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Mit Gott für Kaiser und Vaterland? Der erste Weltkrieg, wie Christen ihn erlebt und gedeutet haben

Von Markus Baum - Sendemanuskript

Der 28. Juli des Jahres 1914 war ein Dienstag. Österreichs Kriegserklärung an Serbien löste eine ganze Lawine von Maßnahmen und Entscheidungen aus in anderen europäischen Hauptstädten. Binnen weniger Tage machten auch Russland, Deutschland und Frankreich mobil. Die Kampfhandlungen begannen am 2. August mit der Besetzung Luxemburgs durch deutsche Truppen ohne Kriegserklärung; einen Tag später überschritten starke Verbände die Grenze zu Belgien, und damit sah sich auch Belgiens Bündnispartner England zum Kriegseintritt genötigt. 43 Jahre Frieden in Europa waren abrupt beendet. Kaiser Wilhelm II sah sich mit einem Mal im Krieg mit seinen Cousins Zar Nikolaus II. von Russland und Georg V. von England. Und das alles aufgrund vielfältiger wechselseitiger Beistandsverpflichtungen und Bündnisse.

Am 6. August 1914, am Sonntag nach Kriegsausbruch, wandte sich der Kaiser in einer Erklärung “An das deutsche Volk”: “Wir werden diesen Kampf bestehen gegen eine Welt von Feinden! Noch nie war Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war!”

“Gott mit uns” - das stand denn auch auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten. Allerdings: Auch Franzosen, Russen, Engländer - auch sie haben Gott jeweils auf ihrer Seite gesehen. Haben seinen Beistand herabgerufen auf ihre Heere.

Von Anfang an zeichnete sich ab, dass dieser Krieg anders werden würde als alle bisherigen. Mit England, Frankreich und Deutschland kämpften drei Kolonialmächte. Ihre Einflussshpäre erstreckte sich weit über Europa hinaus über ganz Afrika, bis nach Süd- und Ostasien. Innerhalb weniger Wochen wurden auch die hintersten Winkel dieser Kolonialreiche vom Krieg erfasst.

Schon im ersten Kriegsmonat wurde der Begriff “Weltkrieg” geprägt. Und da wusste noch keiner, was das bedeuten würde. In den folgenden Tagen, Wochen, Monaten traten Bulgarien und die Türkei in den Krieg ein auf Seiten Österreichs und Deutschlands; auf Seiten der Entente Italien, Griechenland, Rumänien, Portugal, Japan auf Seiten der Entente, dazu kamen kanadische und australische Verbände und Kolonialtruppen aus Indien und Afrika. Und am Ende die USA. Aber das war Anfang August 1914 alles noch nicht absehbar.

Die europäischen Nationen stürzten sich mit unvorstellbarer Begeisterung in den Kampf. Eine Art Taumel erfasste die Menschen - und die Christen in England, Frankreich und Deutschland, in Russland und Österreich? Sie taumelten mit. Zigtausende bekennende Christen meldeten sich freiwillig zu den Waffen; allerorten ertönte von den Kanzeln schon noch Evangelium, aber gründlich vermengt mit vaterländischem Pathos.

Nur ganz wenige Christen haben sich dem patriotischen Fieber entziehen können. Und nur einzelne haben offen gegen die Verherrlichung des Krieges Stellung bezogen. In Deutschland gehörte eine dieser seltenen Stimmen Christoph Blumhardt, dem Reich-Gottes-Theologen und Hausvater im schwäbischen Bad Boll:

“Hütet euch vor dem Haß, der vertilgen und vernichten will! … 1 - Wir haben alle Schuld an diesem Krieg. Alle Völker haben mitgearbeitet, dass er endlich zum Ausbruch kam.” 2

Eine neutrale Stimme war die des Erzbischofs von Uppsala und damit Primas der schwedischen lutherischen Staatskirche, Nathan Söderblom. Er hat im September 1914 einen flammenden Appell an die protestantischen und die orthodoxen Kirchen der Welt gerichtet. Aber sein “Aufruf für Frieden und christliche Gemeinschaft” fand nicht den erhofften Widerhall. Nahezu jede angesprochene Kirche in jedem Land sah die Schuld bei den jeweils anderen. Rechtfertigte den Ruf zu den Waffen mit dem Verweis auf die patriotische Pflicht. Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf - fast unwidersprochen.

