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Gewaltfrei für den Frieden: Wolfgang Sternstein

Eine Autobiografie aus dem Inneren der deutschen Friedensbewegung

Von Wolfgang Weilharter

Die Friedensbewegung der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, im engeren Sinn die Bewegung gegen die Aufrüstung der NATO-Streitkräfte mit moderneren Atomraketen, ist in unserer öffentlichen Erinnerung nur noch schemenhaft präsent. Das ist erstaunlich, wo diese Bewegung doch eine ganze politische und theologische Generation prägte. Die Einführung und Etablierung des zivilen Ungehorsams in die politische Kultur Mitteleuropas (stellvertretend seien die Blockaden von Mutlangen genannt), die großen Demonstrationen (hier sei an jene in Bonn im Herbst 1981 erinnert), die theologisch-kirchlich-gläubigen Anstrengungen der damaligen Zeit (man denke etwa an Dorothee Sölle), sowie die Etablierung des Begriffes “Gewaltfreiheit” in der politischen Sprache, das alles war mehr als nur ein momentanes Aufflackern.

Darüber hinaus leistete die Friedensbewegung, mit ihrer Idee einer einseitig kalkulierten Vorleistung als vertrauensbildender Maßnahme einen entscheidenden Beitrag zur friedlichen Beilegung des Kalten Krieges. Georgi Arbatow, ehemaliger Nordamerika-Experte des Kreml und Gorbatschow-Berater sagte 1986 auf einer Tagung in Washington: “Die Friedensbewegung war ein Ausdruck des Bewusstseinswandels, der sich in der westdeutschen Bevölkerung abgespielt hat. Das war ein Faktor für unsere Entscheidung, Michail Gorbatschow als Verfechter eines dezidierten Entspannungskurses zum Generalsekretär zu wählen.” 1

Aus dem Inneren dieser - hoffentlich vorläufig - verkannten Friedensbewegung, liegt nun eine Autobiografie vor. Der heute 66-jährige Stuttgarter Friedensforscher Wolfgang Sternstein hat auf 490 Seiten einen Lebensbericht unter dem Titel “Mein Leben zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit” vorgelegt.

Sternstein dissertierte beim Frankfurter Politologen Iring Fetscher, war Mitherausgeber der Zeitschrift “gewaltfreie aktion”, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), Mitbegründer der deutschen Pflugschargruppe, Freund Philip Berrigans, Mitarbeiter des Umweltwissenschaftlichen Institutes Stuttgart und ist nunmehr Aktivist der Gruppe “EUCOMmunity”. Zum besseren Verständnis sei angemerkt, dass sich die deutsche Pflugschargruppe, die sich als Teil der internationalen Pflugscharbewegung verstand, 2 zwei Mal in Militärgelände eindrang und Atom-Kriegsgerät beschädigte. Phil Berrigan, ursprünglich Ordensmann, war Mitbegründer der US-amerikanischen Pflugschargruppen, und führte seit dem Vietnamkrieg einige gewaltfreie Aktionen gegen militärische Einrichtungen durch, die ihm insgesamt 11 Jahre Gefängnis einbrachten. Und schließlich: Die Initiative “EUCOMmunity” bezieht sich auf das “EUCOM”, die einzige, dauerhafte Kommandozentrale der US-Armee außerhalb der USA in Stuttgart-Vaihingen, mit einem Einsatzgebiet, das sich von Europa über Russland und den Nahen Osten bis Afrika erstreckt. Diese EUCOM-Zentrale lagert nach wie vor Kernwaffen auf dem Gebiet Deutschlands, gegen die sich die Aktionen von Sternsteins Initiative “EUCOMmunity” richten.

