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Die Stunde der Wahrheit

Von Uri Avnery, 30.07.05

Im Augenblick erscheint Israel wie ein Patient, der auf eine Operation wartet. Wie jede größere Operation ist sie gefährlich. Der Patient hofft, dass alles gut geht, aber er weiß, es gibt keine Garantie.

In 16 Tagen soll die Evakuierung von 21 Siedlungen im Gazastreifen und vier im Norden der Westbank beginnen. Vermutlich wird es drei Wochen dauern.

Falls dies so geschehen wird, wie wird der Staat Israel am 7. September aussehen? Fast niemand spricht darüber oder denkt daran. Das kollektive Gedächtnis weigert sich, sich damit zu befassen, als wäre es Dekaden entfernt und nicht nur fünf Wochen. Hauptsache ist, dass die Operation gut vorübergeht.

Aber wenn man sich für die Zukunft Israels verantwortlich fühlt, muss man tatsächlich auch darüber nachdenken.

Die Situation in fünf Wochen hängt natürlich davon ab, was in diesen fünf Wochen geschieht. Es ist ganz unmöglich vorauszusehen, unmöglich zu erraten.

Es gibt mehrere sich widersprechende Möglichkeiten und viele Variationen dazwischen.

Möglichkeit 1: Die Operation verläuft glatt. Eine Menge Lärm, Geschrei, Handgemenge, Selbstmorddrohungen. Sonst nichts.

Wir haben dieses Szenario schon einmal in den lustigen Tagen von Yamit, 1982, erlebt. Die Siedler verbarrikadierten sich auf den Dächern und wurden in eisernen Käfigen von dort heruntergeholt. Einige schlossen sich in einem Bunker voller Explosivstoffe ein und drohten damit, sich in die Luft zu jagen - tauchten dann aber alle heil und gesund auf. Ein junger Rowdy mit Namen Tsachi Hanegbi kletterte auf einen hohen Turm, ließ sich wie ein Held von Massada photographieren, kletterte ganz still wieder hinunter und wurde zu gegebener Zeit Kabinettsminister. Eine Menge weißer Schaum, keine Toten, keine Verwundeten. Genau das kann auch diesmal so geschehen.

Diese Möglichkeit wäre Ariel Sharon am liebsten; er hatte damals das Kommando über die Evakuierung von Yamit. Je mehr Lärm, umso einfacher wird es für ihn sein, die Welt (und Condoleezza Rice) davon zu überzeugen, dass es eine schiere Unmöglichkeit sei, die großen Siedlungen in der Westbank zu evakuieren.

Möglichkeit 2: Es gibt ernsthaften Widerstand; die Führung der Siedler verliert die Kontrolle, Soldaten und Polizisten reagieren zornig, es fließt Blut. Die Mehrheit der Öffentlichkeit steht vereinigt hinter der Armee, die ein Teil des Volkes ist und von vielen als das Heiligste des Heiligen angesehen wird. Die Minderheit wird noch extremer. Die Kluft zwischen beiden Lagern wird zu einem Abgrund von Hass.

Möglichkeit 3: Die Operation kommt mittendrin zu einem Halt. Es ist unmöglich, die Evakuierung durchzuführen. Soldaten und Polizisten sind physisch und psychisch nicht in der Lage - angesichts des resoluten Widerstandes der Siedler und der ins Gebiet strömenden Massen ihrer Unterstützer - die Evakuierung durchzuführen. Sharon sieht sich vor die Wahl gestellt, Waffen aller Art anzuwenden - Tränengas, Schlagstöcke, gummi-ummantelte Kugeln, scharfe Munition - oder die Niederlage einzugestehen. Die Regierung stürzt.

Diese Möglichkeit wird von der Siedlerführung bevorzugt. Sie wird jede Möglichkeit ausschließen, auch nur die kleinsten Siedlungen in der Westbank aufzulösen. Der Staat Israel wird praktisch vor dem Staat der Siedler kapitulieren.

