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Keine Ruhe nach dem Sturm

Mexiko: Das südliche Oaxaca im Jahr zwei der Revolte


Von Anne Huffschmid

Maiskolben dampfen im Blechtopf, auf dem Pflaster ist Kunsthandwerk auf bunten Tüchern ausgebreitet, direkt darüber flattert eine Flagge mit “José Stalin” in der lauen Luft. Nicht mehr viel bezeugt hier jenen langen Sommer der Rebellion, als der Platz in der Altstadt von Oaxaca noch in der Hand der Aufständischen und der Alltag über Monate suspendiert war. Doch noch immer ist der Pavillon mit dem verschnörkelten Metallgeländer von Transparenten zugehängt: “Willkommen in Oaxaca - Wiege der Repression”. Vor der Kirche ist ein weißes Zeltdach aufgespannt, und eine Lautsprecherstimme beschwört erst Gandhi, dann Che Guevara, bis eine Blaskapelle einen kurzen Tusch spielt. Ein junger Mann drängt an das Mikrophon und ruft zum Protest gegen die “unmenschlichen Stierkämpfe” auf. Dünner Applaus.

Ein paar Schritte weiter preisen Obst- und Eisverkäufer ihre Ware an, andere Händler verschwinden unter riesigen Bündeln metallicfarbener Luftballons. Von Ständen mit raubkopierten CDs schwappt und scheppert Musik auf die Plaza - Pop, Marimba und Heavy Metal. Es ist Guelaguetza-Woche. Vor einem Jahr musste das Folklore-Fest abgesagt werden, jetzt kommen die Besucher allmählich zurück. Die Hotels sind noch lange nicht ausgebucht, aber manche Protestbanner dennoch gleich auf englisch gehalten: “Killer government” oder - in Anspielung auf den Gouverneur - “Ulises, we repudiate you!”

Befreite Zone

Kein Landesvater in Mexiko dürfte je so inbrünstig gehasst worden sein wie der 48-jährige Ulises Ruiz Ortiz, der den Bundesstaat seit 2004 regiert. Schon damals waren ihm und seiner institutionell-revolutionären PRI Wahlbetrug vorgeworfen worden. Was deren Honoratioren nicht weiter erschütterte, schließlich regierte man Oaxaca seit 80 Jahren. Diesmal freilich schien etwas außer Kontrolle geraten.

Auf einem roten Banner, das quer über eine Ecke der Plaza gespannt ist, wird der robuste Schnauzbartträger von Hammer, Sichel und Machete hinweggefegt. “Stürzen wir den Tyrannen”, steht daneben. Es gehe nicht nur um Ulises, sagt Florentino López Martinez, ein freundlicher junger Mann, der auf einem steinernen Bänkchen hinter dem Transparent sitzt. Er ist einer der Sprecher der APPO, der Volksversammlung der Völker Oaxacas, wie sich der Zusammenschluss nennt. Er dürfte hier eigentlich gar nicht sitzen. Denn gegen ihn wie die gesamte APPO-Spitze sind Haftbefehle im Umlauf. Aber man sei hier ja fast auf befreitem Territorium, sagt der junge Indigene. Erst jenseits der Altstadt müsse er dann abtauchen. Nein, eine feste Schlafstatt habe er nicht. Worum gehe es denn? Ganz einfach, eine “tiefgreifende Umwälzung” - Poder Popular, das Volk an die Macht.

Ganze 23 Jahre ist López Martinez alt, das Gesicht ist weich, die Stimme auch, die Rhetorik geschliffen. Geboren ist er in einer Region namens La Mixteca, wo eines der ältesten mesoamerikanischen Völker, die Mixtecos, das Regenvolk, beheimatet ist. Seine Familie lebt mittlerweile fast vollständig in den USA. Der junge Mixteke blieb in Mexiko, begann ein Jurastudium an der Universität von Oaxaca und trat dort der Revolutionären Volksfront (FPR) bei - die mit den Stalin-Bildern - und hat den Marxismus-Leninismus schätzen gelernt.

