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Russell-Einstein-Manifest: Eine Welt ohne Krieg

Ein Ehrerweis des letzten noch lebenden Unterzeichners des Russell-Einstein-Manifests an Einsteins Suche nach dem Weltfrieden

Von Joseph Rotblat

Zehn Jahre nach Hiroshima, als das Ausmaß der Bedrohung, die sich aus der Erfindung von Nuklearwaffen ergab, abzuschätzen war, versuchte eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Führung von Bertrand Russell und Albert Einstein, die Regierungen und die Öffentlichkeit zu warnen. Die enorme Betroffenheit angesichts der nuklearen Bedrohung mündete in ein öffentliches Statement, das als Russell-Einstein-Manifest bekannt wurde. Die Unterzeichnung dieses Manifests war eine der letzten Handlungen in Einsteins Leben: “Wir sprechen”, heißt es darin, “aus diesem Anlass nicht als Mitglieder dieser oder jener Nation, eines Kontinents oder eines Glaubensbekenntnisses, sondern als Mitglieder der Spezies Mensch, deren Fortbestand gefährdet ist.” Und weiter: “Hier nun ist das Problem, mit dem wir Sie konfrontieren wollen, schlicht und furchtbar und unausweichlich: Sollen wir einen Schlussstrich unter die menschliche Rasse ziehen oder soll die Menschheit dem Krieg abschwören?”

Ich bin nun der einzige Überlebende der elf Unterzeichnenden des Russell-Einstein-Manifests, und als solchem ist es meine Pflicht und sogar meine Mission, diese Fragen weiterhin an die Öffentlichkeit zu richten. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der ideologischen Polarisierung ist die nukleare Bedrohung geringer geworden, aber nicht verschwunden. Die atomaren Arsenale wurden zwar verkleinert, aber noch immer sind genügend Sprengköpfe mit hochempfindlichen Auslösern bestückt, die, bewusst, durch falschen Alarm oder durch einen anderen Zwischenfall abgefeuert, unabsehbare Folgen haben würden. Diese Gefahr existiert so lange wie nukleare Waffen existieren. Robert McNamara, der US-Verteidigungsminister, drückte das während der Kubakrise folgendermaßen aus: “Die unberechenbare Verbindung von Nuklearwaffen und menschlicher Fehlbarkeit wird zu einem nuklearen Schlagabtausch führen”.

Aber selbst wenn alle nuklearen Waffenarsenale vernichtet würden, wäre die Sicherheit der Menschheit nicht gewährleistet. Die Erfindung von Nuklearwaffen kann nicht wieder rückgängig gemacht werden; das Wissen um ihre Herstellung ist aus unserem Gedächtnis nicht zu löschen. Sollte eines fernen Tages ein ernsthafter Konflikt zwischen künftigen Großmächten auftreten, würde der Wiederaufbau nuklearer Arsenale nicht lange auf sich warten lassen, und wir befänden uns wieder in der Situation des Kalten Krieges.

Darüber hinaus mag der wissenschaftliche Fortschritt neue Massenvernichtungsmittel auf den Weg bringen, die vielleicht noch gewaltiger, noch besser verfügbar sind. Wir wissen um die Möglichkeiten der biologischen Kriegsführung, in deren Rahmen die genetische Manipulation von Krankheitserregern erschreckend bösartige Angreifer hervorbringen könnte. Es könnte aber auch noch ganz andere Entwicklungen geben. So wie wir das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung nicht vorhersehen können, ist auch das destruktive Potenzial ihrer militärischen Anwendungen nicht abzuschätzen. Alles, was wir sagen können, ist, dass die Gefahr real ist.

Es ist wichtig, sich weiterhin um Abkommen zu bemühen, mit dem Ziel, Massenvernichtungswaffen zu zerstören und damit eine direkte Gefahrenquelle zu beseitigen. Auf lange Sicht gesehen reicht das nicht aus. Um die Zukunft der Menschheit zu sichern, müssen wir nicht nur die Instrumente der Kriegsführung vernichten, sondern den Krieg selbst. So lange der Krieg eine anerkannte gesellschaftliche Einrichtung ist und so lange Konflikte mit militärischen Mitteln gelöst werden, besteht die Gefahr, dass ein Krieg, der als lokaler Konflikt beginnt, zum Beispiel in Kaschmir, weltweit eskaliert und Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen. Die Wahrscheinlichkeit mag sehr gering sein, aber die Folgen wären so gewaltig, dass wir alles tun müssen, was in unserer Macht steht, um das Risiko auszuschalten. Im Nuklearzeitalter können wir Kriege nicht länger dulden, nicht einen einzigen. Da die Zukunft unserer menschlichen Spezies auf dem Spiel steht, ist jeder von uns betroffen. Eine Welt ohne Krieg ist zu einer äußersten Notwendigkeit geworden. Sie zu erschaffen, muss zu unserem unerschütterlichen Ziel werden.