I. Begeisterung und Verklärung

“Der Ruf der Zeit ist ein Ruf zur vaterländischen Pflicht. Diese vaterländische Pflicht ist für den Christen Gottesdienst und Christusdienst.” - So äußerte sich der Kieler Theologieprofessor Erich Schaeder auf einer christlichen Studentenkonferenz im zweiten Kriegsjahr. Die Aussage ist bezeichnend für die Stimmung in der deutschen Christenheit von Beginn des Krieges an. Der Krieg weckte Begeisterung - und wurde sogleich verklärt in einer Art und Weise, die uns heute sehr befremdet. Ohne viel Federlesens haben die deutschen Christen Gott für ihre nationale Sache reklamiert. Theologen und andere christliche Gelehrte, aber auch christliche Politiker wie der spätere Reichskanzler Georg Michaelis: sie haben das Weltgeschehen als Handeln Gottes gedeutet. Das “Evangelische Allianzblatt” machte am 27. September 1914 auf mit einem Artikel über “Gottes Sprache in ernster Zeit”: “In dem Donnern der Kanonen, in den Kriegen und Empörungen unserer Tage, in dem Sterben so vieler Tausende liegt eine Sprache der Ereignisse, in welcher Gott selbst sein Wort bestätigt und mit heiligstem Ernst den Herzen nahe bringt. … Die Weltgeschichte ist das Weltgericht… Gott will, dass wir diesen schwersten Krieg, den die Menschheitsgeschichte gekannt hat, als einen Beweis seiner Gütigkeit, Geduld und Langmut erkennen lernen. … Die Masse der Feinde um unser Vaterland, das demütig vertrauende Bekenntnis unsres Kaisers, das Wunderbare unserer großen Siege - und nicht zum wenigsten auch unsere Verluste -, das alles soll uns zu der beugenden Anbetung bringen, dass wir Gott allein die Ehre geben…”

Der Artikel war offensichtlich geschrieben worden unter dem Eindruck der siegreich beendeten Schlachten von Tannenberg und an den Masurischen Seen. Als er in Druck ging, war es allerdings vorbei mit den großen Siegen. Die Marne-Schlacht Mitte September hatte nicht den erhofften Durchbruch des deutschen Heeres gebracht; die verfeindeten Armeen krallten sich im Boden fest und gruben sich ein. Das große Sterben hatte begonnen - in Galizien und in Flandern, in Nordfrankreich und in Kurland. Gottes Gütigkeit, Geduld und Langmut?

In der Heimat bekam man von den wahren Vorgängen auf den Schlachtfeldern nur wenig mit. Dafür wurden Legenden gesponnen. Auch in christlichen Blättern. Z.B.:

“Deutschland ist durch der Gegner falsches und heimtückisches Gebaren mit hineingezogen und … schließlich genötigt worden, auch seinerseits das Schwert zu ergreifen.” 3

Der Kriegsgegner wurde diffamiert und schlecht gemacht. Auch christliche Zeitschriften gaben sich für Propaganda her: In Deutschland wurde gegen das englische “Händlertum” gewettert, gegen den angeblich in England herrschenden “Geldgeist”. Christliche Autoren in England revanchierten sich mit Ausfällen gegen die “kulturlosen Hunnen” und gegen die “deutsche Barbarei”. Bis ins dritte Kriegsjahr hinein steigerten sich die antienglischen Vorwürfe bis ins Bizarre. In der Zeitschrift “Der Hilfsbote” gerieten schließlich sogar die beliebten Heilslieder aus der englischen Erweckungsbewegung ins Fadenkreuz: “Man denke an Lieder wie ‘Welch Glück ist’s, erlöst zu sein’ oder ‘Ich weiß einen Strom, dessen herrliche Flut…’: All diesen Liedern fehlt die klare und bestimmte Verkündigung des Herrn in seinen Taten und Worten… - Die große Befreiung von der Oberflächlichkeit des englischen Liedes konnte nur durch ein so gewaltiges Ereignis wie diesen Krieg erwirkt werden. Wir erhoffen uns davon eine Neubelebung deutschchristlicher Dichtung und deutschgeistlicher Musik… 4

