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Wo in Afghanistan die Glocken hängen

Im Gespräch: Willy Wimmer (CDU/MdB) über Gespräche in Kabul, die fortlaufende Produktion von Feinden und das Ansehen der Bundeswehr am Hindukusch


Die NATO rüstet in Afghanistan zur Frühjahrsoffensive und will dabei auf einen deutschen Part nicht verzichten. Auf dem Außenministertreffen am 26. Januar erneuerte NATO-Generalsekretär de Hoop Scheffer seine Forderung, die Bundeswehr solle Aufklärungstornados schicken. Inzwischen gibt die Regierung Merkel mehr oder weniger deutlich zu verstehen, sie werde sich diesem Verlangen kaum entziehen können. Eine umstrittene Entscheidung bahnt sich an - und wird verzögert. Nicht wie ursprünglich vorgesehen im Januar, sondern erst Ende Februar soll der Bundestag darüber befinden.


FREITAG: Welchen Grund gab es für Sie, gerade jetzt eine Reise nach Afghanistan anzutreten, während hierzulande heftig über den möglichen Einsatz deutscher Tornados in der südlichen Kampfzone debattiert wird?

WILLY WIMMER: Ich habe die Entwicklung in Afghanistan und der Region in den vergangenen 20 Jahren aufmerksam verfolgt. Die Bundeskanzlerin hatte mich jetzt gebeten, die CDU bei einer weltweit beachteten Konferenz in Delhi zum Gedenken an Mahatma Gandhi zu vertreten. Da lagen Islamabad und Kabul auf der Strecke. Die Lage ist eisenhaltig genug, um entsprechende Gespräche zu führen.

FREITAG: Gespräche auch mit der Regierung?

WILLY WIMMER: Selbstverständlich…

FREITAG: … sowie mit Vertretern des deutschen ISAF-Kommandos, nehme ich an.

WILLY WIMMER: Wenn man sich in Afghanistan aufhält, gehören die Treffen und Gespräche mit unserer eigenen Seite selbstverständlich dazu, selbst wenn man - wie es bei mir der Fall ist - die Ansicht vertritt, dass wir militärisch nicht in Afghanistan sein sollten. Die afghanische Regierung kann man nicht mit den Maßstäben messen, wie sie für eine herkömmliche Regierung gelten, denn das Land gleicht eher einem Vulkan als einem Staat.

Respekt habe ich daher vor den Leistungen der Bundeswehr als Bestandteil von ISAF mit ihrer speziellen Rolle in einem Teil Afghanistans. Unter den gegebenen Einsatzbedingungen bedauere ich es allerdings sehr, dass wir es in Kabul nicht mit einem der üblicherweise gut arbeitenden Militärattaché-Stäbe zu tun haben. Etwas Derartiges fehlt, so dass ich mich frage, wie man eigentlich Wissen und Erfahrung weitergeben will. Das wäre notwendiger denn je, da unsere Leute hier über ein eigenes und präzises Bild der Lage verfügen.

FREITAG: Wie sieht das aus, bezogen auf die Situation insgesamt?

WILLY WIMMER: In wenigen Wochen werden durch die Dislozierung neuer Truppen und einen noch größeren finanziellen Einsatz die USA die absolute Dominanz bei ISAF haben und damit den Ton angeben. Die Amerikaner verfolgen eine Linie, die Vereinbarungen mit örtlichen Stämmen im Süden Afghanistans ablehnt. Im Unterschied dazu haben sich die Niederländer gerade darum erfolgreich bemüht. Verfahren die US-Stäbe anders, wird bei den herrschenden Sitten in der vorwiegend paschtunischen Stammesgesellschaft die fortlaufende Produktion von Feinden sichergestellt. Wenn man den Männern in den Dörfern keine andere Chance lässt, als zu kämpfen, dann tun sie das, was sie seit Jahrhunderten tun: Sie kämpfen. Damit wird der Krieg immer wieder angefacht. Man hat den Eindruck, dies hat nicht nur etwas mit Afghanistan zu tun oder mit seinen gewaltigen Erdölvorräten, die gerade von der NASA festgestellt wurden.

FREITAG: Womit dann? Mit einer “Irakisierung” der Verhältnisse am Hindukusch, von der immer häufiger die Rede ist?

WILLY WIMMER: Das ist eine schon länger feststehende Tatsache. Seit dem Irak-Krieg gibt es Kämpfer aus arabisch-muslimischen Staaten, die im Irak wie auch in Afghanistan gegen die Amerikaner kämpfen, um sie von ihren eigenen Ländern fernzuhalten. Praktisch sieht man das hier an den sich häufenden Selbstmordattentaten, die bisher für die Kriege in Afghanistan unüblich waren. Ansonsten läuft die Unterstützung aus Saudi-Arabien, den Golf-Staaten, Jordanien und Pakistan für die Taliban ungehindert weiter.

