Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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60 Jahre nach Kriegsende

Von Werner Dierlamm - Referat in Heiningen am 3. Mai 2005

Erster Abschnitt: Das Kriegsende vor 60 Jahren

Heute vor 60 Jahren befand ich mich in einem großen Lager für Kriegsgefangene in Böhl-Iggelheim unweit Ludwigshafen. Wenige Tage später, am 8. Mai, war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Unter den 60 Millionen Opfern befand sich auch meine Familie: Vater, Mutter, der älteste Bruder Gerhard und die Schwester Elfriede. Dass auch mein Bruder Helmut tot war, wusste ich damals noch nicht. Ich erfuhr erst Jahre später, dass er in den letzten Kriegstagen in Oberitalien gefallen war.

Ich möchte ein wenig weiter ausholen, wie ich den Krieg erlebte. Als er 1939 begann, war ich fast 12 Jahre alt. Ich erinnere mich, dass ich mich gegen die Begeisterung über den Krieg, die in mir aufkommen wollte, wehrte. Ich sagte mir, dass der Krieg sicher schrecklich sei. Als die erste Nachricht von Gefallenen aus unserer Verwandtschaft eintraf, sagte meine Mutter: wir sind zuletzt dran, uns trifft es am härtesten. Mein älterer Bruder Gerhard, Jahrgang 1920, wurde etwa seit November 1942 in Russland vermisst. Erst Wochen oder Monate später kam die Todesnachricht. Die täglich wachsende Sorge und Verzweiflung meiner Mutter, deren Weinen oft durch die ganze Wohnung ging, ist vielleicht meine schmerzlichste Erinnerung an den Krieg.

Im Herbst 1944 kam ich als Luftwaffenhelfer auf den Güterbahnhof in Kornwestheim. Nach einem Tag Heimaturlaub in Heilbronn am Sonntag, 3. Dezember, fuhr ich abends zurück nach Kornwestheim und sah von dort aus am nächsten Tag, dem 4. Dezember, den Feuerschein des Angriffs auf die Stadt, in der meine Eltern und meine Schwester wohnten. Am Mittwoch, 6. Dezember bekam ich frei, um nach Heilbronn zu fahren. Im Zug redeten alle vom Angriff auf Heilbronn. Mir wurde zum ersten Mal richtig bewusst, dass meine Angehörigen tot sein könnten.

Ein bekannter Freund sprach mich an und lud mich ein, bei ihm in Heilbronn-Böckingen zu übernachten. Am nächsten Tag, Donnerstag, 7. Dezember, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben, was Krieg bedeuten kann: drei Tage nach dem Angriff lagen auf den Straßen noch immer zahllose verstümmelte und verbrannte Leichen. Die Nordbergstraße hinter dem Stadttheater, wo wir wohnten, war wie die ganze Innenstadt völlig zerstört. Ich stieg mit einer Bekannten meines Bruders Helmut durch die Luke in den als bombensicher geltenden alten Weinbergkeller unseres Hauses. Es gehörte dem verstorbenen Dekan Eytel von Heilbronn. Im Keller fanden wir im Rollstuhl die Leiche von Frau Dekan Eytel und ihrer Tochter, der Konzertsängerin Frau Sindlinger-Eytel. Deren Tochter, sowie meine Eltern und meine Schwester waren nicht aufzufinden. Sie haben vergeblich versucht, sich zu retten. Mein damals noch lebender Bruder Helmut war Soldat. Er bekam Ende Dezember Urlaub. Wir sahen uns zum letzten Mal an Silvester 1944, als ich ihn auf dem Hauptbahnhof in Heilbronn verabschiedete und er wieder an die Front in Italien musste.

Und nun noch das Kriegsende. Ich war Flak-V-Soldat. Das heißt: für die Flugabwehr verwendungsfähig. Am 19. April 1945 wurde ich in Ulm angesichts der heranrückenden Amerikaner entlassen.

