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Die Welt im Krieg: Über weltweite Ungleichheit, imperiale Lebensweise und Migration

Von Dirk Vogelskamp

"… die begriffliche Verwandlung von Schutzsuchenden in ‚illegale Migranten’ hingegen ist der skandalöse Höhepunkt des Krieges gegen Flüchtlinge und ein trauriges weiteres Beispiel für den kurzen Weg von Unworten zu Untaten."

Klaus J. Bade, MiGAZIN, 15.3.2016

"World at war", so betitelte der UNHCR seinen Report über Zwangsvertreibungen (forced displacement) im Jahr 2015. Darin wird das beispiellose Ausmaß der weltweiten kriegs- und konfliktbedingten Vertreibungen des Vorjahres aufgearbeitet: Nahezu 60 Millionen Menschen seien 2014 weltweit auf der Flucht gewesen vor allgemeiner Gewalt, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen - darunter über 38 Millionen Binnenvertriebene. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs befanden sich nie mehr Menschen auf der Flucht wie gegenwärtig.

Dieses sind lediglich Angaben über diejenigen Menschen auf der Flucht, die unter das begrenzte UNHCR-Mandat fallen. Geschätzt wird allein für das Jahr 2013 (UN Department of Economic und Social Affairs), dass weit mehr als 200 Millionen Menschen Grenzen überschritten haben und unterwegs sind auf der Suche nach Arbeitseinkommen, um ihre Familien zu ernähren, nach Schutz und Überleben, da ihre Lebensgrundlagen und damit die elementare Existenzsicherung zerstört worden sind. Dazu zählen schon gegenwärtig über 50 Millionen "Klima- oder Umweltflüchtlinge" (Climate Change Displaced Persons), weil Wüstenbildung, anhaltende Dürren, Überschwemmungen, Bodenverschlechterung (Degradation) ihre bereits zuvor schon kargen Überlebensbedingungen zerstört haben. Für die Menschen dieser "neuen Flüchtlingspopulation" gibt es jedoch keine internationalen rechtsbasierten Schutzmechanismen. Gewöhnlich wird ihnen der abwertende Begriff des "Wirtschafts- oder Armutsflüchtlings" angeheftet. Damit können in Europa bequem jeglicher Schutzanspruch abgewehrt und jegliche Empathie verweigert werden. Menschen reagieren aber mit Flucht und Migration auf existenziell unhaltbar gewordene Lebensumstände, hervorgerufen durch Kriege, Gewalt, Vertreibungen, Repression, aussichtslose Armut oder durch umweltbedingte Verschlechterung der landwirtschaftlichen Lebensgrundlagen. Sie verlassen den Ort, an dem sie geboren sind; sie migrieren oder fliehen, um ihre bloße Existenz zu sichern. Selbstredend gibt es auch andere legitime Motive aufzubrechen: Fernweh beispielsweise. Wesentlich aber gilt: Migrationsprozesse sind immer als aktive, individuelle oder kollektive Anpassungsstrategien an zumeist gewaltsam, ökonomisch oder umweltbedingt veränderte Lebensverhältnisse zu verstehen. Kein neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte.

Notstandsrhetorik -  Versicherheitlichung der Migration

Europaweit wird aktuell gegen den "kurzen Sommer der Migration", als laut UNHCR über eine Millionen Menschen das Mittelmeer überquerten, mit intensivierter Abschottung, mit Stacheldrahtzäunen, Grenzschließungen, mit Internierung und Konzentrierung von Flüchtlingen an grenznahen "Brennpunkten" (Hot Spots) und mit militärischem Kampf gegen Schleusernetzwerke (EU NAVFOR Med | NATO) reagiert. Diese fortschreitende Militarisierung der Grenzsicherung wird noch mehr Menschenleben fordern, noch mehr Gewalt und Elend hervorrufen, sie wird langwährende, katastrophale Folgen für Menschen auf der Flucht zeitigen, aber letztlich wird sie scheitern. Denn es ist naiv anzunehmen, Menschen in ihrer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ließen sich dadurch abhalten, aus den globalen Verwüstungs- und Kriegszonen den Weg nach Europa einzuschlagen.