Besser sollte man Sternstein aber so beschreiben: Schon früh von Gandhi fasziniert, spielten für ihn Politik und Religion eine zentrale Rolle. Im Jahr 1975 lernte er sodann die Praxis gewaltfreier Aktion im Kampf gegen das Kernkraftwerk Wyhl kennen, systematisierte später, als eine Art “Grundsatzreferent” des BBU die Ideen der Gewaltfreiheit und des zivilen Ungehorsams im Dienst der Umweltbewegung und entschloss sich im Jahr 1983, im heißen Herbst gegen die NATO-Nachrüstung, mit drei weiteren GenossInnen in ein Militärgelände einzudringen, militärisches Gerät zu beschädigen und, entsprechend der Theorie der Gewaltfreiheit und des zivilen Ungehorsams, vor Gericht die Verantwortung für die Aktion zu übernehmen. Diese, sowie zahlreiche weitere Aktionen gegen die Stationierung und Lagerung von Atomwaffen führten seither zu insgesamt 8 Gefängnisaufenthalten von insgesamt 14 Monaten in seinem “Stammgefängnis” Stuttgart-Rottenburg.

Während Sternsteins Name in den 80er Jahren gut bekannt war (“ein Privatleben gab es in jenen Jahren für mich allenfalls spurenhaft”(382), ist er heute eher nur im kleinen Kreis der “Unentwegten” ein Begriff. Daraus soll aber nicht geschlossen werden, dass seine Autobiografie von minderer Relevanz sei. Sie ist in einer klaren, differenzierten Sprache verfasst und genügt heutigen Ansprüche in Bezug auf Politik und Religion. Zudem wollte er es vermeiden, sich in die “Integrationsfalle” (242), vor allem in der Partei der Grünen zu begeben. “Warum sollte es” so fragt er “nicht möglich sein, auf den Aufstieg in die politische Klasse zu verzichten und sich bewusst für ein Leben in Unsicherheit und Einfachheit zu entscheiden…..” (242f) In seinem Fall führte das wohl dazu, dass sein Bekanntheitsgrad in den 90er-Jahren wieder zurückging.

Gewaltfreiheit und ziviler Ungehorsam

Sternsteins Autobiografie hat zwei Stränge. Der eine beschreibt eine dunkle Kindheit und Jugend, geprägt vom Joch unter dem tyrannischen und gewalttätigen Vater, welcher bis zu seinem Lebensende in den 80er Jahren bekennender Nationalsozialist blieb. Sternstein zeichnet nach, wie er den Weg ins Freie fand, wenngleich die bitteren Erfahrungen seiner frühen Jahre wie ein dunkler Schatten auf dem Lebensbericht liegen.

Der andere Strang beschreibt Sternsteins politische Existenz, die von einem sehr plastischen Begriff von Gewaltfreiheit geprägt ist. Nun kann “Gewaltfreiheit” vieles bedeuten. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass es sich zunächst um einen von Politik durchdrungenen Begriff handelt, der aber “mehr-als-politisch” oder “überpolitisch” ist. Im Kern geht es nach Sternstein darum, dass Gewalt nicht aus Schwäche, sondern aus Überzeugung verworfen und an dessen Stelle eine “positive, aktive, aufbauende, schöpferische und heilende Kraft” (272) gesetzt werde. In der Politik etwa führte ihn diese Auffassung sodann in Konflikt mit dem System der Abschreckung und der atomaren Rüstung, dessen Teil die BRD war und nach Sternsteins Auffassung das heutige Deutschland auch noch immer ist. Mit seiner Autobiografie ist es ihm gelungen, seine bisherigen praktischen und schriftstellerischen Verdienste um den Begriff der Gewaltfreiheit mit einer Fülle von Erfahrungen, Anekdoten und Reflexionen abzurunden.