Ich wollte über die Alb nach Kirchheim/Teck, wo zwei Tanten von mir lebten, übernachtete in einer Kirche, fand einen Lastwagen, der mich mitnahm. Der Fahrer machte in Holzmaden Mittagspause. In dieser Zeit griffen Jagdbomber das Dorf an und schossen viele Häuser in Brand. Ich versuchte zu löschen und fand nachher den Lastwagen nicht mehr, in dem sich meine letzten Habseligkeiten befanden: Photos von meiner Familie, meine Mütze, mein Mantel, meine Marschverpflegung. Dann fuhren US-Panzer ins Dorf ein. Ich wurde als Gefangener mitgenommen und mit anderen Gefangenen zusammen als Schutz vor Panzerfäusten auf den Wagen gesetzt. Das war am 20. April, an Hitlers Geburtstag, am gleichen Tag, an dem mein Bruder Helmut in Oberitalien fiel, wie ich Jahre später erfuhr.

Auf der Fahrt in die Gefangenschaft tauschte ich meine gute Uniform gegen eine schlechte Zivilkleidung in der vergeblichen Hoffnung, zusammen mit meinem Entlass-Schein der Gefangenschaft zu entgehen. Die erste Station meiner Gefangenschaft war mitten in Worms. Hinter dem Zaun erschreckten uns hohlwangige, unrasierte Gesichter, denen wir bald alle gleich sahen. Es gab in diesem kleineren Lager keine Baracke. Es hieß, unsere Vorgänger hätten Feuer davon gemacht um sich zu wärmen. Wir verbrachten die Tage bis zum 30. April und die eiskalten Nächte unter freiem Himmel mit einer täglichen Hungerration. In den Nächten standen wir auf Haufen, um uns gegen den kalten Wind zu wärmen. Der Haufen war immer in Bewegung, weil die Leute Schutz gegen den Wind suchten, indem sie sich auf die windgeschützte Seite des Haufens stellten. Morgens gegen 4 oder 5 Uhr legten sich viele auf den nackten Boden um noch ein paar Stunden zu schlafen. Ich hatte weder Mantel noch Mütze. Viele sind gestorben. In diesen zehn Tagen kamen Wagen des Roten Kreuzes, beladen mit gekochten Kartoffeln und belegten Broten, die uns halfen, zu überleben.

Wir fuhren dann durch die blühende Landschaft Anfang Mai ins große Lager nach Böhl-Iggelheim und hatten Glück, weil der Regen ziemlich aufgehört hatte. Unsere Vorgänger dort waren im Lehm versunken. Ich erinnere mich nicht, Nachricht vom Kriegsende am 8. Mai bekommen zu haben. Nach einigen Wochen dort kamen wir in das noch größere Gefangenenlager in Heilbronn. Von dort aus gingen viele in die Gefangenschaft nach Frankreich. Ich dagegen wurde, weil ich jung und schwach und kaum arbeitsfähig war, am 17. Juli 1945 in Heilbronn entlassen.

Genug davon. Es ist klar, dass meine Kriegserlebnisse einen starken Einfluss auf mein Leben hatten und haben.

Zweiter Abschnitt: Vor 30 Jahren

1975 war die Fünfte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi. Damals gehörten zum Ökumenischen Rat der Kirchen 271 Mitgliedskirchen. Auf diesen Vollversammlungen werden naturgemäß sehr viele Reden gehalten und Worte veröffentlicht. Ein einziger Satz hat zur Entstehung der Ökumenischen Aktion für Frieden und Gerechtigkeit Ohne Rüstung Leben geführt, der Satz “Die Kirche sollte ihre Bereitschaft betonen, ohne den Schutz von Waffen zu leben, und bedeutsame Initiativen ergreifen, um auf eine wirksame Abrüstung zu drängen.”

Im August 1977 war in Mannheim-Sandhofen eine Fortbildungstagung für Pfarrer der Württembergischen Landeskirche, an der auch der heutige Bischof von Berlin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, als Referent teilnahm. Die Tagung stand unter dem Thema “Frieden und Menschenrechte”. Dabei wurde die Frage gestellt, wie eigentlich ein so großer Satz: “Die Kirche sollte ihre Bereitschaft betonen, ohne den Schutz von Waffen zu leben” verwirklicht werden könne. Wer ist denn die Kirche? Müssen nicht zuerst die Glieder der Kirche erklären, dass sie bereit sind, ohne den Schutz von Waffen zu leben?