Christliche Autoren haben es damals geschafft, im einen Atemzug dumpfe Ressentiments zu pflegen - und im nächsten äußerst idealistische Ziele zu beschwören. So hat etwa der Evangelist und Publizist Eberhard Arnold in seinem Buch “Der Krieg, ein Aufruf zur Innerlichkeit” geschrieben: “Schon mehren sich die Stimmen, die diesen Krieg als einen Eingriff der Regierung Gottes verstehen, um den ungeheuren Verlusten an Innerlichkeit zu steuern, die uns die letzten Jahrzehnte gebracht haben… Habsucht und Neid in England, Herrschsucht und Gewalt in Russland, Stolz und Rache in Frankreich sind die Feinde, die wir zu überwinden haben.” 5

An der Somme und in der Champagne, vor Ypern, Lemberg und Gallipoli - da ging es demnach also gar nicht um leibhaftige französische, britische, russische Gegner? Da wurde um hohe Ideale gekämpft - mit Maschinengewehren und Handgranaten, mit dem blanken Bajonett und notfalls auch mit Giftgas? Im Namen und im höheren Auftrag Gottes? Das jedenfalls ist ernsthaft diskutiert worden in erwecklichen christlichen Kreisen.

Die Christen stellten alles, auch ihre Bücher und Zeitschriften, in den Dienst der nationalen Sache: Christliche Bücher und Traktate erschienen in die schwarz-weiß-roten Nationalfarben gewandet. Der Rostocker Luther-Forscher Wilhelm Walther veröffentlichte ein Auswahlbändchen mit einschlägigen Luther-Zitaten unter dem Titel “Deutschlands Schwert durch Luther geweiht”. Der Redakteur des Evangelischen Allianzblattes und spätere Vorsitzende der Evangelischen Allianz Gerhard Nagel brachte Broschüren heraus unter Überschriften wie “Der lebendige Gott im Sturme der Zeit” oder auch “Durch Blut und Eisen”. Darin verband er Bibelzitate und Christologie mit vaterländischem Gedankengut von Fichte, Bismarck und Ernst-Moritz Arndt. 6

Als eher erbauliche Lektüre sollten Erlebnisberichte dienen wie etwa das Büchlein “Feldpredigerfahrten an der Westfront”. Das wurde in christlichen Blättern folgendermaßen empfohlen: “Die Kriegserlebnisse eines Feldgeistlichen, so lebendig, spannend und frisch ist es geschrieben, dass jedes dieser Bilder sich ganz unvergesslich einprägt. Dazu ist es von einer ganz prachtvollen Fröhlichkeit durchsonnt, die alles, auch das Schwerste, das Sterben und den Tod verklärt im Licht der Ewigkeit…” 7 . Selbst für säbelrasselnde Propaganda war Platz in christlichen Verlagen: “Munition - Bilder aus der Rüstungsindustrie… Ein ergreifender, aufrüttelnder, besinnlich machender Gang durch unsere dröhnende Waffenschmiede, den ‘Tempel des Volkes’.”

Bis in die bildende Kunst hinein wurde die heldenhafte Pose beschworen. So hat eine christliche Zeitschrift im Sommer 1916 Albrecht Dürers Kupferstich “Ritter und Drache” abgedruckt. Nun musste nur noch die Frage geklärt werden: wer war der erlegte Lindwurm - und wer der siegreiche Lanzenreiter?