Notstandsrhetorik herrscht vor, die die Fluchtmigrationen angstbesetzt nur noch als Bedrohung (Eindringlinge) und als Sicherheitsrisiko wahrzunehmen imstande ist. Die Fluchtmigrationen werden derart zu Sicherheitsproblemen Europas umetikettiert und mit der "Bekämpfung des Terrorismus" verschränkt. Ursachenbekämpfung wird vor allem in der Bekämpfung der "Schleusernetzwerke", in der militarisierten, möglichst porendichten Grenzsicherung sowie in der Triage von erwünschten und unerwünschten Migrantinnen und Migranten ausgemacht. Der Krieg an den Wohlstandsgrenzen Europa wird endemisch. World at war.

Globalization Strikes Back

Der "Prozess der Globalisierung" und seine Folgen, die zunehmende, wirtschaftliche, politische sowie soziale und kulturelle Verflechtung der Welt, die kapitalistisch interessiert und profitabel betrieben wird, haben sich entscheidend und ursächlich auf die Muster von "Flucht und Migration" ausgewirkt. So ist beispielsweise in den letzten zwanzig Jahren die grenzüberschreitende Arbeitsmigration extrem angestiegen (lt. ILO 150 Mio. WanderarbeiterInnen). Die Jobsuchenden werden von den informellen und unregulierten weltweiten Arbeitsmärkten aufgesogen und bilden das profitabel ausbeutbare Dienstleistungsunterfutter einer expansiv globalisierten Ökonomie, die den Preis für die Weltmarktware Arbeitskraft beständig drückt. Dennoch können sie dort immerhin noch ein Einkommen erzielen, das sie niemals - trotz teils hoher beruflicher Qualifikationen - in den Herkunftsregionen hätten und zukünftig werden erzielen können. Die forcierte Globalisierung hat vor allem den Wohlstand der kapitalistisch entwickelten Industrienationen gemehrt, wie selbst der "Globalisierungsreport 2014" der neoliberalen Bertelsmann-Stiftung festgestellt hat. Die Globalisierung habe die Schere zwischen "Arm und Reich" weltweit noch weiter geöffnet. In unerhörten Dimensionen, muss hinzugefügt werden!

Wachse oder weiche

Zu den extremen globalen Ungleichgewichten trägt die europäische Freihandels- und Agrarpolitik wesentlich bei. In diesen Kontext gehören die "EU-Rohstoffinitiative" und die "Economic Partnership Agreements" (EPAs), mit denen die EU mit 78 Staaten aus Afrika, der Karibik und dem Pazifik (zumeist ehemalige Kolonien) Freihandelszonen einrichten wird. Die diesen Staaten bislang gewährten Zollpräferenzen, die nicht mit dem Reglement der Welthandelsorganisation (WTO) kompatibel sind, und der zugebilligte freie Marktzugang sollen aufgehoben werden. Afrikanische Regierungen sind zu Recht besorgt, dass durch die vollständige Handelsliberalisierung kleinbäuerliche Farmen und industrielle Kleinbetriebe durch die europäische Importkonkurrenz zerstört werden (z.B. durch die subventionierten europäischen Agrarüberschüsse), exemplarisch ansichtig im Niedergang der ghanaischen Geflügelwirtschaft. Afrikanische MigrantInnen ernten inzwischen in Europa Tomaten, die in Afrika die Preise und damit die Subsistenzbauern ruinieren. Die europäische Freihandelsstrategie zementiert die postkolonialen Abhängigkeitsverhältnisse. Zwangsmigration (forced migration) ist auch eine Folge der politischen Strategien kapitalistischer Landnahme (landgrabbing) und agrarindustrieller Zurichtung der kleinbäuerlichen Betriebe in Afrika. Laut einer OXFAM-Studie aus dem Jahr 2011 (Land and Power) seien in den zurückliegenden zehn Jahren (2001 bis 2011) 227 Millionen Hektar Land weltweit an internationale private wie staatliche Investoren verkauft oder verpachtet worden. Mehr als die Hälfte der Landübertragungen betrifft Afrika südlich der Sahara. Dort erzeugen etwa 60 Millionen Kleinbauern 80% der landwirtschaftlichen Produkte. Die Investitionen in Land haben nach der großen Nahrungsmittelkrise, ausgelöst durch die spekulative Preisexplosion im Jahr 2007/2008, enorm zugenommen. Die Studie dokumentiert, dass in vielen der nun kapitalistisch für die industrielle Exportwirtschaft (u.a. für Futtermittel, Agrartreibstoffe) aufgewerteten oder in Wert gesetzten Gebiete die ansässigen Kleinbauern und indigenen Bevölkerungsgruppen vertrieben wurden. Regierungen und Investoren versuchen Landgrabbing als Strategie der Armutsbekämpfung und Entwicklung des ländlichen Raums darzustellen. Für die internationalen Institutionen und Agenturen der Entwicklung galt und gilt teils immer noch, dass nur größere wirtschaftliche Einheiten imstande seien, durch moderne und rationalisierte Anbaumethoden die erforderlichen globalen Produktionssteigerungen zu erbringen, um die Ernährung sicherzustellen (wachse oder weiche). Würde jedoch dieses agrarindustrielle Entwicklungsmodell weiterbetrieben, käme das der Entwurzlung einer halben Milliarden Menschen auf dem Land gleich, die 90% der Nahrungsmittel des Kontinents erzeugen (Weltagrarbericht, IAASTD, 2009). Auch entwicklungspolitisch wird die globale Migration angeheizt.