Wir haben schon in Mannheim-Sandhofen die Selbstverpflichtung formuliert, die dann zur Grundlage der Aktion Ohne Rüstung Leben wurde: “Ich bin bereit, ohne den Schutz militärischer Rüstung zu leben. Ich will in unserem Staat dafür eintreten, dass Frieden ohne Waffen politisch entwickelt wird.” Es gab einen Aufruf “An alle Christen”, der sich auf den Satz von Nairobi beruft und sich auch nicht scheut, zwei Bibelworte zu zitieren:

“Glaubt ihr nicht, so werdet ihr nicht überleben.” Jesaja 7,9 “Christus hat in seiner Person die Feindschaft getötet. Er kam und verkündete Frieden.” Epheser 2,16-17.

Im Jahr 1975 war auch Pro Ökumene, Initiative in Württemberg gegründet worden. Der Aufruf “An alle Christen” wurde vor allem innerhalb dieser Organisation kritisch diskutiert. Auch andere Gruppen wurden zur Unterstützung gewonnen. Ab Mai 1978 wurde dann der Aufruf an die Öffentlichkeit gebracht - es hat schon jemand von einer neunmonatigen Schwangerschaft vor der Geburt der Aktion gesprochen.

Nachdem wir den Aufruf “An alle Christen” formuliert hatten, mussten wir auch versuchen, möglichst alle Christen damit zu erreichen. So haben wir den Aufruf z.B. in großen Zeitungen veröffentlicht. Beim Kirchentag in Nürnberg 1979 gab es dafür eine starke Resonanz. Am letzten Tag liefen viele Menschen mit der Plakette von Ohne Rüstung Leben herum.

Natürlich wollten wir noch mehr. Wir hatten uns auf einen Satz der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen berufen. Jetzt wollten wir den Aufruf allen Christen, die zum ÖRK gehörten, bekannt machen. Also fuhren am 21. Mai 1980 sechs Männer nach Genf, um dieses Anliegen vorzutragen. Wir hofften auf die weltweite Verbreitung unserer Idee durch den Ökumenischen Rat der Kirchen. Da wurden wir enttäuscht. Man versicherte uns zwar freundlich, dass solche Pazifisten wie wir durchaus auch einen Platz in der Kirche hätten, aber dass die Kirche nicht so pazifistisch wäre wie wir. So fuhren wir unverrichteter Dinge nach Hause. Trotzdem sind wir mit unserem Versuch, viele Menschen, auch Nichtchristen, zu erreichen, nicht erfolglos gewesen. Jahrelang kamen täglich die Selbstverpflichtungen bei mir in Fellbach an. 1986 hatten 26.000 Männer und Frauen aus Westdeutschland und auch einige aus der damaligen DDR die Selbstverpflichtung übernommen. Die Aktion Ohne Rüstung Leben verschickt noch heute viermal im Jahr ihre Informationen. Druckauflage der Nr. 113 waren 16.000 Stück. Gemessen an unserem Ziel “An alle Christen” ist dies natürlich fast nichts.

Erst recht scheint unsere Bemühung politisch vergeblich gewesen zu sein.

So, wie auch die Bitten des Vaterunsers vergeblich zu sein scheinen. Beten wir nicht seit fast zwei Jahrtausenden: “Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.”?

Wir beten doch nicht, dass wir in den Himmel kommen und daneben die Masse der Gottlosen in die Hölle verdammt wird, sondern wir beten, dass Gottes Reich zu uns auf die Erde kommen möge. Es ist doch klar, dass sich mit Gottes Reich auf Erden die Produktion von mörderischen Waffen, das Üben für den Krieg, das Gemetzel zwischen Frommen und Gottlosen, zwischen den Religiösen untereinander, nicht verträgt, jedenfalls nicht in dem Reich Gottes, das Jesus, des Zimmermanns Sohn, der eins ist mit Gott, verkündet. Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Das ist die politische Zielsetzung der Ökumenischen Aktion für Frieden und Gerechtigkeit Ohne Rüstung Leben. Wenn wir nicht aufhören, das Vaterunser zu beten, können wir auch nicht aufhören, für die politische Verwirklichung unserer Ziele einzutreten, wie utopisch sie immer erscheinen mögen.