II. Rationalisieren statt Meditieren

Einerseits haben sich die Christen in den kriegführenden Nationen der Kriegsbegeisterung und dem nationalem Überschwang nicht entzogen, nicht entziehen können - andererseits haben sie durchaus versucht, das Kriegsgeschehen zu verstehen und auch theologisch einzuordnen. So schreibt die baptistische Gemeindezeitschrift “Der Wahrheitszeuge” im September 1915 über den “Sinn des Krieges”:

“Gott sieht das Böse in dieser Welt ernster an, als es alle Menschen miteinander tun können. … Gott verfolgt das letzte Ziel seiner Liebe, das Ziel seiner ewigen Herrschaft … im Kampf mit der Bosheit der gefallenen Geister. … Er weiß, dass Härte und Zorn, Krieg und Schwert, Feuer und Schwefel die Waffen sind, mit denen Satan und seine Geister bekämpft werden müssen. Der tiefste Sinn des Krieges führt uns in die Tiefen des Bösen und in die harte Notwendigkeit seiner Bekämpfung.” 8

Zigtausende Christen waren mittlerweile dienstverpflichtet worden, und für sie stellte sich konkret die Frage: Wie konnten sie die Forderungen der Bibel mit soldatischem Gehorsam in Einklang bringen? Wie vertrug sich das massenhafte gegenseitige Morden mit dem 5. Gebot “Du sollst nicht töten”? Evangelische Theologen wie der Greifswalder Neutestamentler Julius Kögel erklärten das so: “Wir handeln gar nicht in diesem Krieg als einzelne, sondern wir sehen in ihm als Glieder des Volkes. Das Volk führt den Krieg… Der einzelne hat dafür nicht die Verantwortung… Er hat hier einfach seine Pflicht zu tun im Dienste der Gesamtheit… Auch wenn ihm mörderische Waffen in die Hand gedrückt werden, so trifft ihn doch nicht dies heilige Wort Gottes: Du sollst nicht töten…” 9 - Gottes Ordnung gilt nur für das einzelne Mitglied eines Volkes, aber nicht für das Volk als Ganzes? Das klang im Alten Testament doch noch ganz anders. Aber von der liberalen Theologie bis hin zum Pietismus haben im Krieg alle zu solchen Deutungen gegriffen. Aus einer verständlichen Regung heraus: Sie wollten den “feldgrauen Brüdern”, den Gläubigen in Uniform das Gewissen so weit wie möglich entlasten.

Natürlich haben sich auch die Theologen am Ende eine bessere Welt erhofft, haben hohe Erwartungen an den Krieg geknüpft. Wenn er schon solche Opfer fordert, dann muss auch ein entsprechender Gewinn winken. Wie hat es Arnold in seinem Buch “Der Krieg, ein Aufruf zur Innerlichkeit” ausgedrückt:

“Eine tiefgreifende innerliche Erhebung weiter Kreise zu Gott würde uns den unumstrittenen Sieg über alle unsere Feinde schenken. … Unser maßgebender Einfluss in Europa, unsere Durchdringung der abhängigen Länder, unsere Herrschaft in Afrika, unser Triumph über Japan in China und nicht zuletzt unsere Schutzfreundschaft mit den mohammedanischen Ländern legte uns Verpflichtungen in der weiten Welt auf, wir wir sie bisher nicht gekannt haben. Nur eine tief innerliche Bewegung zu Gott kann uns die Kraft geben, eine solche Verantwortung auf uns zu nehmen.” 10

Solange man das Kriegsglück noch auf der eigenen Seite wähnt, sind solche Überlegungen kein Problem. Was aber, wenn sich der Kriegsverlauf gegen das eigene Volk kehrt? Gegen die eigenen Landsleute? Daran mochte die ersten drei Kriegsjahre lang niemand denken. Und was den maßgebenden Einfluss der deutschen Christen in Europa anging: Der war durch den Krieg zunächst einmal beschnitten und behindert worden - und nicht etwa erweitert.