Zum Beispiel erzählt und bewertet er auf ausführlichen 30 Seiten die Blockade des Atomwaffenlagers Großengstingen auf der Schwäbischen Alb im August 1982. Wer der Ansicht ist, dass in politischen Lebensfragen ein vom Gedanken der Gewaltfreiheit getragener, ziviler Ungehorsam erlaubt sei und deshalb nach praktischen Beispielen sucht, der wird in diesem Kapitel auf seine Rechnung kommen. Diese Blockade mit 750 TeilnehmerInnen wurde zwei Jahre lang sorgfältig (von Tübingen aus) vorbereitet und dauerte 12 Tage. In Sternsteins Erzählung taucht alles auf, was den gewaltfreien Aktivisten/die gewaltfreie Aktivistin in Mitteleuropa beschäftigen muss: Das Verhältnis zwischen prinzipiell Gewaltfreien und zur Gewalt bereiten, das Konsensprinzip, die Basisdemokratie, lange Diskussionen (die im Moment der Anspannung aus dem Ruder laufen), das Verhältnis zu Soldaten, Polizei und Ortsbevölkerung, die Sorge um die Wirkung auf die Öffentlichkeit und die Furcht vor (Gefängnis-)Strafen. Sternstein erzählt und bewertet mit dem Abstand von beinahe 25 Jahren für den Leser, die Leserin gewinnbringend diese bedeutende Aktion.

Oder er erzählt von Deeskalationstreffen, ebenfalls 1982, im Anschluss an die harten Kämpfe gegen das Atomkraftwerk Brokdorf. Wer argwöhnt, ob Gewaltfreiheit nicht doch zu verbrüderungsselig und gegen die Tricks der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Eliten machtlos sei, wird in diesem Abschnitt reiches Anschauungsmaterial erhalten. Es handelte sich bei diesen Treffen in Stuttgart um mehrere Aussprachen zwischen hochrangigen Staatsvertretern, Vertretern der Energiewirtschaft sowie von Umweltverbänden, Gewerkschaften und Kirchen. Diese Gespräche waren von einer heftigen Kampagne der damals noch jungen Tageszeitung “taz” begleitet, die teilnehmenden Aktivisten wie Sternstein Verrat, Mauschelei und Kumpanei vorwarf. Bei Vorläufergesprächen kam es zu Blockaden des Tagungsgebäudes und das eigentliche Treffen wurde dann auch von militanten Umweltaktivisten gestürmt. Sternstein beschreibt angesichts der Dynamik dieser Gespräche meisterhaft sein Bemühen, jederzeit dialogbereit zu sein, ohne dadurch falsche Kompromisse einzugehen.

Radikaldemokratische Perspektiven

Die Bedeutung des Buches liegt zudem darin, dass in ihm die Geschichte eines Aktivisten geschildert wird, der von Anfang an gegen die Gründung der Partei der Grünen war und der imstande ist, zentrale politische Organisationsfragen aus einer bestimmten, radikaldemokratischen Perspektive angemessen zu diskutieren. Dieses Thema betreffend finden sich wiederum zahlreiche, bemerkenswerte Beobachtungen und Rückschlüsse. Am wichtigsten ist in dieser Hinsicht wahrscheinlich die Liste der Erfolge, die Sternstein auch dem Erfolgs-Konto der deutschen Basispolitik der 70er und 80er Jahre zubucht: Es sind dies Einzelerfolge wie die Verhinderung bzw. Schließung der Atomanlagen (oder Teilen davon) Wyhl, Marckolsheim, Kaiseraugst, Mühlheim-Kärlich, Kalkar, Gorleben und Wackersdorf, bestimmte Einstellungs- und Verhaltensänderungen in der Bevölkerung sowie an der Spitze, die friedliche Beilegung des Kalten Krieges. Dabei ist Sternstein imstande, den Widerspruch zwischen der Kleinheit und der Brüchigkeit der Initiativen und der Größe der Ansprüche, durch seine umfassende Betrachtungsweise auszugleichen.