Wo denn in einer Region wie Oaxaca, in der 70 Prozent der Menschen indigener Abstammung sind, das Proletariat zu finden sei? López lächelt nachsichtig. Natürlich wolle man “keine Kopie der russischen Revolution”, das verarmte Bauerntum bei Lenin, das seien heute die indigenen Gemeinschaften, und die sollten strategische Allianzen mit den “19 Prozent Industriearbeiterschaft” schmieden. Im Übrigen seien in der APPO alle Ideologien vertreten - Kommunisten, Anarchisten, sogar ein paar Trotzkisten seien dabei, Basisdemokraten und Reformsozialisten. Keiner habe die “absolute Stimme”. Dabei würden selbstverständlich “alle Forderungen der indigenen Völker”, das Recht auf eigene Sprache und Autonomie aufgegriffen. Immerhin seien die meisten selber Indigene.

Über ein Jahr ist es her, dass die malerischen Kopfsteingassen zum ersten Mal mit Tränengas zugeweht wurden. Der Ausnahmezustand, die Bilder von Polizisten, die aus der Luft Gasgranaten in die Menge schießen, haben sich so tief eingegraben wie die Berichte von Massenverhaftungen, Folter und Misshandlungen. 18 offiziell registrierte Tote nennt amnesty international in einem Oaxaca-Bericht von Ende Juli, inoffiziell sollen es 27 sein.

Bis heute werden APPO-Aktivisten abends auf offener Strasse bedroht, verschleppt und zusammengeschlagen, blanke Willkür. Das ist die eine Seite - die andere, das ist der Rausch der Revolte, der monatelang durch das Stadtzentrum zog. Vor einem Jahr waren Fernsehstationen besetzt, alle wichtigen öffentlichen Gebäude belagert, darunter der Regierungspalast, so dass Ulises Minister in Hotels ausweichen mussten. An die hundert Barrikaden soll es in der “Kommune von Oaxaca” gegeben haben. Nachts saß man an Lagerfeuern, tagsüber brachten gewaltige “Megamarchas” Hunderttausende auf die Beine. Bis zu einer Million sollen demonstriert haben und das bei einem Bundesstaat, in dem nur dreieinhalb Millionen Menschen leben. Die Stadt Oaxaca war - und das ist keine Metapher - ein zeitlang tatsächlich “befreites Territorium”.

Schuss in den Rücken

Für manche hatte diese Freiheit einen unerträglich hohen Preis. Dass Petra González sich in der Nacht zum 23. August 2006 zunächst keine Sorgen um ihren Lebenspartner, den 52-jährigen Lorenzo San Pablo, machte, hing mit den etwas komplizierten Familienumständen zusammen: Lorenzo war von seiner Ex-Frau noch nicht geschieden und kam nur ein paar Mal in der Woche zu ihr.

Lorenzo arbeitete bei der Stadtregierung, eigentlich hätte ihn die Bewegung gar nichts angehen dürfen. Doch er beobachtete die Proteste “mit Sympathie”, wie sich die Mittvierzigerin mit dem runden Gesicht erinnert. In jener Nacht habe es bei einer der Barrikaden Alarm gegeben, und so sei er spät noch losgezogen. Dann ging alles sehr schnell. Aus Kleinbussen heraus begannen Bewaffnete, auf die Aktivisten zu schießen, Lorenzo traf es in den Rücken, als er Deckung hinter einem Baum suchte. Der Lungenflügel war zerfetzt, im Hospital ist er am eigenen Blut erstickt. Am nächsten Morgen dann der Anruf einer Schwester von Lorenzo: “Bitte fall´ jetzt nicht in Ohnmacht”. Nein, sie sei nicht ohnmächtig geworden. Es gab dann noch eine Hommage auf der Plaza von Oaxaca, da ist Petra González dabei gewesen mit dem gemeinsamen Sohn auf dem Arm. Gesprochen aber hat sie nicht, als unverheiratete Geliebte hält man sich im Hintergrund. “Ich hätte sprechen müssen”, sagt sie heute und weint.