III. Die Folgen für die Mission und das Miteinander mit den Schwesterkirchen und -organisationen

“Liebe zu allen Heiligen unter allen Völkern ist leicht in Friedenszeiten… Die Nationalität des Einzelnen tritt da zurück. … Hier ist nicht Japaner, Chinese, Engländer, Franzose, Russe, Österreicher, Deutscher, sondern alles in allen Christus. … Diese Herzensgemeinschaft nun, diese Liebe zu allen Heiligen aller Völker, hat die Aufgabe, auch durch den Weltkrieg hindurch sich zu bewähren.”

- So schrieb das “Evangelische Allianzblatt im Sommer 1915, und weiter: “Wie selbstverständlich ist es, dass auch der Gläubige als Glied seines Volkes das Schwert ergreift, um sein Vaterland vor dem Ansturm des Feindes zu schützen. Den Feind zu schädigen und zu Boden zu werfen, ist ihm eine heilige Pflicht fürs Vaterland. Dabei muss und wird er seinen Feind nicht hassen. Es wird ihm als Menschenfreund im Herzen weh tun, eine so blutige, verheerende Arbeit tun zu müssen. Wieviel mehr wird er Gnade haben, den Jüngern Jesu im feindlichen Heer die christliche Bruderliebe zu bewahren!” 11

Hehre Worte. Freilich: In den Materialschlachten, in den Schützengräben zwischen Ypern und Verdun, unter dem Trommelfeuer der Artillerie, unter den Garben der Maschinengewehre - da war nicht viel Gelegenheit, christliche Bruderliebe zu praktizieren. Allenfalls im Dienst an den Geschlagenen, Verwundeten, Gefangenen konnte man diese Liebe üben. Hier, aber auch nur hier haben Organisationen wie die CVJM und die christlichen Studentenvereinigungen der verfeindeten Länder auch während des Krieges zusammen gearbeitet. Die Kriegsgegangenhilfe der DCSV beispielsweise hat Soldaten der Entente in deutscher Gefangenschaft versorgt mit Hunderttausenden von Büchern und Schriften, mit Neuen Testamenten und Bibelteilen in vielen Sprachen. Entsprechendes hat die englische christliche Studentenbewegung für deutsche Kriegsgefangene getan.

Freilich darf man sich nichts vormachen: Der Krieg hat wesentlich mehr getrennt als verbunden. Das galt vor allem für die Weltmission. Auf der Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh hatte man noch große Hoffnungen gehegt: Durch gemeinsamen Anstrengungen auf dem Missionsfeld in Afrika und in Asien sollte die Christenheit auch insgesamt enger zusammenrücken und könnte so ein stärkeres Zeugnis abgeben. Seit Kriegsbeginn - kein Wort mehr davon. Stattdessen erbitterter Zwiespalt auch in der Missionsbewegung. Ein Missionsinspektor Hofmann aus Barmen empört sich in der Zeitschrift “Die Furche”: “Auf den Missionsgebieten sind Dinge geschehen, die nur Verbitterung zurücklassen konnten. … England gebührt der traurige Ruhm, den Krieg, den Völker der weißen Rasse gegeneinander führen, nach Afrika und Asien getragen zu haben. … England und Frankreich haben aber auch die Völker Asiens und Afrikas auf den deutschen Kriegsschauplatz gebracht; sie haben Heiden aufgeboten gegen ein christliches Volk!”

