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Europa - das höllische “Gelobte Land”

Von Roland Rottenfußer

Der Dokumentarfilm-Regisseur Markus Imhoof ("More than honey") nimmt sich in seinem neuen Werk des Flüchtlingsthemas an. Schonungslos realistisch, in verstörenden, meist unkommentierten Bildern analysiert er subtil die Mechanismen globaler Ausbeutung. Bilder einer Welt, die selbst politisch interessierte Menschen sonst nur erahnen können, in die aber normalerweise niemand so schmerzhaft deutlich hineinleuchtet.

Unruhige Kamerabilder zunächst, aufgewühltes Wasser, Flüchtlinge, die gegen das Ertrinken kämpfen. Sie werden an Bord eines Rettungsschiffs gezogen, liegen erschöpft auf Tragen, dich gedrängt. Lautsprecherdurchsagen begrüßen die Neuankömmlinge, geben sich höflich, versprechen Unterstützung, machen aber auch gleich deutlich, wer das Sagen hat. Ein großes italienisches Kriegsschiff hat die Flüchtlinge aufgenommen. Es ist Teil der staatlichen Marineoperation "Mare nostrum". Die Soldaten werden bei ihren militärischen Ritualen gezeigt. Bei einem "Feldgottesdienst" auf See spricht der Geistliche von einem "heiligen, vom Vaterland bewaffneten Schiff."

Dann Szenenwechsel: Der Autor und Filmemacher führt die Zuschauer zurück in die 40er-Jahre. Auch damals gab es Geflüchtete. Einige kamen aus Italien, auf der Flucht vor dem Faschismus, Juden und auch Dissidenten. Die Familie Markus Imhoofs (geb. 1941) nahm damals ein Flüchtlingsmädchen auf. Während die Kamera über vergilbte dokumentarische Fotos gleitet, verliest Imhoof Brief an seine Ziehschwester. "Wegen dir, Giovanna, bin ich auf diesem Schiff", schreibt er. In Erinnerung an Giovanna also hat er sich auf dieses Filmprojekt eingelassen, hat sich unbehaglichen Situationen ausgesetzt, um eine Stück Wahrheit einzufangen.

Warum dieses Spiel mit zwei Zeitebenen? Der Regisseur drängt seinen Zuschauern die Schlussfolgerung nicht auf. Man kann aber eine nahe liegende Deutung erwägen: Damals Flüchtlinge, heute Flüchtlinge. Ein solches Schicksal kann jedem widerfahren, in jedem Land - entsprechend desaströse politische Verhältnisse vorausgesetzt. Auch in Deutschland wurde "Zuwanderungsskeptikern" und Rechtsauslegern oft entgegengehalten: Denkt daran, dass auch eure Vorfahren vor gar nicht so langer Zeit Flüchtlinge waren und der Hilfe durch Einheimische bedurften: aus Schlesien und Ostpreuße zum Beispiel.

Aus der Sicht von Imhoofs Heimat, der Schweiz, ist die Perspektive wieder eine etwas andere. Die Schweiz war und ist nur Aufnahmeland. Und sie ist Schauplatz eines grassierenden Rechtsrucks - wie Deutschland auch. "Die Schweiz liegt nicht am Meer. Es dürfte hier kein einziger Flüchtling sein, es sei denn er ist vom Himmel gefallen. Trotzdem haben es einige hierher geschafft", sagt ein Kommentar aus dem Off. Und wie geht das Land mit seinen Gästen um? Viele wohnen in Bunkeranlagen, die überall im Land für den Kriegsfall angelegt wurden. Die Atmosphäre ist bedrückend eng, wie in einem U-Boot. Eine Betreuerin zeigt Mitleid: "Wenn jemand in der Heimat lange im Gefängnis war, und dann wird er hier untergebracht…" Aber sie sagt auch, die Behörden könnten nur die Quartiere vergeben, die vorhanden sind - bessere gebe es nicht.