Doch ist eine Welt ohne Krieg überhaupt möglich? Für viele Menschen ist dies eine wirklichkeitsfremde Vorstellung, eine unrealisierbare Vision. Selbst diejenigen, die eine nuklearwaffenfreie Welt wollen, lehnen die Vorstellung von einer Welt ohne nationale Bewaffnung als nicht machbar ab.

Solche Haltungen sind nicht überraschend, wenn man bedenkt, das die zivilisierte Gesellschaft von Anfang an durch die römische Maxime: Si vis pacem para bellum - wenn Du Frieden willst, bereite Dich auf den Krieg vor - beherrscht wurde. Wir haben diese ungeachtet der Tatsache befolgt, dass in der gesamten Menschheitsgeschichte die Vorbereitung auf den Krieg nicht Frieden, sondern Krieg gebracht hat. Mit dem Aufkommen der Tötungsmaschinerie scheint sich diese Maxime geändert zu haben in ein si vis pacem para armas - wenn Du Frieden willst, bleibe bis zu den Zähnen bewaffnet. Um den Frieden zu wahren, häuften die beiden Supermächte riesige nukleare Arsenale an, und diese Politik setzt sich nun mit nur einer Supermacht fort.

Dagegen müssen wir die alte römische Maxime durch eine neue, für das Überleben im Dritten Millennium unentbehrliche ersetzen: Si vis pacem para pacem - wenn Du Frieden willst, bereite Dich darauf vor. Dies verlangt zwei Anstrengungen: einerseits einen neuen Versuch von Sicherheit im Sinne von globaler Sicherheit; andererseits die Entwicklung und Pflege eines neues Verantwortungsbewusstsein der Menschheit gegenüber.

Das Hauptproblem bei der Sicherung des Weltfriedens wird darin bestehen, konventionelle Kriege zwischen Nationen und den Einsatz militärischer Mittel als Konfliktlösung zu verhindern. Dazu muss deren nationale Souveränität begrenzt und möglicherweise auch die Charta der Vereinten Nationen, die auf dem Begriff souveräner Nationalstaaten basiert, verändert werden.

Die Aufgabe von Souveränitätsrechten mag für die meisten Menschen unannehmbar sein. Doch ein gewisser Souveränitätsverzicht ist in einer Welt, die auf gegenseitiger Abhängigkeit beruht, schon heute selbstverständlich. Jeder internationale Vertrag, den wir unterzeichnen, jede ökonomische Übereinkunft ist eine Aufgabe von Souveränität im Interesse der Weltgemeinschaft. In diesen Komplex gehört auch der Schutz der Menschheit. Insbesondere wird das Recht des Staates, Krieg zu führen, beschnitten werden müssen. Die nationalen Streitkräfte müssen einer einzigen, mit Polizeibefugnissen und globaler Autorität ausgestatteten Macht, die für das Weltgleichgewicht sorgt, weichen. Eine Form von Weltregierung - wie von Albert Einstein befürwortet - scheint ein notwendiges Resultat der Entwicklung der Vereinten Nationen zu sein.

Auf dem Weg dahin müssen wir eine neue Verantwortung für die Menschheit anstreben. Als Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft hat jeder von uns Verantwortung gegenüber den Gruppen entwickelt, in denen wir leben. Im Verlauf der Geschichte haben wir diese auf immer größere Gruppen ausgedehnt, von unserer Familie auf unsere Nachbarschaft, auf unser Dorf, unsere Stadt, unsere Nation. Ich sollte betonen, dass die Verpflichtung einer größeren Gruppe gegenüber die Verantwortung für die kleineren Gruppen nicht ersetzt. Gegenwärtig ist die größte Gruppe unsere Nation. Dort endet unsere Verantwortung heute. Ich behaupte, dass die Zeit gekommen ist, sich der Verantwortung für die gesamte Menschheit zu stellen.