Dritter Abschnitt: Heute, 60 Jahre nach Kriegsende

Ich bin am 1. Januar 1990, gleichzeitig mit Dekan Hardung aus Cannstatt, in den Ruhestand gegangen. Dekan Hardung war bei der Entstehung von Ohne Rüstung Leben von Anfang an dabei. Von ihm stammt der zweite Satz unserer Selbstverpflichtung: “Ich will in unserem Staat dafür eintreten, dass Frieden ohne Waffen politisch entwickelt wird.” Unser Eintritt in den Ruhestand fällt zusammen mit dem Ausgang des Jahres 1989, das riesige weltpolitische Umwälzungen brachte und die Hoffnung auf friedliche und bessere Zeiten für kurze Zeit beflügelte. Für mich waren die ersten zehn Jahre des Ruhestandes vor allem dadurch bestimmt, dass ich unsere Kirche kritisch von außen betrachtete.

1995 zogen wir in das stark pietistisch geprägte Schorndorf. Ich war - im Gegensatz zu meiner Frau - im kirchlichen Leben ganz passiv. Die einzige Veranstaltung, an der wir, so oft es ging, gemeinsam teilnahmen, war das Ökumenische Friedensgebet, das einmal monatlich am Sonntagabend reihum mit einem kleinen Kreis von Beteiligten in den Schorndorfer Kirchen stattfand.

Und dann wurde ich als alter Pfarrer doch noch einmal in der Kirchengemeinde aktiv. Alles hat wohl mit der großen Katastrophe am 11. September 2001 angefangen. Davon war auch ich so erschüttert, dass ich anregte, das monatliche Friedensgebet am Sonntagabend durch ein wöchentliches Ökumenisches Montagsgebet für den Frieden in der Welt zu ergänzen. So treffen wir uns, nach dem Vorbild des Montagsgebets in der Nikolaikirche in Leipzig, seit dem 3. Dezember 2001 an jedem Werktag-Montag außer in den Schulferien im Chor der Stadtkirche in Schorndorf zum Ökumenischen Montagsgebet für den Frieden in der Welt. Mit diesem Montagsgebet wollen wir zugleich die Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen zur Überwindung von Gewalt unterstützen, die für die Jahre 2001 - 2010 ausgerufen wurde.

Ein paar grundsätzliche Gedanken dazu:

  • Dietrich Bonhoeffer hat ja den bekannten Spruch geprägt, es käme in Zukunft nur noch auf zwei Dinge an: auf Beten und Tun des Gerechten. Ich frage: wie steht es eigentlich bei uns Friedensaktivisten mit dem Beten? Ich selbst hatte und habe dazu ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits erkenne ich, dass es keine monotheistische Religion ohne das Beten zu Gott gibt und geben kann, andererseits schrecken mich bestimmte Formen des Betens ab. Jesus selbst hat ja vor zu viel Plappern gewarnt. Sein Satz: “Wenn du betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu…” war mir immer besonders sympathisch.
  • Vor allem im jüdisch-christlichen Dialog habe ich gelernt, dass es eines ist, über Gott zu reden, Theorien zu entwickeln, Dogmatik zu formulieren - und ein anderes, zu Gott zu beten. Ich denke, dass die christliche Religion, wie jede andere, ohne Beten vertrocknet und abstirbt. Ohne lebendige “Liturgie” kann sie nicht lebendig bleiben. Aber freilich, die Liturgie kann auch tot sein. Sie kann falsch sein, wie auch die Predigt falsch sein kann. “Tu von mir weg das Geplärr deiner Lieder…” (Amos 5,23). Beten ohne Tun des Gerechten ist sicher sehr gefährlich. Das “Politische Nachtgebet”, das mit dem Namen von Dorothee Sölle verbunden ist, ist in meinen Augen durch die Bemühung gekennzeichnet, diesen Irrweg zu vermeiden.
  • Wenn wir umgekehrt zwar nach Gerechtigkeit trachten, aber das Beten als peinlich empfinden und unterlassen, dann werden wir wohl weder Bonhoeffer noch der Bibel, noch dem Bekenntnis gerecht werden - und auch nicht der Dekade zur Überwindung von Gewalt, die wir doch voranbringen wollen.

Alles weitere, was ich seit dem Jahr 2001 angefangen habe, hängt, so scheint mir, mit diesem Montagsgebet zusammen. Ich möchte zwei Beispiele erzählen, wie aus einer Handlung, wenn sie energisch angepackt wird, wie von selbst weitere Schritte hervorgehen können.

