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Jeder junge Mann kann zur Zeitbombe werden

Risiken: Für den afghanischen Politologen Matin Baraki ist die NATO schlecht beraten, ihre Präsenz am Hindukusch ständig hochzufahren

von Hans Wallow

Wer den elegant gekleideten Herren mit dem modischen Stetson-Hut auf dem Kopf durch die Stuhlreihen des Bonner Kaffeehauses gehen sieht, würde kaum ahnen, dass seine Wiege 1947 im Dorf Schinah, nicht weit von Kabul, stand. Matin Baraki ist heute Politikwissenschaftler und Buchautor, er studierte und arbeitete als Lehrer in Kabul, bevor ihn sein Lebensweg 1974 nach Deutschland führte, wo er an der Universität Marburg mit einer Arbeit über die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik zwischen 1949 bis 1978 zum Doktor der Philosophie promovierte.

“Ich kam aus einem toten und vergessenen Winkel der Erde”

Baraki sagt über sich, es habe ihn viel Kraft gekostet, Afghanistan vor mehr als drei Jahrzehnten den Rücken zu kehren. Als Sohn des Landwirts Merad Judi sei es ihm bestimmt gewesen, wie sein Vater den mageren Boden der Hochebene zu beackern, um eine vielköpfige Familie zu versorgen. Doch habe er sich - mit dem Segen der Eltern - früh entschlossen, in Kabul eine Ausbildung als Techniker zu machen. “Je älter ich wurde, desto mehr wuchs meine Abneigung gegen die dörfliche Enge und das stupide Regiment der Mullahs”, erinnert sich Baraki. “Einmal, als ich ohne Pakol, die flache Kopfbedeckung der Paschtunen, herumlief, befahl mir der Dorfprediger, die Mütze sofort aufzusetzen. Ich weigerte mich, woraufhin der Kerl Steine nach mir warf. Selbst mein Vater konnte ihn nicht besänftigen.”

Ende der sechziger Jahre studiert Baraki in Kabul Pädagogik, lernt am Goethe-Institut die deutsche Sprache und findet schließlich eine Stelle als Assistent an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität. Da die Hochschule eine Partnerschaft mit der Friedrich-Wilhelm-Universität in Bonn unterhält, kann er erste Kontakte knüpfen und geht 1974 nach Marburg.

“Als ich auswanderte, war Afghanistan in keinem guten Zustand. Nach einer Dürrekatastrophe durchlitt das Land eine von der Welt fast unbeachtete Hungersnot, der Hunderttausende zum Opfer fielen. Die 1973 gestürzte Monarchie hatte sich als unfähig erwiesen, elementaren Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. Auch die Erben des Königs unter dem Präsidenten Mohammad Daud blieben den Beweis schuldig, das Blatt zu wenden. Es konnte niemanden überraschen, dass im April 1978 Offiziere putschten, die mehrheitlich der ersten demokratischen Partei des Landes, der Volkspartei Afghanistans, angehörten.”

Doch überschätzen die neuen Machthaber in den folgenden Jahren ihre Möglichkeiten in einem ausgelaugten und von religiöser Inbrunst geprägten Land. Bei 97 Prozent Analphabeten und einer Feudalkaste, die über die Hälfte des Bodens verfügt, bei einer korrupten Elite aus Bürokraten, Politikern und Kaufleuten und fünf ethnischen Hauptgruppen verlangt sozialer Wandel viel Behutsamkeit. Der Volkspartei unterlaufen allein mit der Bodenreform unverzeihliche Fehler, als sie Stammesrechte und vor allem die Geistlichkeit ignoriert. Oft sind die Landbesitzer zugleich Stammesälteste und Clansprecher. Eine Landvergabe an Landlose erschüttert ihre Existenz. “Die Volkspartei hatte sich da einer Mission verschrieben, an der sie nur scheitern konnte”, glaubt Baraki. “Zu viele Afghanen lebten als Tagelöhner oder Nomaden. Fast jedes zweite Kind wurde nicht einmal älter als ein Jahr. Die von der Volkspartei ausgelöste Aprilrevolution war ein Umsturz ohne Volk, weitgehend jedenfalls.”