Besonders wichtig auf diesem Weg ist der Fortschritt der Informationstechnologie. Die Internettechnologie ermöglicht es uns, weltweit mit Menschen zu kommunizieren. Sie verschafft uns Zugang zu unendlichen Informationsquellen und die Mittel, unser eigenes Wissen oder unsere Ideen einzubringen. Die Informationstechnologie hat wirklich damit begonnen, die Welt in ein globales Dorf zu verwandeln: wir kennen einander, wir machen Geschäfte miteinander; wir sind voneinander abhängig; wir versuchen einander zu helfen. Wir werden zwangsläufig Weltbürger.

Die Nutzung von Wissenschaft und Technik, im Positiven wie im Negativen, haben Notwendigkeit und Gelegenheit geschaffen, das von Einstein befürwortete Konzept einer Weltregierung voranzutreiben. Es gibt das Bedürfnis nach einer Erziehung, die auf die Verantwortung für die Menschheit abzielt; das Bedürfnis, die menschliche Gattung zu erhalten und den Fortbestand unserer Zivilisation zu gewährleisten.

Im Laufe von Jahrtausenden hat die Menschheit eine großartige Zivilisation hervorgebracht; sie hat eine reiche und mannigfaltige Kultur entwickelt; sie hat große Schätze an Kunst und Literatur angehäuft und eine großartige Wissenschaft geschaffen. Es ist in der Tat die höchste Ironie, dass die intellektuellen Leistungen der Menschheit die Werkzeuge für ihre Selbstzerstörung geliefert haben und eine Gesellschaft, die bereit ist, ihren Einsatz zu erwägen.

Natürlich dürfen wir es nicht zulassen, dass dies passiert. Als Menschen ist es unsere hervorragende Pflicht, menschliches Leben zu bewahren, um den Fortbestand der menschlichen Rasse zu sichern.

Ein nuklearer Holocaust scheint uns nicht bevorzustehen. Obwohl wir ihm während des Kalten Krieges verschiedentlich nahe gekommen sind, sind wir jetzt etwas vorsichtiger geworden. Doch der Krieg ist noch immer eine anerkannte soziale Institution, und jeder Krieg bringt die Möglichkeit einer Eskalation mit fatalen Folgen für unsere Spezies mit sich. In einer Welt mit Massenvernichtungswaffen, deren Gebrauch die gesamte Zivilisation beenden könnte, können wir uns keine ideologisch polarisierte Gemeinschaft und die damit verbundene Gefahr militärischer Konfrontationen leisten. Im Zeitalter der Wissenschaft ist eine globale parteilose Gemeinschaft, der wir alle als Weltbürger angehören, eine Lebensnotwendigkeit geworden.

In diesem Gedenkjahr, in dem wir die großen Entdeckungen würdigen, die Einstein zu Beginn seines Lebens als Wissenschaftler machte, sollten wir uns ebenso seiner Anstrengungen an seinem Lebensende erinnern, eine Welt ohne Krieg zu schaffen.

Übersetzung: Birgit E. Kretzer-Theurer, Georg Kasch


Russell-Einstein-Manifest

Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe auf Japan und des anschließenden nuklearen Wettrüstens zwischen den USA und der Sowjetunion formulierte der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell 1955 ein Manifest , in dem er die bewusste Entscheidung gegen bewaffnete Konflikte forderte. Es rief insbesondere die Wissenschaftler dazu auf, die Gefahren der atomaren Bewaffnung zu erkennen: “Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Mit welchen Maßnahmen kann ein militärischer Wettbewerb verhindert werden, der für alle Parteien katastrophal enden muss?” Das Manifest wurde neben Russell von zehn weiteren namhaften Wissenschaftlern unterzeichnet, darunter Albert Einstein und Joseph Rotblat. Es wurde zum Grundstein der Pugwash-Konferenz , die sich seit 1957 für nukleare Abrüstung einsetzt.


Der Text von Joseph Rotblat (stark gekürzt) erscheint demnächst in dem von Reiner Braun und David Krieger herausgegebenen Band Einstein - Peace Now (Melzer/Wiley), in dem 15 Träger des Nobelpreises und des Alternativen Nobelpreises Einsteins Bemühungen um weltweiten Frieden würdigen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 16 vom 22.04.2005.

Anmerkung:

1995, fünfzig Jahre nach Hiroshima und Nagasaki, wurde Joseph Rotblat stellvertretend für die “Pugwash Conferences on Science and World Affairs” (die entscheidenden Anteil am Atomteststopp im Jahre 1963 und dem Atomwaffensperrvertrag hatten) der Friedensnobelpreis verliehen.

Veröffentlicht am

27. April 2005

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