Erstes Beispiel: ein Offener Brief an Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar

Im September letzten Jahres erfuhr ich zum ersten Mal über Internet, dass der 21. September seit Jahren von der UNO als Internationaler Tag des Friedens begangen wird und dass der Ökumenische Rat der Kirchen erstmals seine Mitgliedskirchen aufruft, diesen Tag als Internationalen Tag des Gebets für den Frieden zu begehen. So haben wir uns beim Montagsgebet am 20. September das Anliegen der UNO und des ÖRK zu eigen gemacht und für den 21. September vorgeschlagene Gebete verwendet

Am gleichen Abend sahen meine Frau und ich in den ARD-Tagesthemen einen Bericht über den russischen General Kalaschnikow und sein berühmtes, in der ganzen Welt verbreitetes Gewehr. Ich hatte dabei immer das Gewehr vor Augen, das im nahen Oberndorf am Neckar produziert wird, mit dem in der ganzen Welt Menschen zu Tausenden getötet und verstümmelt werden. Es sollen inzwischen, seit 1950, mehr als 1,5 Millionen sein. Darüber hatten wir schon zuvor einen Vortrag von Jürgen Grässlin in der Volkshochschule Schorndorf gehört, aber daraufhin nichts Weiteres unternommen. Die Fabrik in Oberndorf war mir auch deswegen interessant, weil ich dort von 1952-1953 als Vikar wirkte. Am 24. September schrieb ich deshalb einen Offenen Brief an Heckler & Koch und verbreitete ihn, soweit es mir über Internet möglich war. Ich bekam viel privates Echo, aber keine Antwort aus Oberndorf oder Berlin, außer vom Religionsbeauftragten der CDU-CSU Fraktion. Auch von der EKD und den Landeskirchen kam nichts. Trotzdem halte ich es für richtig, dass ich den Brief und manches andere in dieser Sache geschrieben habe.

Die Sache mit der Kalaschnikow in den ARD-Tagesthemen hat mich auf den Gedanken gebracht, ich könne meinen offenen Brief an Heckler und Koch auch bei der ARD unterbringen. So habe ich mich in einem elektronischen Forum der ARD-Tagesschau registrieren lassen. Zum Offenen Brief an Heckler & Koch gab es dort 65 Beiträge. Und nachdem ich schon im Forum registriert war, gab ich am 24. Januar 2005 ein weiteres Diskussionsthema ein. Es heißt in der Fachsprache thread (= Faden). Mein Thema lautete: “Zur Auslegung des 5. Gebots: Du sollst nicht töten. .” Zu diesem Thema sind bisher, zusammen mit meinen eigenen, 217 Beiträge eingegangen.

Die Erfahrung, die ich im Internet gemacht habe, bringt mich zur Überzeugung, dass viele Leute, vor allem in kirchlichen Kreisen, dieses moderne Medium zu Unrecht verachten und verschmähen. Umgekehrt habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele Leute im Internet Gott, die Kirche, Jesus, die Bibel, das Beten und den Papst längst abgeschrieben und verächtlich in die Ecke geworfen habe. Und das halte ich für genau so verkehrt.

Zweites Beispiel, das mit dem Montagsgebet zusammenhängt: Ein Bibelkurs im CVJM

Ich hätte nie daran gedacht, dass ich im CVJM in Schorndorf noch einmal einen Bibelkurs über 12 Abende hinweg halten würde. Der Kurs ist am letzten Donnerstag zu Ende gegangen. Wie kam ich dazu? Ich habe es übernommen, für jeden Monat einen Bibeltext als Lesung für unser Ökumenisches Montagsgebet vorzuschlagen. Bei den fragenden und kritischen Leuten, die bei diesem Gebet zusammenkommen, ist das gar nicht einfach. Fast jeder biblische Text hat irgendein Haar in der Suppe, erregt so oder so Anstoß. Eigentlich müsste man über all diese Texte reden, hat aber keine Zeit dazu. So habe ich gedacht, wir sollten uns intensiver mit Bibeltexten beschäftigen - und so ist schließlich dieser Kurs im CVJM zustande gekommen.

