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Eine Gleichung, die Sand in Blut verwandelt

Der britische Autor Robert Fisk über den Irak vor dem Verfassungsreferendum, den Saddam-Prozess und die Frage, weshalb Gerechtigkeit wichtiger als Demokratie sein kann

Im Folgenden dokumentieren wir ein Gespräch mit Robert Fisk, das die Wochenzeitung “Freitag” geführt hat. Robert Fisk ist einer der profiliertesten Journalisten der britischen Zeitung “The Independent” und berichtet seit vielen Jahren aus dem Nahen Osten.

Am 15. Oktober waren die Iraker aufgerufen, über die Ende August nach langem Tauziehen vom Verfassungsrat vorgelegte neue Konstitution abzustimmen. Ein Plebiszit gegen den erklärten Willen der sunnitischen Parteien und Gemeinschaften - im Zeichen von marodierender Gewalt, ökonomischem Verfall und menschlicher Verzweiflung.

FREITAG: Der wohl gefährlichste Ort im Nahen Osten ist zur Zeit der Irak. Täglich gibt es jetzt vor dem Verfassungsreferendum Bombenexplosionen und weitere Morde. Doch wofür das alles? Lässt sich die Katastrophe noch steigern?

ROBERT FISK: Nicht für uns - für die Iraker ist es eine Katastrophe. Wir können höchstens noch sagen: “Unter Saddam war es schlimmer.” Wenn es heißt: “Er hat die Leute in Massengräber werfen lassen”, sollte man allerdings daran denken, was wir tun - Menschen an den Checkpoints niederschießen und Häftlinge in Abu Ghraib sexuell misshandeln.

Höchst aufschlussreich war für mich, dass die ganze Welt, als die Bilder von Abu Ghraib kursierten, schockiert war - nur die Iraker nicht. Sie waren sowieso davon ausgegangen, dass die Amerikaner sich so verhalten würden.

Noch einmal, worum geht es?

Wenn jemand behauptet, Amerika sei nicht wegen des Öls dorthin gegangen, dann beantworte man mir die Frage: Wäre der wichtigste Exportartikel Spargel - wären sie dann dort? Amerika und seine Freunde gingen aus zwei Gründen in den Irak: Öl ist der erste. Den zweiten Grund begriff ich, als ich vor einiger Zeit am Straßenrand des Highways Nummer acht saß. Ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes war in seinem Fahrzeug ermordet worden, und ich suchte nach Augenzeugen. Als ich gerade mit einer irakischen Familie sprach, begann plötzlich der Boden unter unseren Füßen zu beben. Ich schaute mich um und sah gewaltige US-Konvois - stundenlang zogen Tanks, Bradley-Fighting-Vehicles, Lastkraftwagen auf Lastwagen und Tausende von Soldaten vorbei. Wir saßen im Schmutz an der Piste und sahen zu. Und mir fiel ein, dass vor 2000 Jahren etwas weiter westlich und näher am Meer die Römischen Legionen das Gleiche getan hatte.

Einer der Gründe, warum wir in den Irak einmarschierten - mit “wir” meine ich den Westen, vor allem die USA und Großbritannien - ist der schiere physische, instinktive Drang, geballte Macht zu demonstrieren. Die Parole lautet: Wir können nach Bagdad gehen, also werden wir nach Bagdad gehen! Das ist Imperialismus, der Trieb zur Expansion. Schauen Sie sich doch die amerikanischen Stützpunkte in der Welt an: Island, Großbritannien, Deutschland, das einstige Jugoslawien, Griechenland, die Türkei, Irak, Jordanien, Kuwait, Saudi-Arabien, Afghanistan, Katar, Oman, Jemen, dazu Elitetruppen in Ägypten. Die Amerikaner haben es 1993 in Somalia versucht, sind aber gescheitert. Und sie haben es zehn Jahre früher im Libanon versucht, was ebenfalls fehlschlug. Ansonsten sind sie überall. Was kommt als Nächstes? Iran? Turkmenistan? Was liegt doch gleich auf der anderen Seite des Erdballs? China?