Die Anzahle der Flüchtlinge, die es in die Schweiz schaffen, ist nicht groß - gemessen an der Türkei, Griechenland oder Italien. Dennoch suchen die Behörden nach Wegen, die "Eindringlinge" wieder los zu werden. Ein Mann geht für eine Prämie von 3000 Franken zurück in seine Heimat Elfenbeinküste. Es erscheint absurd, dass der Staat einem Menschen so viel dafür zahlt, das Land zu verlassen. Aber eine Abschiebung mit drei "Betreuungspersonen", mit dem Flugzeug nach, Afrika kostet 15.000 Euro pro Person. Die an und für sich schon aufschlussreiche Episode hat eine bittere Pointe: Im selben Monat, in dem der Mann zu Hause ankommt und sich von dem Schweizer Geld zwei Kühe kauft, tritt ein Handelsabkommen in Kraft, das die Märkte in seinem Land "liberalisiert". Exporte aus Europa machen die Viehwirtschaft in der Elfenbeinküste kaputt. Wird der Mann wieder nach Europa fliehen müssen?

Imhoof zeigt zunächst fast nur Bilder, aus denen der Zuschauer seine eigenen Schlussfolgerungen ziehen kann. Er analysiert wenig, klagt nicht lauthals an, hält keine Ethik-Vorträge. Ein voll besetztes Flüchtlingsboot kommt wieder ins Bild. Die Menschen gelangen an Bord, einigen geht es sichtlich schlecht. Sie blicken zu Boden, ihre Gesichter sind von den Spuren des Erlebten gezeichnet. Sanitäter erscheinen mit Mundschutz und sterilen weißen Anzügen, einer Art Ganzkörperkondom. Sind diese Menschen, nur weil sie aus Afrika kommen, giftig? Darf man sie nicht ohne Handschuhe anfassen? Oder warum wirkt das Szenario wie in einem Seuchenthriller aus Hollywood? Einem Flüchtling wird kurzerhand die Hose heruntergezogen: "Sie haben Krätze". Es ist eine Schnellabfertigung, leidlich höflich, aber unpersönlich. Dem Flüchtling wird auf routinierte Weise geholfen, aber zu melden hat er auch nichts.

Einige Geflüchtete beginnen von ihrem Schicksal zu erzählen. Eine Frau war für ein halbes Jahr in einem der furchtbaren Libyschen Gefängnisse. "Du musst erst dein Leben zu riskieren, um ins Paradies zu kommen", kommentiert Imhoof. Bei Regen wollten die Flüchtlinge unter Deck. Doch die Marines bildeten eine Kette, um sie nicht unter Deck zu lassen. Diese Szene durfte der Regisseur nicht drehen, aber er hat sie miterlebt. Oft musste Imhoof hart mit den Behörden verhandeln, um eine Drehgenehmigung zu bekommen. Nicht überall durfte er hineinleuchten. Warum nicht? Was haben die staatlichen und militärischen Stellen zu verbergen. Ein Flüchtling protestiert, aufgebracht gestikulierend. "Sie enthalten uns unsere Recht vor." Er wird abgedrängt.  Ein Wärter rechtfertigt sich, der Flüchtling sei abgeschoben worden, er sei zornig, jedoch nicht auf seine Bewacher, sondern auf die Kommission, die über Asylanträge zu entscheiden hat.

Ein Höhe- oder Tiefpunkt des Films sind die "Wohnanlagen" illegal arbeitender Flüchtlinge in Südtalien, Slums eigentlich, die an die schlimmsten Regionen der so genannten Dritten Welt erinnern, heruntergekommene, lichtlose Baracken von bedrückender Ausstrahlung. In einem quälenden Wartestand zwischen den Welten gefangen, sind viele Ankömmlinge auf Einkünfte aus illegaler Arbeit angewiesen. Und ihr "Gastgeberland" empfängt sie mit gnadenloser Ausbeutung.