Die Politik hat ihr Leben überfallen, ohne Vorwarnung. Sie geht nur noch selten aus dem Haus, der Bus ist teuer, niemand sonst passt auf den Kleinen auf, trotzdem muss sie ihren kleinen Kramladen am Laufen halten. “Ich beglückwünsche die Leute, die den Mut haben, etwas zu tun.” - Es gibt heute Bewohner, die sich Aufkleber mit “Befreit Oaxaca!” ans Auto heften und nicht den Gouverneur, sondern das “aufständische Pack” meinen. Viele Arme sind bereit, für ein T-Shirt ihre Stimme zu verkaufen. Bei den jüngsten Wahlen zum Landesparlament Anfang August kam die PRI wieder auf fast 50 Prozent. Die mexikanische Linkspartei PRD hingegen - sie hatte die Bewegung erst ignoriert und dann kooptieren wollen - schnitt bescheiden ab. Mehr als drei Viertel aller Stimmberechtigten gingen gar nicht erst zur Wahl.

Autismus des Gouverneurs

Am Anfang trug die APPO sogar noch den Singular Volk von Oaxaca im Titel, erinnert sich Aldo González. Dann jedoch habe man begriffen, dass es nicht ein Volk gibt, sondern 16 ethnische Völker, bei denen in 418 von 570 Gemeinden die “Sitten und Gebräuche” der traditionellen Dorfgemeinschaften gelten. Was durch die Landesgesetze Oaxacas sogar offiziell anerkannt wird.

Vor 42 Jahren wurde Aldo González, der gutaussehende Mann mit dem langen Zopf, im Bergdörfchen Guelatao, eine gute Stunde Serpentinenfahrt von der Hauptstadt entfernt, geboren. In diesem Ort hat einst auch Benito Juarez, der erste und bislang einzige indigene Präsident des Landes (1861-1872), das Licht der Welt erblickt. Das erklärt womöglich den properen Anblick der Gemeinde mit gerade einmal 600 Menschen. Überall ranken sich dunkelrosa Blüten an leuchtend weißen Mauern hoch, Satellitenschüsseln ragen ins Grün.

Dies ist Zapotekenland, erklärt González, auch wenn hier schon lange keiner mehr zapoteco spricht. Als 15-Jähriger war der Junge zum Lernen und Studieren nach Mexiko-City gegangen, zehn Jahre später kam er zurück, um sich von den zapotekischen “Gebräuchen” wieder einholen zu lassen: Vor allem dem rotierenden sistema de cargos, nach dem alle Bürger des Dorfes für eine Zeit in öffentliche Ämter gewählt werden. So wurde er erst zum “Einkäufer” bestimmt, dann zum Schatzmeister, später zum Gemeindevorsteher. Heute arbeitet er bei der indigenen Bauernliga UNOSJO, die am Rande von Guelatao in einem Blockhüttenensemble zwischen Pinien residiert. Dem 1990 gegründeten Verband geht es um bodenständige Dinge wie Holz, Wasser und Mais. Er wehrt sich gegen die Sägewerke, die Bewohner zur Abholzung verleiten, gegen trockene Brunnen, gegen die Kontaminierung ihrer Felder durch genmanipulierten Mais. Die Unruhen in der Stadt hat man in Guelatao zunächst misstrauisch beäugt. Man schickte Tortillas an die Barrikaden, die endlosen Dispute waren weniger verlockend. Doch hat sich auch die UNOSJO Ende November 2006 in den 260-köpfigen APPO-Rat wählen lassen. Noch freilich knirscht es gewaltig zwischen “indigenen Werten” und der vertikalen Logik vieler linksorthodoxer Gruppen. Ohnehin sind Straßenblockaden für eine abgelegene Gemeinde eher hinderlich.

Die APPO ist ein Ensemble aus über 300 Gruppen, in dem sich neben der Lehrergewerkschaft und den indigenen Gruppen auch Punks und freigeistige Pädagogen tummeln, Studierende und Öko-Aktivisten, Künstler, und linksradikale Splittergruppen, die während der langen Blockadenächte den idealen Nährboden für Ad-Hoc-Schulungen fanden. Auch wenn die “Volksversammlung” zweifellos die treibende Kraft bleibt, so geht die Bürgerbewegung noch über sie hinaus. Etwa im Espacio Civil, in dem sich an die 50 Gruppen vereint haben. Nicht als Konkurrenz zur APPO, stellt Alma Delia Soto vom Menschenrechtskomitee 25. November klar, eher als einvernehmlicher Partner. Schwer vorstellbar, dass die junge Frau mit dem geblümten Rock und der sanften Stimme im gleichen politischen Boot sitzt wie die indigenen Jungstalinisten aus der FPR, doch Berührungsängste sind Soto fremd. Das ist womöglich das Erstaunlichste an Oaxaca, diese Mischung aus Radikalität und Pragmatismus.