Ist der Preis, den der Irak jetzt für den Sturz des Diktators zahlt, zu hoch? War es das wert?

Es gab sicher auch andere Mittel, Saddam zu Fall zu bringen. Wir - der Westen - hätten dann allerdings nicht erreicht, was wir wollten. “Seht doch, wir haben Demokratie für euch”, sagen wir den Irakern, und die antworten: “Gebt uns Elektrizität!” Darauf antwortet wiederum der US-Administrator in Bagdad: “Nein, zunächst braucht der Irak eine von der UNO geschriebene Verfassung …”

Kürzlich beschuldigte Iraks Justizminister Adel Hussein Schandal die USA, wichtige Informationen über Saddam Hussein, die vielen Ländern schaden könnten, zurückzuhalten. Er meinte, es gebe viele Geheimnisse, die Amerika zu verbergen suche.

Da haben Sie einen der Gründe dafür, dass die Amerikaner kein wirkliches Interesse an einem Prozess haben. Ganz sicher ist das, was Sie zitieren auch eine Erklärung dafür, weshalb bei der ersten Anhörung Saddams der Ton ausgeschaltet wurde. Der sollte daran gehindert werden, sich über seine früheren guten Beziehungen mit den USA auszulassen. Wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, wird davon öffentlich nichts übertragen, nehme ich an.

Offiziellen Ankündigungen zufolge ist der Prozess gegen Saddam und eine noch unbekannte Zahl ehemaliger Baath-Politiker vor einem irakischen Sondergericht auf 2006 angesetzt.

Als man Saddam 2003 festgenommen hatte, hieß es, er werde innerhalb von sechs Monaten vor Gericht gestellt. Das geschah nicht. Dann sollte der Prozess gegen ihn Anfang 2005 beginnen. Nichts dergleichen ist passiert. Inzwischen sagt die Regierung in Bagdad: “In zwei Monaten!” Ich prophezeie, auch in zwei Monaten gibt es kein Tribunal. Man veranstaltet lediglich Theater für die Leute - für die Iraker, die ohne Elektrizität in der Hitze sitzen und zusehen müssen, wie ihre Familien ausgelöscht werden.

Was wird dann mit Saddam Hussein geschehen?

Er ist das Gespenst auf der Bühne - der Mann, der das Dunkle zum Vorschein kommen lässt. Kennen Sie den Roman Farm der Tiere von George Orwell? “Ihr wollt doch nicht etwa” - wird da gefragt - “dass Mister Jones zurückkommt? Nein, nein!” Alle Schweine rennen durcheinander. “Erinnert ihr euch an Mister Jones?” Genau das Gleiche passiert gerade im Irak. “Erinnert ihr euch an Saddam?” werden die Iraker gefragt und sollen wie die Kälber “bäh” machen. Aber sie tun es nicht.

Die Amerikaner haben sich mit Saddam gewaltig verkalkuliert, weil sie dachten, der Aufstand sei beendet, wenn sie ihn gefangen nehmen. Viele Iraker haben mir gesagt: “Wir würden uns dem Aufstand gern anschließen, tun es aber nicht. Wenn er erfolgreich ist, kehrt Saddam vielleicht zurück. Aber wenn sie - die Amerikaner - Saddam gefangen nehmen, werden wir gegen sie kämpfen.” So hat die Gefangenschaft Saddams nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was US-Administrator Paul Bremer erwartet hatte, als er sich erhob und sagte: “Meine Damen und Herren, wir haben ihn!” Von diesem Augenblick an war der Aufstand nicht mehr aufzuhalten.

Einem Bericht der BBC zufolge gibt es Pläne, bis zum Frühjahr 2006 Tausende amerikanischer und britischer Soldaten abzuziehen. Es heißt, die USA würden ihre Truppen von 176.000 auf 66.000 Mann reduzieren. Ist das vorstellbar?