Die Empörung wirkt etwas aufgesetzt. Mit gleichem Recht hätten Engländer argumentieren können: das Deutsche Reich hat Waffenbrüderschaft mit dem osmanischen Reich geschworen - führt Muslime gegen christliche Nationen ins Feld! - Hofmann weiter: “Der Krieg nötigt uns, manches in unserer Arbeit zu revidieren und die Missionsmotive einer neuen Prüfung zu unterziehen. … Vielleicht haben wir auch dem Gedanken, die Welt zu christianisieren, mehr Raum gegeben, als biblisch war…” 12 Auf einmal war also Weltmission nicht mehr biblisch, nur weil sich englische und amerikanische Missionsgesellschaften dabei besonders hervor getan haben! Für die Missionsarbeit in Afrika und Asien war der Krieg jedenfalls eine Katastrophe. Und für die Tochterkirchen in den Missionsländern eine unerwartete Bewährungsprobe: “Draußen in den Missionsgemeinden ?müssen’ jetzt die Eingeborenen auf eigenen Füßen stehen, ?müssen’ mit eigenen Kräften die Geldmittel aufbringen und die ganze christliche Arbeit… leisten.” 13

IV. Allmähliches Umdenken

“Der Glaube an das ewige Leben ist die einzige Möglichkeit, um mit freudiger Tapferkeit alles zu tragen, was uns jetzt auferlegt ist.” 14

Der Autor dieser Zeilen hat nur die ersten drei Kriegswochen an der aktiv miterlebt - als Kutscher in der Etappe an der Ostfront. Blutfressender Grabenkrieg, monatelange Materialschlachten, massenhaftes Sterben in einer Mondlandschaft aus Stacheldraht und Schlamm - das konnte er sich nicht vorstellen. Noch nicht. Aber mit den Monaten und Jahren kamen sie, die Berichte, die Eindrücke von der Front. Auch von gläubigen Soldaten. So schreibt der Gefreite Eugen Krämer in die Heimat: “Da innen blutet’s aus tausend Wunden, wenn wir den Schmerz und die Tragik des Krieges täglich schauen. Lähmend wirken die Eindrücke auf uns, und doch müssen wir stets schlagbereit, stark, gerüstet und gewappnet sein. Man will uns als ganze Männer sehen. Nicht zagende, träumende und gehetzte Gestalten, nein: entschlussfähige, gestählte, feurige Kämpfer verbürgen den Sieg. In Jesus haben wir den Quell, aus dem wir all dies schöpfen können.” 15

Ein bedrückendes Zeugnis. Als ob es Jesus darum ginge, Menschen zu besonders tüchtigen Soldaten zu machen. Offenbar ist in diesem Krieg der Glaube vielfach instrumentalisiert worden, in Dienst genommen worden, um müde Krieger wieder kampftauglich zu machen. Geistliche haben die Waffen gesegnet und haben ein national aufgeladenes, heldisches Evangelium gepredigt. Und die jungen Männer, die oft direkt aus dem Hörsaal oder von der Schulbank kamen - sie haben ihnen geglaubt.

Verhaltener klingt die folgende Stimme: “Wenn wir alle, die wir draußen waren, von den Sterbestunden erzählen wollten, die wir miterlebt haben - als verwundete Versprengte unter Versprengten… - was für eine gewaltige Predigt gäbe das… Der Wahn, den manche verbreiten wollen, als führe der Heldentod fürs Vaterland ‘von Mund auf in den Himmel’, zerstiebt da. Es vollziehen sich Scheidungen, es rächt sich Schuld, es zerbricht falscher Wahn, es bewährt sich Glauben.” 16 - Glauben hat sich bewährt, das ist im Einzelfall sicher richtig - es lässt sich leider nicht verallgemeinern. Wie viele sind in diesem Krieg verroht, haben wenn schon nicht das Leben, so doch den Glauben verloren, den Glauben an Gott, den Glauben an die Menschheit, den Glauben an sich selbst? Wie viele haben den Verstand verloren, sind als gebrochene Menschen zurück gekehrt?