Baraki beschreibt seine Ankunft in Deutschland Mitte der siebziger Jahre mit den Worten: “Ich kam aus einem toten und vergessenen Winkel der Erde.” Das soll sich ändern, als die Sowjetunion Ende 1979 am Hindukusch interveniert, um die Macht der Volkspartei zu retten, und die Amerikaner die Herausforderung annehmen, indem sie den sich formierenden islamischen Widerstand vehement unterstützen. Über Nacht wird Afghanistan zu einer ersten Adresse der bipolaren Weltordnung.

Bis heute habe er viel über die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik geschrieben, sagt Baraki, die Deutschen seien beliebt. Ihr Land habe keine koloniale Vergangenheit am Hindukusch. “Als ich mich im vergangenen Jahr in Kabul aufhielt, wurde dort viel über die nach Afghanistan verlegten Tornado-Flugzeuge gesprochen. Man empfand das als Kriegserklärung. Die deutsche Politik hätte eigentlich gewarnt sein und alles unternehmen müssen, genau das zu vermeiden.”

Was sollte man stattdessen tun? Baraki meint: “Ich rate dem Bundestag zu verhindern, dass Deutschland in immer größere Abenteuer stolpert. Weder ist es den Briten im 19. noch den Sowjets im 20. Jahrhundert gelungen, Afghanistan zu beherrschen. Heute sind fremde Militärs verhasst, weil durch ihre Schuld täglich Zivilisten - Frauen, Kinder und alte Menschen - getötet werden. Oft bombardieren die Amerikaner ganze Ortschaften nur auf den Verdacht hin, dass sich dort Taliban aufhalten. Seit der US-Intervention im Oktober 2001 gab es auf afghanischer Seite schätzungsweise 50.000 Tote. Auf der Petersberger Konferenz Ende 2001 wurden den Delegationen aus Afghanistan blühende Landschaften versprochen. Bekommen haben sie verbrannte Erde. Ich habe in Kabul oft gehört: ›Wir würden uns erheben, gäbe es eine Führung, die das koordiniert.‹ ”

“Warum wird das Muster Südafrikas so wenig beachtet?”

Für Matin Baraki ist eine “Irakisierung” Afghanistans kaum noch aufzuhalten. Hinter den Taliban würden nicht Islamisten aus dem Nahen Osten stehen, sondern zunehmend die Afghanen selbst. “Je mehr Opfer die NATO verursacht, desto mehr wachsen Sympathien für die Taliban. Unter diesen Umständen kann jeder junge Mann zu einer lebenden Zeitbombe werden.”

Wir sprechen auch über die Vorgänge im Nachbarland Pakistan und das Attentat auf Benazir Bhutto. “Seit 1979”, meint Baraki, “haben pakistanische Regierungen - egal ob zivile oder Militärkabinette - unter dem ungeheuren Druck der USA und Chinas bei der Destabilisierung Afghanistans ihren Part gespielt. Inzwischen aber sind beide Länder zu einem eineiigen Zwilling geworden. Das sollten afghanische Politiker aller Schattierungen bedenken, wenn sie gegen Pakistan polemisieren, aber unfähig sind, auch nur minimale Probleme im eigenen Land zu lösen. Ständig den Sündenbock Pakistan zu präsentieren, ist kurzsichtig und unklug. Viele Minister der Regierung Karzai vergessen, dass sie im Hause Pakistan groß geworden sind.”

Dass sich die NATO militärisch noch mehr ins Zeug legen will - Baraki hält es für eine Fehlentscheidung. “Ich setze auf Verhandlungen. Gemäßigte Taliban wie Ex-Außenminister Abdul Wakil oder Abdul Salam Saif, bis 2001 Botschafter in Islamabad, kommen dafür in Frage. Sie residieren unter dem Schutz der Amerikaner in schönen Kabuler Villen und gehören zu den Beratern Karzais.” Nach seinem Eindruck seien nicht die Taliban das Problem, sondern die Besatzungsmächte. Solange das Land nicht souverän sei, werde es weder Ruhe noch Frieden geben. “Nur eine gesamtnationale Versöhnungsstrategie kann helfen. Warum wird das Muster Südafrikas so wenig beachtet?”

Matin Baraki wurde 1947 in Afghanistan geboren, arbeitete und studierte in Kabul. 1974 ging er nach Deutschland und promovierte an der Universität Marburg. Er nahm danach als Politikwissenschaftler Lehraufträge an Hochschulen in Marburg, Gießen, Kassel und Münster wahr. Baraki publiziert über Nahost und Zentralasien in Sachbüchern sowie in deutschen und schweizerischen Zeitungen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   06 vom 08.02.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

29. Februar 2008

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