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Wie Bolivien zum zweitenmal gegründet wird

Von Eduardo Galeano - MR Zine / ZNet 19.02.2006

Am 22. Januar 2002 hat man Evo aus dem Paradies vertrieben. Anders gesagt, der Abgeordnete Evo Morales wurde aus dem bolivianischen Parlament hinausgeworfen. Am 22. Januar 2006 wurde Evo Morales in denselben pompösen Hallen als neuer Präsident Boliviens eingeschworen. Anders gesagt, Bolivien beginnt festzustellen, dass es ein Land mit indigener Majorität ist.

Damals, als Morales aus dem Parlament flog, war ein indigener Abgeordneter seltener als ein grüner Hund. Vier Jahre später kauen viele Parlamentarier Coca, ein uralter Brauch, der auf dem geheiligten Parlamentsgelände verboten war.

Schon lange vor Evo Morales Parlamentsausschluss waren die Indigenen, Evos Volk, aus der offiziellen Nation ausgeschlossen. Sie waren keine Kinder Boliviens - lediglich die Hände Boliviens. Bis ungefähr vor einem halben Jahrhundert durften Indios nicht wählen und sich nicht auf den Bürgersteigen der Städte bewegen.

Aus gutem Grund sprach Evo in seiner ersten Rede als Präsident davon, dass die Indios im Jahr 1825 zur Gründung Boliviens nicht eingeladen waren. Das entspricht der Geschichte Amerikas insgesamt - die USA eingeschlossen. Unsere Nationen hatten alle eine misslungene Geburt. Eine kleine Minderheit usurpierte die Unabhängigkeit unserer amerikanischen Nationen - von Anfang an. Die ersten Verfassungen ließen ohne Ausnahme die Frauen, die Indios, die Schwarzen und die Armen im Allgemeinen außen vor.

Zumindest in dieser Hinsicht lässt sich die Wahl von Evo Morales mit der Michelle Bachelets (in Chile) vergleichen. Evo und Eva. Der erste indigene Präsident Boliviens, die erste weibliche Präsidentin Chiles. Das gilt auch für Brasilien, mit seinem ersten schwarzen Kultusminister. Hat sie nicht schwarze Wurzeln - jene Kultur, die Brasilien vor der Traurigkeit bewahrt?

In jenen Ländern, in denen die Krankheit Rassismus und Machismo grassiert, werden manche glauben, das sei ein Skandal. Der eigentliche Skandal ist, dass das alles nicht schon früher passierte. Aber wenn die Maske fällt, wird das Gesicht sichtbar, und der Sturm bricht los.

Die einzige Sprache, die es wert ist, dass man ihr glaubt, ist jene, deren Worte aus der Notwendigkeit geboren sind, dass sie ausgesprochen werden. Der größte “Fehler” von Evo Morales ist, dass die Menschen ihm glauben. Er wirkt authentisch, selbst wenn ihm auf Castellano (Spanisch) einige kleine Fehler unterlaufen. Castellano ist nicht seine Muttersprache. Die gelehrten Doktores - Meister darin, für andere das Echo zu spielen -, beschuldigen ihn der Ignoranz. Rosstäuscher der Versprechungen beschuldigen Evo der Demagogie. Jene, die Amerika einen einzigen Gott, einen einzigen König, eine einzige Wahrheit überstülpten, beschuldigen ihn des Caudillismo. Die Indianermörder zittern vor Panik. Sie befürchten, ihre Opfer könnten so sein wie sie.

‘Bolivien’ schien nichts als ein Pseudonym für jene, die das Land beherrschten, die es ausbeuteten - selbst während sie die Nationalhymne sangen. Die Demütigung der Indianer wurde alltäglich, sie schien schicksalhaft. In allerletzter Zeit, in den vergangenen Monaten und Jahren, erlebte das Land jedoch einen permanenten Zustand des Volksaufstands. Die kontinuierliche Rebellion, deren Pfad gepflastert war mit Leichen, kulminierte in einen Gaskrieg. Eigentlich hat dieser Prozess schon vor langem begonnen, lange vor den jüngsten Aufständen, und er ging danach weiter - bis, gegen alle Widrigkeiten, Evo gewählt wurde.

Mit dem Erdgas, das man in Bolivien fand, wiederholte sich die alte Geschichte von der Plünderung der Schätze - eine Plünderung über mehr als vier Jahrhunderte hinweg. Sie setzte Mitte des 16. Jahrhunderts ein:

Das Silber von Potosi hinterließ einen leeren Berg.
Das Salpeter der Pazifikküste hinterließ eine Landkarte ohne Meer.
Das Zinn von Oruro hinterließ eine Vielzahl von Witwen.
Das ist alles, was sie zurückließen, wirklich alles.

Jene, die in den vergangenen Jahren den Aufstand probten, wurden von Kugeln durchsiebt. Es gelang ihnen jedoch zu verhindern, dass das Gas in die Hände der anderen gelangte. Sie sorgten dafür, dass das Wasser in Cochabamba und La Paz wieder entprivatisiert wurde und stürzten Regierungen, die vom Ausland aus regiert wurden. Sie sagten “nein” zur Einkommenssteuer und anderen “weisen” Befehlen des Internationalen Währungsfonds.

Aus Sicht der “zivilisierten” Kommunikationsmedien war diese Explosion der Volkswürde ein barbarischer Akt. Tausende Male musste ich es lesen, hören und sehen: Bolivien, das sei ein unbegreifliches Land, ein unregierbares, lebensuntüchtiges, undurchsichtiges Land. Doch jene Journalisten, die das sagen und wiederholen, liegen falsch: Sie sollten sich eingestehen: Bolivien ist für sie ein unsichtbares Land.

Das ist durchaus nicht ungewöhnlich, und Blindheit ist auch nicht nur die schlechte Angewohnheit von arroganten Ausländern. Bolivien selbst wurde blind geboren - der Rassismus spinnt seine Fäden zu einem Netz, das die Augen bedeckt. Und sicherlich gibt es keinen Mangel an Bolivianern, die es vorziehen, sich selbst mit den Augen jener zu sehen, die sie verachten.

Es muss einen Grund geben, weshalb die indigene Andenflagge ausgerechnet eine Hommage an die Vielfalt der Erde ist. Laut Tradition ist diese Fahne geboren aus der Verbindung zwischen dem weiblichen und dem männlichen Regenbogen. Und der irdische Regenbogen, der daraus hervorging - in der Sprache der Indigenen heißt er flammender Stoff des Blutes -, ist farbenprächtiger als selbst der Regenbogen am Himmel.

Quelle: ZNet Deutschland vom 20.02.2006. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: The Second Founding of Bolivia

Veröffentlicht am

21. Februar 2006

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