Soto, die sich zuvor nur in der kirchlichen Jugendarbeit engagiert hatte, kam im November 2006 auf die Idee, dem berühmten Maler Francisco Toledo die Gründung eines Rechtskomitees vorzuschlagen, das sich für die Opfer der Polizeigewalt einsetzen sollte. Der ansonsten politik- und medienscheue Künstler sagte sofort zu. Seitdem arbeiten neun Anwälte für die Freilassung der politischen Gefangenen - 25 sollen derzeit noch einsitzen. Witwen beziehen von Toledo eine kleine Rente.

Doch bewegt das Komitee mehr als ein humanitäres Motiv. Soto kramt einen Ordner mit dicken Stapeln kopierter Papiere hervor: Entwürfe zu Gesetzen über Gewaltenteilung und Bodenrecht. Nichts Glamouröses, für Oaxaca aber durchaus radikal: “Hier werden Dinge wie Bürgerbeteiligung und Gewaltenteilung ja nicht mal simuliert.”

Es ist weniger ein juristisch oder gar philosophisch angereicherter Diskurs um Macht und Gegenmacht - wie bei der “Diskursguerilla” aus dem benachbarten Chiapas - als vielmehr eine einfache Überzeugung, aus der die Bürgerrevolte bislang ihre größte Kraft bezieht: dass Ulises Ruiz Ortiz, dessen reguläre Amtszeit erst 2010 endet, endlich gehen muss. Der Gouverneur verkörpert etwas selbst in Mexiko archaisch Anmutendes, die Willkür und den Autismus des Immer-schon-Mächtigen, der sich gegen “die da unten” immunisiert weiß - oder glaubt.

Repression und Rebellion - kleine Oaxaca-Chronik

Am 14. Juni 2006 haben 60.000 streikende Lehrer wie jedes Jahr ihr Protestcamp in der Innenstadt von Oaxaca aufgeschlagen. Statt zu verhandeln, schickt Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz die Polizei. Der brachiale Räumungsversuch setzt eine unerwartete Welle von Solidarität frei - ein Slogan breitet sich wie ein Lauffeuer aus: “Weg mit Ulises Ruiz!”

Schon am nächsten Tag gibt es die erste megamarcha mit 50.000 Teilnehmern, weitere folgen - es entsteht die Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO). In der ganzen Stadt werden Barrikaden errichtet, die Polizei geht immer brutaler gegen die Protestierer vor - am 27. Oktober werden vier Menschen getötet, darunter der US-Reporter Brad Will, der für das alternative Nachrichtenportal Indymedia berichtete. Zwei der auf seinen Videos identifizierten Schützen werden festgenommen, später aber “mangels Beweisen” wieder freigelassen. Zwei Tage später schickt der mexikanische Innenminister 4.000 Bundespolizisten nach Oaxaca, um die “öffentliche Ordnung” wieder herzustellen.

Nach einer megamarcha am 25. November 2006 kommt es zu den bislang schwersten Zusammenstößen, mehr als hundert Menschen werden verletzt, Ende November ist fast der gesamte Sprecherrat der APPO verhaftet oder untergetaucht - die Bewegung muss sich neu formieren. Auch in den folgenden Monaten wird immer wieder demonstriert, zuletzt im Juli 2007.

Mexiko

Staatsform

Präsidiale Bundesrepublik (Präsident seit 2006: Felipe Calderón)

Bevölkerung

Sie setzt sich zusammen aus 60 Prozent Mestizen, 30 Prozent indigenen Völkern (unter anderem Maya, Nahua und Nachkommen der Azteken) und etwa neun Prozent Europäischstämmigen (meist Spanier). Das übrige eine Prozent bilden Bevölkerungsgruppen größtenteils afrikanischer Herkunft.

Fläche

1.953.200 Quadratkilometer

BIP/Einwohner

8.066 Dollar (2006)

Einwohner

103,3 Millionen (2006)

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   45 vom 09.11.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

27. November 2007

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