gollwitzer trotz gewaltiger Proteste, im Mai 1976 Ulrike Marie Meinhoff beerdigte und, am 12. Juli desselben Jahres, den Bundespräsidenten Gustav Heinemann.

Schließen möchte ich mit einigen Sätzen aus einer Betrachtung Helmut Gollwitzers über die Relevanz der Bergpredigt:

"Frieden, das ist der wichtigste Wunsch auf allen Lippen in dieser durch Hochrüstung immer mehr kriegsbedrohten Welt.

‘Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Söhne Gottes heißen’ (Matth.5,9)…

Leider hat sich mit der Geburt Jesu die Welt nicht geändert. Das wusste der Evangelist Matthäus auch…

Ganz sicher meint das Wort aber doch unsere gegenwärtige Wirklichkeit: Jetzt kommt, uns zur Freude, Gottes Friede auf die Erde. Wie aber das, wenn die Erde doch so unfriedlich geblieben ist?

Dafür ist wichtig, zu fragen, woher die Kriege kommen? Nicht aus der Natur, nicht als Schicksal… Kriege sind Kriege der Menschen und kommen aus dem Herzen der Menschen. Der Krieg um uns kommt aus dem Krieg in uns … aus der Unzufriedenheit unseres Herzens … aus zwei Gründen: wir haben Angst - und wir wollen mehr haben … Wir sind nicht zufrieden mit der Welt, mit Gott … und unser schlechtes Gewissen hat Angst vor seinem Gericht.

In unserem Innersten setzt Jesus an mit dem was er sagt, mit seinem Opfer für uns, und mit seinem Geist, da er uns ändern will, aus unfriedlichen zu friedlichen Menschen. Wie kann diese Änderung geschehen? …

Nur durch Liebe. Und lieben lernen können wir nur durch geliebt werden. Jesus ist die große, endgültige, verbindliche Liebes-Erklärung Gottes … Jesus beweist, dass er jeden von uns liebt bis in den Tod. Und Jesus wird auferweckt ins Leben, damit er jedem von uns nahe sein kann …

Um uns haben wir lauter von Jesus geliebte Menschen, für die er stirbt und lebt. Du magst einen Menschen nicht? Aber Jesus mag ihn … er liebt die Ausländer unter uns, die Türken, die Schwarzen. Ohne alle diese, die Jesus liebt wie dich, kannst du Jesus nicht haben.

Darum ist doch ganz klar: die Liebe, zu der Jesu Liebe uns erweckt, ändert auch uns unfriedliche Menschen zu Friedensstiftern."

(aus "Frieden auf Erden", Gedanken zur Jahreslosung 1983: Matth. 5,9)

 

Christiane Gollwitzer, Stuttgart, ist die Tochter von Gerhard Gollwitzer , dem zwei Jahre älteren Bruder von Helmut Gollwitzer. Christiane Gollwitzer ist u.a. Fördermitglied bei Lebenshaus Schwäbische Alb.

 

Fußnoten

Veröffentlicht am

23. Januar 2009

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