FREITAG: Gibt es nach Ihrem Eindruck innerafghanische Kräfte jenseits des Regierungslagers, die zur Übernahme von Verantwortung bereit sowie fähig wären und eine Alternative zur Regierung Karzai sein könnten?

WILLY WIMMER: Praktisch bestimmen die USA bis zum letzten Zuckerwürfel im Palast von Herrn Karzai alles. Das macht deutlich, wo in Afghanistan die Glocken hängen. Man müsste in Washington nachfragen, wen man nach Karzai aus dem Hut zaubert. Das richtet sich nach den Bedürfnissen der USA.

FREITAG: Wie stellt sich vor Ort die Rolle Pakistans bezogen auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der paschtunischen Bevölkerung dar?

WILLY WIMMER: Seit dem schrecklichen Tod des ehemaligen afghanischen Präsidenten Nadschibullah im September 1996 wissen wir, worum es zwischen Pakistan und Afghanistan eigentlich geht. Nadschibullah war nicht bereit, die alte britisch-russische Kolonialgrenze zwischen dem heutigen Afghanistan und Pakistan mit seiner Unterschrift für die Zukunft zu bestätigen. Präsident Karzai hat mir gegenüber mit Nachdruck erklärt, er werde das gleichfalls nicht tun. Pakistan drängt weiter darauf, diese Unterschrift zu erhalten und tut das mit allen Mitteln.

Die Afghanen haben ein sehr gutes Gedächtnis, und sie halten die Grenze nicht nur für ungerecht. Auf jeden Fall ist die einstige Grenzvereinbarung zwischen dem russischen Zarenreich und dem Vereinigten Königreich bereits vor zehn Jahren abgelaufen, aber die Grenze besteht fort und läuft durch den Lebensraum von 40 Millionen Paschtunen, die entlang dieser Linie in 65 Stämmen leben.

FREITAG: Mit anderen Worten: Greift die Bundeswehr im Süden ein, läuft sie Gefahr, in diesen Konflikt hinein gezogen zu werden …

WILLY WIMMER: … und jedes Ansehen in Afghanistan zu verlieren. Aber das schwindet sowieso, weil wir schon jetzt als Teil der US-Kriegsmaschinerie gesehen werden, die mit ihrer auf den Süden Afghanistans konzentrierten Operation Medusa im Herbst 2006 gewaltige zivile Verluste verursachte. Die Afghanen vergessen nicht. Sie sehen auch, dass die Briten den Taliban ein “sicheres Gebiet” für den Mohnanbau zugestanden haben, um einer erneuten schmählichen Niederlage zu entgehen.

FREITAG: Sollte die Bundesregierung angesichts der geschilderten Umstände dem NATO-Ersuchen nachkommen und die geforderte Luftunterstützung in Südafghanistan gewähren?

WILLY WIMMER: Ich kann nur wiederholen, was ich eingangs gesagt habe - militärisch sollten wir in diesem Land nicht präsent sein.

Das Gespräch führte Lutz Herden

Führungsnationen bei ISAF


ISAF I: Großbritannien, Dezember 2001 bis Juni 2002

ISAF II: Türkei, Juni 2002 bis Februar 2003

ISAF III: Deutschland und die Niederlande, Februar 2003 bis August 2003

ISAF IV: Deutschland, August 2003 bis Februar 2004

ISAF V: Kanada, Februar 2004 bis August 2004

ISAF VI: Eurokorps, August 2004 bis Februar 2005

ISAF VII: Türkei (NRDC-T/NATO Rapid Deployable Corps), Februar 2005 bis August 2005

ISAF VIII: Italien (NRDC-IT/NATO Rapid Deployable Corps) August 2005 bis Mai 2006

ISAF IX: Großbritannien (ARRC/Allied Rapid Reaction Corps), seit Mai 2006

In Afghanistan ums Leben gekommene ISAF-Soldaten*

(Stand: 27. Januar 2007)

Vereinigte Staaten 353
Australien 1
Großbritannien 46
Kanada 44
Dänemark 3
Niederlande 3
Frankreich 9
Deutschland 18
Italien 9
Norwegen 1
Portugal 1
Rumänien 4
Spanien 18
Schweden 2
Gesamtzahl 512

(*) In dieser Bilanz nicht berücksichtigt sind die im Rahmen der Operation Enduring Freedom gefallenen Militärs.


Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   05 vom 02.02.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Veröffentlicht am

02. Februar 2007

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