Man kann sich unmöglich vorstellen, was geschehen könnte, weil eine Pistole und ein Verrückter - ein aufgehetzter Siedler, ein einsamer Mörder wie Yigal Amir oder ein zorniger Soldat - genügt, um eine große Explosion auszulösen.

Wenn die Operation, wie geplant, verlaufen wird, wird es ein Triumph für Sharon sein. Er wird dann in der Lage sein, die nächste Phase seines großen Entwurfes in Angriff zu nehmen.

Der Plan ist kein Geheimnis. Ja, er wurde laut von Sharon selbst und seinem Vertrauten, Dov Weisglass, verkündet. Sie führten ihn beide im privaten Gespräch und bei öffentlichen Statements mehr als einmal aus.

Das Ziel ist, einen möglichst großen Teil des Landes zu annektieren, ohne dem Staat zu viele Araber einzuverleiben. Das bedeutet die Annexion von etwa 58% der Westbank an Israel und die Schaffung von autonomen Enklaven für die Palästinenser in ihren Städten und dicht bevölkerten Dorfregionen.

Um diesen Plan auszuführen, wird Sharon folgende Methoden anwenden:

  1. Vermeidung irgendwelcher Verhandlungen. Sharon wird sich unnachgiebig weigern, mit der palästinensischen Führung jede reale Verhandlung zu führen. Er weiß, dass solche Verhandlungen unvermeidlich zu einem Rückzug Israels zu einer leicht veränderten Grünen Linie führen wird, die höchstens die Annexion der Siedlungsblöcke direkt neben der Vor-1967er-Grenze liegen, erlauben. Deshalb müssen Verhandlungen unter jedem möglichen Vorwand vermieden werden: “Es gibt keinen Gesprächspartner”, “Mahmoud Abbas ist ein Schwächling”, “Wir werden nicht mit ihm reden, solange er nicht die Infrastruktur des Terrorismus und die Hetze beendet hat” und so weiter.
  2. “Einseitigkeit”. Nach dem einseitigen Abzug aus dem Gazastreifen wird Israel einseitig seine Grenzen festlegen - entsprechend seinen “Sicherheits- und demographischen Bedürfnissen”, wie es sie selbst bestimmt. Nach Sharons Ankündigungen wird dies die Annexion von “wesentlichen Sicherheitsgebieten, den großen Siedlungsblöcken und Groß-Jerusalem” einschließen. Das heißt: das ganze Jordantal und die östlichen Hänge der zentralen palästinensischen Bergkette; das Jerusalem-Areal mit Maale Adumin und alles, was dazwischen liegt; alle Siedlungsblöcke und die Straßen, die sie mit einander und mit Israel verbinden.
  3. Unmittelbare Ausführung. Dies ist kein Plan für irgendwann in der Zukunft, sondern eine Operationsorder für heute. Sie wird schon jetzt ausgeführt, während der Bau der Mauer/des Zaunes und der Bau neuer Siedlungen fertig gestellt wird - besonders in dem Gebiet zwischen der Mauer und der Grünen Linie - und dem Bau der neuen Straßen.
  4. Auflösen entfernt liegender Siedlungen: kleine Siedlungen, die in Gebieten liegen, die nicht annektiert werden, müssen evakuiert werden. Allein die Absichtsankündigung, sie aufzulösen, lässt Sharon sich selbst wieder als Mann des Friedens präsentieren und erhält so auch für diesen Plan die amerikanische Zustimmung. Für diesen Zweck wird alles mit vagen Statements begleitet, die Absichten eines permanenten Abkommens mit den Palästinensern irgendwann in der Zukunft beinhalten - nachdem sie die “terroristische Infrastruktur” eliminiert haben und sich mit Israels neue Grenzen abgefunden haben.