Am fünften Abend lasen wir zu Beginn Texte von Heiligen Kriegen, die von Gott selbst befohlen und in seinem Namen geführt werden. Ich stellte die Frage, was wir einem Muslim antworten würden, der uns diese Texte vorhält. Ich habe noch vor dem 11. September 2001 in einem knappen Jahr auch den ganzen Koran gelesen. Darin gibt es bekanntlich auch Aufforderungen zum Heiligen Krieg. Es ist aber so, dass die biblischen Texte an Zahl, Brisanz und drastischer Schilderung diese Texte im Koran weit übertreffen. Es ist nach meiner Überzeugung viel leichter, den Heiligen Krieg aus der Bibel als aus dem Koran zu rechtfertigen. Und wie oft ist die Gewalt im Christentum mit Texten der Bibel gerechtfertigt worden! Ich bin aber überzeugt, dass die gleiche Bibel uns auch den Weg zur Überwindung von Gewalt aufzeigt - und das sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament.

Es waren sicher die Erfahrungen vor 60 Jahren, am Ende des Zweiten Weltkriegs, die mich zum Pazifisten gemacht haben und mich unausgesetzt danach fragen lassen, wie dieses Erzübel, der Krieg, überwunden werden kann.

Ich möchte jetzt noch darlegen, welche Wege dazu ich im Alten und im Neuen Testament finde und dabei einerseits auf die schon erwähnte Diskussion über das 5. Gebot zurückkommen, andererseits auf die Entwicklung im Römischen Katholizismus, wie ich sie sehe.

Im Alten Testament stehen die 10 Gebote, darunter das fünfte nach unserer Zählung: “Du sollst nicht töten.”

Würde dies Gebot von allen Menschen ernst genommen, so gäbe es keine Kriege mehr, in denen Menschen töten und getötet werden. Wenn wir Soldaten oder Militärseelsorgern, jüdischen und christlichen Theologen und Theologinnen und vielen anderen Leuten das fünfte Gebot vorhalten, so pflegen sie zu sagen: wörtlich heiße es gar nicht: “Du sollst nicht töten”, sondern: “du sollst nicht morden”. Diese Aussage wird auch durch die neueren Bibelübersetzungen bestätigt.

“Echte Morde” kommen aber in Wirklichkeit sehr selten vor. Dagegen türmen sich die Toten auf den Schlachtfeldern zu Millionen. So gibt es auch wenig “echte Mörder”, die einen Mord tückisch planen und heimlich ausführen, dagegen ganze Armeen von Menschen, die im Lauf ihres Lebens Mitmenschen auf Befehl getötet haben und Armeen die auf Befehl getötet wurden. Gilt das 5 Gebot nur für den heimtückisch geplanten Mord, so ist die Masse der Menschheit aus dem Schneider und kann ihre Hände in Unschuld waschen. Nun hat es Kriege immer gegeben und sie gelten angesichts der Aggressivität des Menschen als unausrottbar. Diese Kriege gehen seit Menschengedenken von der Formel Schlag und Gegenschlag aus. Bevor du mich totschlägst, schlage ich dich tot. Wenn uns ein fremdes Volk überfällt, haben wir das Recht und die Pflicht, zurückzuschlagen.

Gewiss gibt es Bemühungen, die Vergeltung einzudämmen. Dazu gehört schon das Wort “Auge um Auge, Zahn um Zahn”. Die Vergeltung soll nicht maßlos sein. Dazu gehören auch die Bestimmungen der Genfer Konvention, dass zum Beispiel bestimmte Waffen nicht verwendet werden oder Kriegsgefangene nicht getötet oder misshandelt werden dürfen. Aber das Prinzip Schlag und Gegenschlag wird für den Notfall nirgends in Frage gestellt. Krieg als ultima ratio, als Notlösung, ist immer möglich und erlaubt. Das gilt auch für die Charta der Vereinten Nationen, die sehr friedlich beginnt, aber in Kapitel VII für den Ernstfall doch den Krieg mit Luft- See- und Landstreitkräften vorsieht. Und wann ist Ernstfall? Wann beginnt die Verteidigung? Zulässig ist nach geltendem Recht auch der Präventivkrieg, in dem man einem unmittelbar bevorstehenden Angriff eines Feindes zuvorkommt. Neuerdings macht sich die US-Administration unter Bruch des geltenden Rechts auch für den Präemptivkrieg stark (vgl. Publik-Forum 8/2005 “Ein Angriffskrieg zur Verteidigung?”). Ein fremdes Land soll frühzeitig der Fähigkeit beraubt werden, einen Krieg zu führen, indem zum Beispiel seine Atomanlagen durch einen Überraschungsangriff zerstört werden.