Das werden sie nicht tun. Die Amerikaner müssen den Irak verlassen, und die Amerikaner wollen den Irak verlassen - aber sie können ihn nicht verlassen. Das ist die Gleichung, die Sand in Blut verwandelt. Sie glauben, dass ein Bürgerkrieg ausbricht, sobald sie gehen, aber das wird nicht passieren. Es hat im Irak noch nie einen Bürgerkrieg gegeben. Bestenfalls könnte die irakische Regierung erklären: “Wir fordern, dass - beispielsweise - bis zum 15. Oktober alle amerikanischen Soldaten den Irak verlassen.” Dann würden die Aufständischen diese Regierung sicher unterstützen. Aber das kann diese Regierung nicht sagen, weil sie den Amerikanern verpflichtet ist. Sie muss weiter in ihrer kleinen, von den Amerikanern bewachten “Grünen Zone” leben.

Was wären denn wirklich sinnvolle Schritte, um dem Irak Frieden und Demokratie zu bringen?

Heraus aus dem Irak. Wir sagen immer, dass die Araber sehr gern etwas von unserer glänzenden, zerbrechlichen Demokratie hätten, und dass sie sich Freiheit von den Geheimdiensten und den Diktatoren wünschten - die wir größtenteils an die Macht gebracht haben. Die Araber wären eben gern auch von uns befreit. Sie wollen Gerechtigkeit, die manchmal wichtiger ist als “Demokratie”. Der Nahe Osten ist doch durchwoben von Ungerechtigkeiten, von alten und neuen, die oftmals auf uns zurückgehen. Jedes Mal, wenn Bush sagt, “Sharon ist ein Mann des Friedens”, oder “die Siedlungen im Westjordanland müssen wahrscheinlich bleiben”, geht die Ungerechtigkeit weiter. Jeden Morgen, sobald wir das Radio einschalten, geht sie weiter.

Das Gespräch führte Andrea Bistrich

Das neue Buch von Robert Fisk:

  • The Great War for Civilisation: The Conquest of the Middle East. Fourth Estate (Harper Collins), Oktober 2005, ISBN 1-8411-007-X

Seine Bücher über den Nahen Osten sind seit Jahren ein dringend benötigtes Gegengewicht zu offiziellen Regierungsstatements und Mainstream-Journalismus. Seit Beginn der US-Besatzung im Irak ist Robert Fisk als langjähriger Nahost-Autor der britischen Zeitung The Independent in Bagdad stationiert. Er hat über die iranische Revolution 1979 ebenso berichtet wie den Golfkrieg 1991 oder den Konflikt in Algerien. Er war einer der beiden westlichen Journalisten, die während des libanesischen Bürgerkriegs - als Entführungen üblich waren - in Beirut blieben. Kurz darauf schrieb er sein Buch Pity the Nation über die Geschichte dieses Konflikts. Fisk wurde sieben Mal mit dem British International Journalist of the Year Award ausgezeichnet; er erhielt den Amnesty International UK Press Award für seine Algerienberichte sowie seine Berichterstattung über den NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien.

Gerade hat Robert Fisk, den die Aufsätze und Reportagen über die Politik der USA und Israels im Nahen Osten zur Zielscheibe von Morddrohungen gemacht haben, sein neues Buch vorgestellt: The Great War for Civilisation: The Conquest of the Middle East. “Wir sind nicht hier”, sagt er darin, “uns Sorgen, um uns selbst zu machen. Wir sind hier, um zu versuchen, so nah wie möglich an die Wahrheit heranzukommen und die Wahrheit zu verbreiten.”

Quelle: AG Friedensforschung vom 18.10.2005. Dort übernommen aus: Freitag 41, 14. Oktober 2005.

Veröffentlicht am

21. Oktober 2005

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