Sharon hofft noch immer, wenn sich der Staub des Siedlerabzuges gelegt hat, dann wird es ihm gelingen, mit den Siedlern über diesen Plan ein Abkommen zu erreichen. Aber die Chancen dafür sind dürftig. Es sind genau die kleinen Siedlungen innerhalb der palästinensischen Enklaven die nach Sharons Plan aufgegeben werden sollten, in denen sich der harte Kern der Siedler befindet, sowie die Zentren des nationalistisch-messianischen Glaubens. Man kann nicht einmal im Traume daran denken, Orte wie Ophra, Beth-El, Yitshar, Brakha, Tapuach und ähnliche ohne Blutvergießen zu evakuieren, was immer auch in Gush Kativ geschieht. Das wirkliche Ziel des Kampfes der Siedler um Gush Kativ ist, die Öffentlichkeit zu erschrecken und sie zu überzeugen, dass jede weitere Konfrontation sogar noch extremer verlaufen wird.

Der Sharon-Plan stellt für die Zukunft Israels eine große Gefahr dar. Er gründet sich auf der Anmaßung, dass Frieden mit dem palästinensischen Volk und der ganzen arabischen Welt weder wünschenswert noch wichtig sei, verglichen mit dem Ziel der so weit wie möglich hinausgeschobenen Grenzen eines Großisraels. Wenn dieser Plan ausgeführt wird, wird er zum Kollaps der palästinensischen Behörde führen, das palästinensische Volk in die Arme der extremen islamischen Bewegungen treiben und einen Krieg entfachen, der viele Jahre dauern wird.

Momentan bemühen sich die israelischen Friedenskräfte, den Gaza-Abzug zu fördern und gegen die Siedler zu kämpfen, indem sie unter anderem blaue Bänder verteilen. Nur ein kleiner, radikaler Teil kämpft weiter gegen die Mauer, enthüllt innerhalb Israel und im Ausland ihre wirkliche Absicht und demonstriert unaufhörlich gegen den Weiterbau der Mauer.

Die meisten Friedenskräfte loben und preisen Sharon persönlich. Aber in dem Augenblick, in dem diese Operation vollendet ist, muss sich das ganze Lager gegen Sharon und seinen Plan erheben.

Die Friedenskräfte müssen sich unverzüglich psychisch und praktisch für den Augenblick vorbereiten, damit sie die Dynamik des Rückzugs ausnützen können, um einen Rückzug aus allen palästinensischen Gebieten zu erreichen. In anderen Worten: den Kampf gegen die Gush Kativ-Siedlungen in einen Kampf gegen alle Siedlungen zu wandeln, die im Weg des Friedens mit den Palästinensern stehen.

Das wird nicht einfach sein. Nach der Ermordung von Yitzhak Rabin begannen die Siedler und ihre Unterstützer - als eine Art Schadensbegrenzung - eine wohl durchdachte und propagierte Kampagne der “Versöhnung”. Das kann jetzt wieder geschehen. Sie werden erklären, dass nachdem die Siedler “aus ihren Häusern vertrieben” und das Volk aus einander getrieben worden sei, die Tagesorder sein müsste, die Menschen wieder zu einander zu bringen, um den “Riss zu flicken”. Sie werden leicht Einfältige im linken Flügel finden, die wieder in diese Falle tapsen. Ihr wahres Ziel ist natürlich, das Auflösen der Siedlungen in der Westbank zu verhindern.

Ehud Olmert, ein Likudgaul und Sharons Schildträger, begann tatsächlich schon gestern diese Kampagne. Er erklärte, dass sich das Land direkt nach dem Abzug nur auf zwei Dinge konzentrieren müsste: Versöhnung nach innen und die sozialen Probleme lösen. Frieden? Nichts davon.

Während man mit dem einen Kampf beschäftigt ist, ist es schwierig, schon dem nächsten Aufmerksamkeit zu schenken und ihn vorzubereiten. Aber wir müssen es tun. Die Stunde der Wahrheit nähert sich in rasender Geschwindigkeit - in nur fünf kurzen Wochen wird sie da sein.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert

Veröffentlicht am

31. Juli 2005

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