Ich komme auf die Geschichte unserer Familie vor 60 Jahren zurück. Sie wurde ein Opfer der Regel Schlag und Gegenschlag. Meine beiden älteren Brüder folgten dem Befehl des Führers, den Feind zu schlagen, der Ältere, Gerhard, in Russland, der Jüngere, Helmut, in Italien. Meine Eltern und meine Schwester Elfriede wurden ein Opfer des alliierten Gegenschlages beim Luftangriff auf Heilbronn. Das Prinzip Schlag und Gegenschlag ist, wie die Erfahrung lehrt, nicht einzudämmen. Im atomaren Zeitalter wird es schließlich die Menschheit vernichten. Davon ist Wolfgang Sternstein überzeugt. Er hat immer wieder mit Methoden des Zivilen Widerstandes, bei denen er sich auf Gandhi beruft, gegen die atomare Rüstung gekämpft und ist dafür oft im Gefängnis gesessen. Auf den letzten Seiten seiner jüngst erschienenen Selbstbiografie schließt er sich Günter Anders an, der nach dem Holocaust der Juden den Holocaust der Menschheit am Horizont heraufziehen sieht (S; 478) Auch Sternstein rechnet mit der ultimativen Katastrophe des atomaren Weltkriegs (S. 481).

Käme es so weit, so wäre ohne Zweifel auch Gott mit seinen zehn Geboten gescheitert, vor allem mit dem Gebot “Du sollst nicht töten”, weil sich die Menschheit schließlich selber umbringt. Aber vielleicht will Gott die mörderische Menschheit gar nicht retten, sondern strafen und vernichten?

Und nun noch Das Neue Testament. Es enthält - trotz allem - die Botschaft, die mir Grund zur Hoffnung gibt.

Die Christenheit bekennt sich zu Jesus Christus als ihrem Heiland und Erlöser. Wenn man gläubige Christen fragt, worin die Erlösung besteht, antworten manche, dass sie im Glauben an Christus die Vergebung der Sünden und Friede für ihre Seele gefunden haben und die vollendete Erlösung im Jenseits erwarten. Ich sage dazu: Wenn der “Friede der Seele” auch viel Unruhe, Ängste und Zweifel zulässt, kann ich mich diesem Glauben anschließen. Aber meine Hoffnung geht über diese Erlösungshoffnung für mich selbst weit hinaus.

Ich sehe in Jesus von Nazareth vor allem den letzten großen Propheten Israels, der sein Volk und alle Völker von der verheerenden Fessel und Formel Schlag und Gegenschlag befreit.

Wann immer wir von der Bergpredigt sprechen, meinen wir auch diese Befreiung. Jesus hat den Schlag seiner Feinde erlitten und wurde gekreuzigt. Wer davon überzeugt ist, dass er mit seinem Gebot und Beispiel, den Feind zu lieben und Böses mit Gutem zu vergelten, gescheitert ist, wird auch die Hoffnung für die Welt und die Bewahrung der Menschheit vor dem Selbstmord, aufgeben müssen.
Jesus konnte seinen Weg gehen, weil er davon überzeugt war, dass Gott selbst nicht nach der Formel Schlag und Gegenschlag handelt. Er war dessen gewiss, dass Gott seine Feinde, die ihn lästern und sich gegen ihn empören, nicht vernichtet, sondern ihnen Gutes tut und ihre Feindschaft überwindet.

Wer sich zur Auferstehung Jesu bekennt, hat eine Hoffnung für die ganze Welt. Er zerbricht nicht nur für sich selbst die Formel Schlag und Gegenschlag. Er hält daran fest, dass Gott selbst auf diesem Weg der Menschheit eine neue Zukunft eröffnet.