Mit jedem Jahr, jedem Monat rückte der Krieg näher an die Heimat heran. Noch immer standen die Heere der Mittelmächte tief im Feindesland, fern von den eigenen Grenzen. Aber überall im Land wurden Genesungsheime eingerichtet. Kriegskrüppel, Amputierte, Geblendete zu Tausenden, zu Zehntausenden, schließlich zu Hunderttausenden. Dazu die Todesanzeigen - immer mehr, immer dichter gedrängt in den Zeitungen: Gefallen für Kaiser, Volk und Vaterland. Und schließlich nur noch: Gefallen. - Mit jedem Monat drängt sich mehr die Frage auf: Ist der Krieg diese Opfer wert? Tag für Tag entrichten die kriegführenden Völker einen ungeheuren Blutzoll, und doch kommen sie ihren jeweiligen erklärten Kriegszielen keinen Zentimeter näher. Spätestens 1917, im vierten Kriegsjahr, erwachen viele aus der patriotischen Massenhypnose.

Viele Christen besinnen sich auf einmal: “Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe”, heißt es in der Bibel. Im Schützengraben an der Hindenburg-Linie - da hat der Sünder die allergrößten Chancen zu sterben, aber kaum Gelegenheit, die freundliche Einladung Gottes zum Leben zu hören und sich darüber Gedanken zu machen.

Buß- und Bettag 1917. Bei einem Gemeinschaftsfest in Berlin schlägt der Hochschulevangelist und Redakteur der “Furche” Eberhard Arnold Töne an, die man von ihm bisher so nicht kannte: “Die europäische Kultur erlebt ihre ungeheuerste Umwälzung durch diesen Krieg, eine Umwälzung, die das unterste zu oberst und das oberste zu unterst gekehrt hat. Eine Umwälzung des Gerichts, eine Umwälzung der Züchtigung Gottes über das, was die Menschen glaubten, so sicher in der Hand zu haben. Eine Umwälzung, die den europäischen Menschen von der Höhe seiner Einbildung und seines Hochmuts herabgestürzt hat. … Und diese Umwälzung ist eine Frage des Geistes, ist die Frage danach, welcher Geist über uns herrschen soll. Der Geist der Welt oder der Geist aus Gott?” - Anders als noch zwei, drei Jahre vorher ist er nicht mehr davon überzeugt, dass der Krieg ein Instrument von Gottes Güte, Freundlichkeit und Langmut ist. Bei seinen Besuchen in den Soldatengenesungsheimen, bei seinen Seelsorgediensten an Kriegsversehrten ist ihm die diabolische Seite dieses Waffengangs bewusst geworden: “Es ist der Irreführer der Menschheit, der Vater der Lüge, auf den die letzte Wurzel dieses Krieges zurückzuführen ist. Er ist die treibende Energie in allen Wirkungen des Ungehorsams gegen Gott… Man sollte meinen, dass der ungeheure Ernst des Erlebens uns Menschen zur Buße zwänge, aber die Schrift sagt: als über die Menschen eine große Hitze verhängt wurde, als sie die Plagen der Offenbarung erlitten, lästerten sie den Namen Gottes und taten nicht Buße.” 17

Etwa zur selben Zeit hat Jakob Vetter, der Gründer der Deutschen Zeltmission, geschrieben, ebenfalls unter dem Eindruck seiner Dienste als Lazarettseelsorger: “Krieg ist Tränenzeit und bleibt der Hölle lautestes und schrecklichstes Hohngelächter.”

V. Folgen

Der Erste Weltkrieg hat die Säkularisierung und Entchristlichung Europas ungeheuer beschleunigt. Mit den Völkern Europas ist auch die Christenheit dezimiert worden. Im Verlauf des Krieges sind mehr als 60 Millionen Männer unter Waffen gestanden. 20 Millionen sind verwundet, verkrüppelt, verstört heimgekehrt. 10 Millionen sind auf den Schlachtfeldern geblieben.

Dieser Krieg war Männersache, und doch hat er dem Wandel der Geschlechterrollen Vorschub geleistet wie kein Ereignis und keine Reform vorher und nachher. Die einzigen Frauen in der ersten Linie waren Diakonissen und Nonnen und Rotkreuz-Schwestern gewesen, aber zuhause haben Frauen die Lücken gestopft in der Industrie, haben die Reihen aufgefüllt an den Universitäten, haben öfter und selbstbewusster das Wort ergriffen. Erst recht nach der Niederlage - denn die war ja offensichtlich auch Männersache. Das hat sich mit einiger Verzögerung auch in den christlichen Gemeinde ausgewirkt.