Wer Sternsteins Autobiografie liest, und hier wechseln wir nun zur Religion, wird auf Sätze wie zum Beispiel auf den folgenden stoßen: “Vielleicht ist es ein Zufall, vielleicht aber auch nicht: Wo immer mir Wahrheit und Gewaltfreiheit in überzeugender Gestalt begegneten, waren sie religiös begründet.” (444) Sternstein zählt zu jenen Menschen, die aus einem nicht-gläubigen, nicht-christlichen und nicht-kirchlichen Milieu kommend, die “Religion” entdeckten. Welche Religion? Bei Sternstein bleibt es in der Schwebe, und im Unterschied zur Gegenwart, ist es weniger die Psychologie, sondern eher der politische Kampf seit den 60er Jahren, der Sternstein für “Religion” öffnete. Von den Zeitgenossen orientiert er sich wahrscheinlich am stärksten an seinem verstorbenen Freund Phil Berrigan. Ein bestimmtes Christentum wurde ihm zunächst durch Kierkegaard erschlossen. Dessen Satz: “Ein Bekenntnis zu Christus bedeutet immer, dass Du Dich in Gefahr begibst”, fügt sich gut ins Buch ein. Gandhi spielt irgendwie die bedeutendste Rolle, die aber bald auch wieder mit Gandhis eigenen Worten relativiert wird: “Es gibt keinen ‚Gandhianismus’ und ich will keine Sekte hinterlassen. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, irgendein neues Prinzip oder eine neue Lehre gefunden zu haben.” (255) Von einer kirchlichen Bindung ist bei Sternstein nichts zu bemerken, und es ist besonders bedauerlich, dass man nicht erfährt, welche Bedeutung Sternstein dem Gebet beimisst. Eine besondere Bedeutung zum Thema Religion nimmt ein Satz Gandhis ein, der auf die Frage antwortet, wie man die Kraft zur Gewaltfreiheit erlangen könne: “Indem man sein Leben bedingungslos in Gottes Hand legt wird man frei von den Gegensätzen Liebe (im Sinne von Erotik und Sexualität) und Hass, Freundschaft und Feindschaft, Furcht und Gier.” (275) Ob man diesem Satz nun zustimmt oder nicht, man wird ihn mit Respekt behandeln, da er aus der Praxis stammt und für die Praxis bestimmt ist.
Sternstein erweist sich in seiner Autobiografie als Vertreter einer Gewaltfreiheit, die sich seit den 60er Jahren bewähren will und deshalb Aufmerksamkeit verdient. Er verkörpert eine Haltung der Achtung vor dem Gegner ohne Passivität, er steht in Opposition ohne sektiererisch und schrill zu sein und er betrachtet das Bücherwissen mit Skepsis, kommt aber der Verpflichtung, öffentlich und mit Argumenten Rechenschaft zu geben, ohne Einschränkung nach. Gerade für diesen letzten Punkt ist Sternsteins Autobiografie ein eindrucksvolles Beispiel.

Anmerkungen:

1 Wilhelm Bitdorf, “Giftgas ging, Unrecht bleibt” in: Spiegel 44/1990, S. 75

2 Wolfgang Sternstein (Hg.), Abrüstung von unten. Die Pflugscharbewegung in den USA und in Europa. Mit einem Vorwort von Philip Berrigan. Selbstverlag, o.O., o.J.

Wolfgang Sternstein: Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit. Autobiografie. Vorwort: Horst-Eberhard Richter. - Norderstedt: Books of Demand 2005. ISBN 3-8334-2226-2. 488 Seiten, 50 Fotos. 28,- €?.

Das Buch kann über den Buchhandel oder bei Wolfgang Sternstein bestellt werden (Bestelladresse: W. Sternstein, Hauptmannsreute 45, 70192 Stuttgart, Tel.: 0711-120 46 55, Fax: 0711-120 46 57, E-Mail: sternstein@uwi-ev.de - 28,- € ? + Versandkosten).

Der Artikel wurde uns freundlicherweise von Wolfgang Weilharter, Wien, zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Er wurde zuerst in der Zeitschrift ORIENTIERUNG 70 (2006) aus Zürich veröffentlicht.

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Veröffentlicht am

20. Februar 2006

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