Ich möchte nicht mit diesen dogmatischen Sätzen schließen, sondern, wie angekündigt, noch auf die Entwicklung im Römischen Katholizismus zu sprechen kommen. Die Älteren erinnern sich vielleicht daran, dass der Pazifist Martin Niemöller die Bundesrepublik unter Konrad Adenauer mit dem Satz beurteilte: “In Rom gezeugt, in Washington geboren.” Und wie er für seinen Kampf gegen die Atombombe im deutschen und römischen Katholizismus keinen Beistand fand. Wir wissen alle, dass Rom mit großer Schärfe das Töten der noch nicht Geborenen im Mutterleib immer verurteilte, aber vom Pazifismus, vom Verbot des Tötens im Krieg, lange nichts wissen wollte oder verlauten ließ.

Anders der verstorbene Papst Johannes Paul II. Ich berufe mich auf eine seiner letzten Äußerungen, die ich als sein Vermächtnis betrachte: seine Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2005. Sie bezieht sich auf Worte des Apostels Paulus aus Römer 12 und ist in der Sprache des Vatikans abgefasst. Sie enthält aber nach meiner Überzeugung und Auffassung genau die Botschaft Jesu von der Überwindung der Gewalt.

Ich zitiere den Papst:

  • “Der einzige Weg, um aus dem Teufelskreis des Bösen durch das Böse herauszukommen, liegt in der Annahme des Apostelwortes: ?Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!’” (Römer 12,21).
  • “Die Logik der christlichen Liebe, die im Evangelium den Herzschlag des sittlich Guten bestimmt, drängt, konsequent zu Ende gedacht, sogar zur Feindesliebe: ‘Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken.’” (Römer 12,20)
  • “Um das Gut des Friedens zu erlangen, muss vollen Bewusstseins festgehalten werden, dass Gewalt ein inakzeptables Übel ist und niemals Probleme löst.”

Lässt sich angesichts solcher Worte das Töten im Krieg, auch im Verteidigungskrieg, in dem der Angegriffene die gleichen tötenden Waffen wie der Angreifer verwendet, noch rechtfertigen? Muss die katholische, (das bedeutet die weltweite) Kirche angesichts solcher Worte nicht alle Männer und Frauen zur Kriegsdienstverweigerung aufrufen, genau so, wie sie sich verpflichtet fühlt, alle Frauen vor der Abtreibung zu warnen?

Und was sagt der neugewählte Papst Benedikt XVI. zu der Friedensbotschaft seines Vorgängers?

Die Umkehr aller Christen, aller Kirchen, deren Geschichte durch viele Gewalttaten verdunkelt ist, auf den Weg des Friedens, könnte zu ihrer Glaubwürdigkeit und zum Leuchten des Evangeliums in der Welt viel beitragen.

Ich schließe mit einem Leserbrief für die Waiblinger Kreiszeitung (Schorndorfer Nachrichten) vom 28. April:

Ich bin als evangelischer Pfarrer kein Verteidiger des Papsttums. Ich verehre nicht kritiklos den jetzt verstorbenen Papst Johannes Paul II. und ich habe große Vorbehalte gegenüber dem neu gewählten Benedikt XVI. Trotzdem habe ich von ganzem Herzen begrüßt, dass die Römisch-Katholische Kirche in der Gestalt von Johannes Paul II. eine grundsätzliche Position zum Krieg eingenommen und vertreten hat, die allein auf eine wirkliche Überwindung der Jahrtausende alten Institution des Krieges hoffen lässt. So hat Johannes Paul II. in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2005 in eindeutiger Weise jede Gewalt geächtet und die Hoffnung vieler Christen erfüllt, dass die christliche Kirche endlich damit aufhören möge, Kriege zu rechtfertigen oder gar zu segnen. Ich möchte den neuen Papst vor allem darin an seinem Vorgänger messen.

Die christliche Kirche überdauert mit anderen Religionen Jahrtausende, obwohl sie ohne militärische Rüstung lebt oder vielmehr, weil sie, wie die anderen Religionen, auf militärische Rüstung und Verteidigung gar nicht eingerichtet ist. Warum brauchen Juden, Christen und Muslime, die auf die Macht ihres Gottes vertrauen, eine Armee? Warum folgen sie als Soldaten und neuerdings als Soldatinnen dem Befehl ihrer Regierungen, den “Feind” zu stellen, zu verfolgen und zu töten? Warum stellen sie als Arbeiter und Arbeiterinnen die Waffen her, mit denen gegen das Liebesgebot ihres Meisters Jesus von Nazareth, fremde Menschen wahllos getötet werden?

Werner Dierlamm

Veröffentlicht am

23. Mai 2005

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