Die erhoffte und erbetene geistliche Erneuerung der Europäischen Völker im großen Stil - sie ist ausgeblieben. Und doch ist aus all dem Abgrundschlechten und Bösen die eine oder andere kleine Blüte erwachsen. Das kann kein wirklicher Ausgleich sein für die entsetzlichen Verluste. Aber ein Zeichen, dass Gott im Regiment sitzt und der Hölle nicht den letzten Triumph gönnt.

Viele Christen in vielen Ländern haben sich infolge der Katastrophe auf die Bibel besonnen. Haben die Bergpredigt neu buchstabiert. Haben nach dem Krieg neue Modelle des christlichen Zusammenlebens erprobt. Haben Nachfolge neu eingeübt. Nicht die Massen, aber eine bemerkenswerte Minderheit.

Nicht sehr viele, aber einige Christen haben infolge des Weltkrieges der Gewalt abgeschworen. Haben sich die Wehrlosigkeit Jesu zum Vorbild genommen. Der Internationale Versöhnungsbund ist eine direkte Frucht dieser Abkehr vom Götzen der Gewalt.

Viele Christen haben die zerrissenen Fäden wieder aufgenommen, haben die internationale Isolation Deutschlands und Österreichs überwinden helfen. John Mott wäre da an erster Stelle zu nennen, der spätere Weltbundvorsitzende der CVJM. Nathan Söderblom hat sechs Jahre nach Kriegsende doch noch in eine erste große Versammlung verschiedenster europäischer Kirchen zustande bekommen.

Viele, aber immer noch viel zu wenige Christen waren nach dieser Katastrophe kuriert von nationalistischen Irrlehren. Walter Michaelis etwa, der langjährige Leiter des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes. Auch nach diesem Krieg noch national-konservativ bis in die Knochen - aber gegen totalitäre Vereinnahmung gefeit. Eine wichtige Eigenschaft. Denn, das wissen wir heute: die nächste, noch viel härtere Prüfung stand den Völkern erst noch bevor - und der Christenheit.

Anmerkungen:

1 in einer Morgenandacht am 18.9.1914; in: Blumhardt; Nachlass, Bd. 3, S. 172

2 Predigt vom 15.11.1914, in: Blumhardt; Nachlass, Bd. 3, S. 176

3 Die Furche, 6. Jg. Nr 8, Mai 1916, S. 229

4 E. Arnold, in “Der Hilfsbote”, Juni 1916

5 Arnold, Der Krieg - ein Aufruf zur Innerlichkeit; S. 8

6 zit. in Die Furche, 6. Jg., Nr. 8, S. 256

7 Die Furche, 6. Jg, Nr. 1, Oktober 1915, S. 96

8 Der Wahrheitszeuge 1915, S. 281

9 Die Furche, 6. Jg. Nr 8, Mai 1916, S. 225ff

10 Arnold, Der Krieg - ein Aufruf zur Innerlichkeit; S. 11.13

11 Ev. Allianzblatt 1915, S. 149

12 Die Furche, 6. Jg. Nr 10, S. 299ff

13 Der Wahrheitszeuge 1915, S. 279

14 Arnold, “Der Krieg - ein Aufruf zur Innerlichkeit”, S. 33

15 Die kleine akademische Feldpost, WS 1916/17; Nr. 5, 15.2.1917, S. 143

16 “Die Stunde der Sterbenden”, in: Die Furche; 6. Jg., Nr. 10, S. 287

17 “Die Sünde als Umwälzung”, unveröffentlichte Schrift im Archiv der Bruderhöfe, EA 17/13

Quelle: “Evangeliums-Rundfunk (ERF)”: http://www.erf.de/.

© ERF 2004. Wir veröffentlichen diesen Text mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Veröffentlicht am

21. August 2004

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