Dank dieser Fremdarbeiter zum Schnäppchenpreis "floriert die italienische Wirtschaft." Die Mafia organisiert die Schwarzarbeit, der Staat lässt dies zu und bietet keine Alternative. Wer arbeiten will, muss sich in das mafiöse System fügen. Es enthüllt sich ein Vorgang, der nicht nur aufs höchste abstoßend ist, sondern auch absurde Züge trägt. Mit ausbeuterischer Arbeit werden in Italien Tomaten angebaut. Diese werden in Dosen nach Afrika verschickt. Dort kann es passieren, dass Verwandte der in Europa angekommenen Sklaven-Flüchtlinge die Dosen kaufen, was wiederum den nicht konkurrenzfähige heimischen Tomaten-Anbau ruiniert.

Szenewechsel. In der Schweiz, in den 40er-Jahren wurde ein Flüchtling mitunter als "Dreckige Kanackenschnauze" beschimpft.

Szenenwechsel: Polizisten in der Gegenwart kontrollieren einen Schwarzen in der U-Bahn. Nur einen Schwarzen, während korrekthäutige Mitfahrer unbehelligt bleiben.

Ein weiteres "Streiflicht", das europäische Gegenwart beleuchtet: Heute fängt die italienische Marine Flüchtlinge bereits vor der libyschen Küste ab. Sie landen dann oft in den berüchtigten, zutiefst demütigenden libyschen Gefängnissen - ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Ehemalige Schlepper, die zu Flüchtlingsfängern umgewidmet wurden, helfen dabei die Schutzsuchenden nach Afrika zurückzutreiben. Das Kopfgeld dafür bezahlen Italien und die EU.

Markus Imhoofs Film kommt das große Verdienst zu, den Finger auf eine schwärende Wunde der - wie sie selbst sich nennt - "freien Welt" zu legen. Er leuchtet in dunkle Ecken unseres "sauberen" Kontinents, in die selbst politisch relativ bewusste Menschen nur selten zu blicken wagen. "Eldorado" zeigt, wie der Traum vom "Gelobten Land" an einer bitteren Realität zerplatzt, wie sich das vermeintliche Paradies in ein Fegefeuer verwandelt, für manche gar in eine Hölle. Auf die Träume Not leidender Menschen hat der Menschenrechts-Weltmeister Europa oft keine andere Antwort als das, was der kapitalistische Westen offenbar am besten kann: Ausbeutung, gestützt durch autoritäre Repression.

Sicher: Leib und Leben können die Flüchtlinge rettet - jedenfalls jene, die der Film zeigt und die der Gefahr, im Mittelmeer zu ertrinken, entgangen sind. Professionelle Höflichkeit, Essen und Unterkunft wird den meisten Ankömmlingen zuteil; Trost, Menschlichkeit und die Heilung auch seelischer Wunden suchen sie meisten vergeblich. Freilich sind die gezeigten Szenarios in der Regel nicht Endstation. Vielleicht bekommen einige dieser Menschen Asyl, können ein menschenwürdiges Leben in einem Gastland führen, arbeiten, ihre Familie nachholen. Mit dem europäischen Rassismus, mit Hassdemonstrationen vor Flüchtlingsunterkünften, mit dem Gerede rechter Politiker wenigstens werden die Flüchtlinge nicht konfrontiert, solange sie in den gefängnisartigen Lagern nahe der italienischen Küste festhängen. Ein schwacher Trost.

Markus Imhoof verknüpft mit seinem Film keinen Appell an die Zuschauer und an die Politik. Jedenfalls keinen expliziten. Man könnte selbst einen formulieren: Behandeln wir doch Geflüchtete wie Menschen. Der Satz ist zweideutig: Behandeln wir sie als ob sie Menschen wären. Oder: Behandeln wir sie als ob wir selbst Menschen wären. Die jetzigen Zustände an den Küsten des Mittelmeers jedenfalls sind eine Schande. Dies drastische vor Augen geführt zu haben, ist ein großes Verdienst von "Eldorado".

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 03.05.2018.

Veröffentlicht am

15. Mai 2018

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