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Soziale Veränderung aus heutiger Sicht

Noam Chomsky im Interview mit Steven Durel

Von Noam Chomsky - ZNet 11.11.2005

Professor Chomsky, seit 40 Jahren sind Sie eine der führenden Stimmen für soziale Gerechtigkeit und politische Aktion. Nach fast einem halben Jahrhundert in der libertären Bewegung, wie haben sich die Dinge Ihrer Meinung nach verändert?

Veränderung verläuft nie linear. In mancher Hinsicht geht es voran, in manch anderer sind Rückschritte zu verzeichnen. Um nur eine positive Seite zu nennen: Wo es um die generelle Zivilisierung der Gesellschaft geht, sind echte Fortschritte zu verzeichnen, diese sind in immer mehr Bereichen erkennbar. Das Problembewusstsein beim Thema Menschenrechte hat enorm zugenommen, in vielen Aspekten. Nehmen wir beispielsweise die Rechte der Frau. Heute sind die Frauenrechte viel besser geschützt als vor vierzig Jahren. Auch die Minderheitenrechte sind deutlich besser geschützt, obwohl es in diesem Bereich noch viel zu tun gibt.

Auf der anderen Seite der Backlash. Er kam sehr schnell und fing in den frühen 70ern an. Dieser Backlash geht über das gesamte Spektrum. Mit Spektrum meine ich nicht “liberal” und “konservativ”, wie man das nennt, was immer damit gemeint ist, ich meine damit, dass die Demokratisierung und der Zivilisierungseffekt in den 60ern große Besorgnis ausgelöst hat und zwar im gesamten Spektrum der Eliten. Aus diesem Grunde gelten die 60er ja heute auch als problematische Zeit, als Geburtsstunde des Irrtums, so lehrt man uns heute. Das Problematische damals war, unser Land wurde zu frei, zu demokratisch. Von einer “Krise der Demokratie” war die Rede - damit war ein Zuviel an Demokratie gemeint.

Die Zahl der Lobbyisten in Washington ist Anfang der 70er Jahre explodiert. Diese sollten eine engmaschige Kontrolle über die Gesetzgebung gewährleisten, passend zur Agenda der Geschäftswelt. Neue rechte Thinktanks, wie das American Enterprise Institute, begannen sich auszubreiten. Sie versuchten, Kontrolle über das zulässige Gedankengut zu erlangen. Eine massive Kampagne zur Übernahme von Radios erfolgte, und das Fernsehen sollte rechtslastiger werden.

Selbst das internationale Finanzwesen veränderte sich, man ließ den freien Kapitalfluss zu. Früher war das nicht erlaubt. Den Ökonomen war sehr wohl bewusst, dass ein Aspekt dabei die Einengung des demokratischen Spielraums sein würde. Die Investoren wurden praktisch in die Lage versetzt, sich wie ein “virtuelles Parlament” (so wird das manchmal genannt) aufzuführen. Sie beurteilen die Politik des jeweiligen Landes und gefällt sie ihnen nicht, können sie die Wirtschaft einfach zerschlagen.

Es gibt viele Anzeichen, dass wir uns auf einen noch repressiveren, noch autoritäreren Staat zu bewegen - in der Ära der Bush-Administration ist das zufällig extrem. Sie nennen sich selbst konservativ - was eine Beleidigung für den Konservatismus ist. In Wirklichkeit sind sie rechts-reaktionäre Statisten. Sie wollen einen sehr mächtigen Staat, um das Privatleben, die Wirtschaftswelt und die internationale Gemeinschaft (international society) zu kontrollieren. Wenn nötig greifen sie zur Gewalt. Was ist daran konservativ? Nichts.

Vor einigen Wochen war ich in Washington, wo 100.000 Menschen zusammentrafen, um gegen den Krieg zu protestieren. Die meisten forderten den sofortigen Abzug der ausländischen Truppen aus dem Irak. Demgegenüber sagen uns die meisten Politiker, wir können nicht abrücken, ohne den Irak an eine Art Theokratie auszuliefern. Diese könnte im Irak Fuß fassen. Wie denken Sie darüber?

Man kann über Saddam Hussein denken, wie man will. Jedenfalls war seine Regierung säkular. Heute ist eine große Theokratie sehr wahrscheinlich - damit nicht genug, wahrscheinlich wird sie sich am Iran orientieren. Der schiitische Süden (des Irak) ist bereits eng mit dem Iran verbunden. Viele der schiitischen Führer kommen aus dem Iran. Ajatollah Sistani sowie die überwiegende Mehrzahl der religiösen Führer und die wichtigste Miliz des Südens, die Badr-Brigaden, sind im Iran ausgebildet und bewaffnet worden.

Die amerikanische Invasion hat sich verheerend auf die Gesellschaft (des Irak) ausgewirkt. Im letzten Oktober gingen unsere zuverlässigsten Schätzungen von rund 100.000 Getöteten aus. Inzwischen ist es noch viel schlimmer. Die Zahl der Unterernährten hat sich verdoppelt. Die Zahl der unterernährten Kinder im Irak entspricht heute der von Burundi.

