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Welthunger in Zeiten der Weltfinanzkrise: Fensterscheiben und Panzerglas

Im Herbst 2008 werden viele Banken gerettet, Menschen weniger
 

Von Lutz Herden

Die Vereinten Nationen hatten sich auf ihrem Millenniumsgipfel im Jahr 2000 das Ziel gestellt, die Zahl der Hungernden dieser Erde bis 2015 zu halbieren - inzwischen ist man davon weiter entfernt denn je. Weltweit leiden derzeit 923 Millionen Menschen, weil sie sich nicht ausreichend ernähren können, in manchen Erdregionen ist die Zahl der Betroffenen förmlich explodiert, im subsaharischen Afrika ebenso wie im pazifischen Raum, bilanziert die UN-Ernährungsorganisation (FAO) zum Welternährungstag am 16. Oktober. In Haiti, Niger, Äthiopien und Burkina Faso müssten Millionen Familien mit umgerechnet einem Euro am Tag auskommen. Wie hoch ihre Lebenserwartung ist, lässt sich denken.

Eigentlich weiß man längst, wie sinnlos die journalistische Übung ist, Fakten aus dem unerschöpflichen Reservoir des Elends zu zitieren, die immer wieder auf die eine Erkenntnis hinauslaufen: Fast einer Milliarde Menschen bleibt durch die tödliche Barriere des Hungers eine Zukunft verwehrt. Dabei meint das Wort oft nicht einmal den nächsten Tag.

Bertolt Brecht erinnerte in seinem Gedicht Resolution der Kommunarden daran, "dass nur Fensterscheiben uns vom guten Brote trennen, das uns fehlt". Diese Fensterscheiben freilich sind heutzutage nicht mehr so zerbrechlich wie im Pariser März des Jahres 1871. Man hat sie durch Panzer- oder Sicherheitsglas ersetzt und damit einbruchssicher gemacht. Auch daran lässt sich der zivilisatorische Fortschritt messen, wie es ihn seit der Commune gegeben hat.

Dieser Fortschritt ließe sich bezogen auf das, was wir gerade erleben, wie folgt beschreiben: Je mehr die Kasino-Welt damit beschäftigt ist, sich und das ökonomische Weltregime zu retten, um so mehr fehlt es an Geld, Zeit und Muße, das Gleiche mit dem Leben der Anderen zu tun. Nun existieren wir allerdings in einer einzigen Welt, so dass die Frage erlaubt sein muss: Warum verhungern täglich 30.000, wenn sich über Nacht weltweit mehr als 1.000.000.000.000 Dollar auftreiben lassen, um bankrotte Banken und Banker zu retten?

Es steht zu befürchten, dass sich angesichts einer talfahrenden Wirtschaft des Nordens dessen Wohlstandschauvinismus gegenüber dem Süden noch aggressiver artikuliert, als das ohnehin schon geschieht. Was der Umgang mit den Hungernden offenbart, ist nichts anderes als eine Form der sozialen Apartheid, mit der nach außen getragen wird, was sonst im Inneren gilt: Ein vom Leistungskult überwältigtes Gemeinwesen kann Not nicht mehr als Tragödie empfinden, sondern nur noch als Leistungsdefizit oder -verweigerung begreifen. Sofern diese Weltsicht Restbestände an schlechtem Gewissen produziert hat, konnte das bisher durch Spenden für die Caritas oder sonst wen entsorgt werden. Die Neigung, materielle Hilfe als moralische Selbsthilfe zu betreiben, dürfte nun weiter abnehmen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   43 vom 23.10.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

01. November 2008

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