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Das Gänseblümchen zerpflücken

Von Uri Avnery, 19.11.2005

Es ist wie das Spiel eines jungen Mädchens, das die Blütenblätter des Gänseblümchen einzeln abzupft und murmelt: er will … er will nicht… er will … er will nicht - so versuchen unsere Linken zu erraten, was ihr augenblickliches Idol tun wird.

Wird Ariel Sharon im Likud bleiben? Wird er ihn verlassen und eine neue Partei gründen?

Sehnlichst hoffen sie auf die zweite Möglichkeit. Sharon als der Kopf einer neuen Partei wäre die Antwort auf ihre Gebete - metaphorisch, da sie ja nicht an Gott glauben - der General vom rechten Flügel, der das Programm des linken Flügels ausführt: der israelische de Gaulle wird der Führer der größten israelischen Partei werden und in Verbindung mit den linken Parteien eine solide Majorität für den Frieden schaffen.

Es ist eine verlockende Idee. Da gibt es nur ein Problem: es hat nichts mit der Realität zu tun.

Zunächst, weil Sharon kein De Gaulle ist.

Es ist eine traurige Sache, dass fast alle Israelis, einschließlich der so genanten Linken, keine Ahnung haben, was sich tatsächlich in der Westbank abspielt, während das “Abkommen” über den Rafah-Grenzkontrollpunkt, das Sharon im Gazastreifen von der verärgerten Condoleeza Rice auferlegt wurde, hier einigen Optimismus bewirkt hat.

Letzte Woche war ich wieder in Bil’in, dem heroischen palästinensischen Dorf, das zum Symbol des Kampfes gegen die Mauer wurde. Nachdem wir als friedliche Demonstranten mit Postern von Gandhi, Mandela, Arafat und Rabin mit einem Schauer von Tränengaskanistern und Lärmgranaten empfangen wurden, kann man schwer den wohlwollenden Geist eines “neuen” Sharon entdecken.

Die Aktivisten - Palästinenser, Israelis und “Internationale” - wurden angegriffen, als sie zur Zaunroute kamen und sich dort vor die Bulldozer setzten, die dort emsig arbeiteten, um das “Hindernis” aufzurichten, das das Dorf von zwei Dritteln seines Landes abschneidet. Auf der Seite, die für die Erweiterung der großen benachbarten Siedlung bestimmt ist, konnten wir deutlich erkennen, wo vor kurzem die Olivenbäume ausgerissen wurden, (um vermutlich an israelische Villenbesitzer verkauft zu werden, die eine besondere Note “authentischer” palästinensischer Flora lieben).

In der ganzen Westbank werden die schlimmen Lebensbedingungen noch schlimmer. Der Bau des Zauns bzw. der Mauer ist im Begriff, fertig gestellt zu werden. In Jerusalem zerschneidet er die arabischen Stadtteile, trennt die Eltern von ihren Kindern, Patienten von ihren Ärzten, Schüler und Studenten von ihren Schulen und anderen Instituten. Dutzende von permanenten und vorübergehenden Straßensperren überall in der Westbank machen ein irgendwie normales Leben unmöglich. Jede Nacht werden Leute festgenommen, einige getötet, “auf der Flucht erschossen”. Die Zahl der in israelischen Gefängnissen fest gehaltenen Palästinenser ist größer denn je.

Überall werden Siedlungen vergrößert, und neue entstehen, als “neue Wohngegend” der bestehenden Siedlung getarnt. In Bil’in z.B. konnte man leicht sehen, wie Modi’in Illit die Hügel hoch kriecht und sie bedeckt - Hügel, die vor wenigen Wochen voller Olivenbäume waren.

Von den Hunderten oder mehr “Außenposten”, die Sharon nach der Road Map hätte eigentlich räumen sollen, wurde keine einzige aufgelöst. Was die Gegenwart betrifft, so läuft gerade eine laute Debatte, ob ein einziger “illegaler Außenposten” - Armorna bei Ophra - aufgelöst werden sollte oder nicht.

Keiner, der sieht, was tatsächlich in den besetzten palästinensischen Gebieten geschieht, kann wirklich glauben, dass sich Sharon auf dem Friedensweg befindet. Zu ihrem Glück sind diese Linken völlig ignorant.

Wäre es also gut für den Frieden, wenn Sharon eine neue Partei gründete?

Im Gegenteil.

Nehmen wir einen Augenblick an, Sharon mache seine Drohung wahr, gründete eine neue Partei und würde 35 Sitze bei den kommenden Wahlen gewinnen, (die wahrscheinlich im März 2006 stattfinden werden). Nehmen wir weiter an, der kümmerliche Rest des Likud sei auf 26 Sitze reduziert, dann ergäbe das zusammen 61 Sitze in der Knesset. Selbst wenn die Laborpartei unter der neuen Führung von Amir Peretz seine Fraktion auf 30 erhöhen kann, wird die Sharon-Likud-Koalition die absolute Mehrheit erlangen, die - wenn nötig - mit den religiösen und extrem-rechten Fraktionen verstärkt werden kann.

In andern Worten: die neue Partei wäre ein Kunstgriff, die Linken und die Zentrumswähler zur Rechten zu ködern und um Sharon freie Hand zu geben, damit er wirklich das tun kann, was er will, einseitig einen “Endstatus” zu schaffen, in dem Israel mehr als die Hälfte der Westbank annektiert und die Palästinenser dazu verurteilt, in kleinen isolierten Enklaven zu leben, die völlig von Israel beherrscht werden.

Während einige intelligente Linke zugeben, dass dies stimmen mag, behaupten sie auch, dass sich “Sharon ändern kann”. Nachdem er von der ganzen Welt als “Mann des Friedens” gefeiert wurde, mag er von seinem unerwarteten Ruhm berauscht sein, eine Koalition mit Labor einzugehen und Frieden zu machen. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass es ein großes Glücksspiel wird, das die Zukunft unseres Landes auf eine Karte setzt. So wie ich Sharon kenne, sind die Chancen so gut wie null.

Was Israel jetzt benötigt, ist eine klare Wahl zwischen klaren Alternativen. Mit der Ankunft von Amir Peretz an die Spitze der Laborpartei, wäre solch eine Wahl möglich. Er unterstützt aufrichtig die Verhandlungen mit der palästinensischen Führung und einen lebensfähigen palästinensischen Staat, der sich auf die Grenzen von1967 gründet, und eine Innenpolitik, die das wirtschaftliche Wachstum mit sozialer Solidarität ausbalanciert.

Bei den kommenden allgemeinen Wahlen kann Peretz einen Überraschungssieg gewinnen, wie bei den Laborwahlen. Aber selbst wenn es ihm nicht gelingen sollte, Labor dieses Mal in die führende Position zu bringen, könnte ein eindrucksvoller Gewinn für die Linke die Bedingungen schaffen, damit sie bei den übernächsten Wahlen zur Macht zurückkehren kann.

Drum werft das Gänseblümchen weg und fangt bitte mit der Arbeit an!

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

Veröffentlicht am

20. November 2005

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