Was will die Bevölkerung? Vor einigen Tagen hat die wichtigste Schiitenpartei gefordert, alle britischen Soldaten im Süden sollten in ihren Baracken bleiben. Die sunnitische Bevölkerung will die US-Truppen ohnehin offensichtlich aus dem Land haben. Auch die Sadr-Gruppe verkündet, die Amerikaner sollten gehen. Innerhalb des Parlaments gibt es eine Kommission für nationale Souveränität - oder so ähnlich. Diese hat - ich glaube einstimmig - einen strikten Zeitplan für den Rückzug gefordert.

Kürzlich las ich eine Rede des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez. Darin ist von Ihrem Buch ‘Hegemony or Survival’ die Rede - nach Chavez Worten ein großes Werk der antiimperialistischen Literatur. Wir wissen jetzt, dass Hugo Chavez Chomsky-Fan ist. Ich frage mich, sind Sie umgekehrt Chavez-Fan? Wie ist Ihre Meinung zur Bolivarischen Revolution?

Auch hier ist die interessante Frage nicht, was halten Sie oder ich davon oder was hält George Bush davon? Die eigentliche Frage lautet doch, was halten die Venezolaner davon? Für Letzteres gibt es Belege. Obgleich die Medien, die Geschäftswelt und die USA Hugo Chavez extrem feindselig gegenüberstanden, hat er eine Wahl nach der andern und ein Referendum nach dem andern gewonnen, mit überwältigender Mehrheit.

Es gibt Umfragen in Lateinamerika - vorsichtige Umfragen von lateinamerikanischen Umfrageinstituten - deren Ergebnisse sehr erhellend sind, weil sie zeigen, dass in nahezu ganz Lateinamerika immer weniger Menschen an die Demokratie glauben. Nicht, dass die Menschen Demokratie nicht gut finden. Was sie nicht gut finden, ist die damit verbundene neoliberale Wirtschaftspolitik. Letztere richtet großen Schaden an. Es gibt nur wenige Ausnahmen, eine davon ist Venezuela.

Die Reichen und Privilegierten hassen ihn (Hugo Chavez). Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung Venezuelas ist extrem verarmt. Vom enormen Reichtum des Landes haben sie nie etwas abbekommen. Die Bolivarische Revolution tut etwas für die Armen - egal, wie Sie oder ich das finden. Und ganz offensichtlich reagieren die Armen. Der enorme Rückhalt für ihn (Chavez) in den Slums und der enorme Hass, der ihm vonseiten der Pelican Suites entgegenschlägt, ist sehr erhellend.

Professor John O’Connor, von der Central Connecticut State University, richtet folgende Frage an Sie: Seit Jahren argumentieren Sie, unser doktrinäres System, unser Propagandasystem, funktioniere so massiv, dass kaum Chancen für echten sozialen Wandel zu erkennen sind. Wie erklären Sie sich dann das Anbrechen einer globalen Bewegung für soziale Gerechtigkeit und gegen den Neoliberalismus?

Ich habe nie behauptet, dass es (das Propagandasystem) soziale Veränderung verhindern könnte. In Wirklichkeit habe ich noch nicht einmal gesagt, dass das System unabhängiges Denken verhindert. Womit ich mich vielmehr auseinandergesetzt habe, ist die Natur dieses Propagandasystems. Dessen Wirkungen stehen auf einem ganz anderen Blatt.

Im Falle des amerikanischen Propagandasystems ist die erste Frage - was ist Propaganda - relativ leicht durch Forschung zu beantworten. Welche Auswirkungen hat Propaganda auf die Bevölkerung - dem nachzugehen ist schon wesentlich schwieriger und eine reichlich subjektive Angelegenheit. Grob gesagt kann man, denke ich, den Schluss ziehen, dass Propaganda wahrscheinlich sehr effektiv auf die gebildeteren Sektoren (der Bevölkerung) wirkt - was nicht überrascht, schließlich sind sie Teil des Propagandasystems und verbreiten die Propaganda. Die allgemeine Bevölkerung gibt ein gemischtes Bild ab. Tendenziell führt Propaganda bei Menschen zu Skepsis, zu Desillusionierung, zu einer Abneigung gegenüber den Institutionen, sie haben das Gefühl, dass nichts funktioniert.

Was die generellen Einstellungen und Haltungen in den USA angeht, so gibt es reichlich Beweise, die die dramatische Tatsache belegen, dass beide politischen Parteien (Demokraten und Republikaner) und die Medien in immer mehr Themenbereichen weit rechts von der allgemeinen Bevölkerung liegen. In dieser Hinsicht hat die Propaganda also nicht funktioniert, und auf diesem Hintergrund sind Phänomene wie die globale Bewegung für soziale Gerechtigkeit zu sehen.

Quelle: ZNet Deutschland vom 22.11.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Social Change Today .

Veröffentlicht am

24. November 2005

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