Fight or Flight

Gewaltförmige Konflikte, die in der Peripherie Europas gegenwärtig den quantitativ größten Teil der Fluchtmigrationen auslösen, werden oft als ethnische, religiöse oder "tribale" Konflikte dargestellt. Die internen und externen Gewaltakteure, die diese Konflikte eigeninteressiert schüren, die sie nutzen, die sie religiös oder ethnisch einkleiden, verfolgen oftmals ganz profane materielle Interessen: Zugang zu Ressourcen wie Land, Wasser, zu international vermarktbaren Bodenschätzen (Verfügungsrechte), damit zugleich Zugang zur politischen Macht, zu internationalen "Entwicklungsfonds" und Geldern der Hilfsindustrie. Es geht in diesen Gewaltökonomien zudem darum, Gewinne aus Handel und Produktion abzuschöpfen oder den grenzüberschreitenden Warenverkehr (Schmuggel) zu kontrollieren. Dabei können die identitätsstiftenden religiösen und ethnischen Kostümierungen wiederum selbst zur nie versiegenden Gewaltquelle werden. Im Zuge der kapitalistisch vorangetriebenen Globalisierung, die die Ungleichheit unter den Staaten und Regionen in prosperierende und dem Niedergang überlassene Territorien einschließlich ihren Bevölkerungen immens verschärft hat, haben die gewaltsam ausgetragenen Konflikte um den Zugang zu natürlichen Ressourcen enorm zugenommen. Diese Kriegsökonomien sind über transnational zusammengesetzte "Bereicherungsnetzwerke" an die Weltwirtschaft angeschlossen. Der internationale Kleinwaffenhandel hat wesentlich zur Epidemie kriegerischer Gewalt in den Schütterzonen der Globalisierung beigetragen. (Die Milizen des IS schießen inzwischen mit deutschen Waffen!) Fight or Flight! Viele Menschen stehen vor der Alternative zu kämpfen oder der Gewaltspirale zu entfliehen. Alle diese bewaffneten Auseinandersetzungen wurzeln teils sowohl noch in kolonialer Vergangenheit als auch in der auf tödlicher Konkurrenz basierenden und ressourcenverschlingenden Weltgegenwart. Es fällt gewöhnlich leichter, sie unter zivilisationsdefizitärem Irrationalismus gewaltbereiter junger Männer mit Pickups und Kalaschnikows abzuhaken, als sich mit Vergangenheit und Gegenwart kapitalistischer Weltmarktexpansion und Weltmarktintegration zu beschäftigen. Allein die endlichen Rohstoffvorkommen, ihre Kontrolle, ihre ungleiche weltweite Verteilung, die Machtzugänge und immensen Profit ermöglichen, werden wahrscheinlich auch in Zukunft Quellen nicht endender kriegerischer Konflikte und damit der Migration darstellen.

Migrationen als Globalisierung von unten

Die Ursachen für Flucht und Migration hängen demnach eng mit der Ressourcen verschlingenden und die Umwelt höchst belastenden Lebensweise der industriellen und kapitalistischen Gesellschaften zusammen, mit deren herrschenden Produktions- und Konsumtionsmustern. Sie kann als imperiale Lebensweise bezeichnet werden, übernommen von den Eliten korrupter und autoritärer Regime weltweit. Die Staaten des Globalen Südens produzieren als Lieferanten von Rohstoffen und unverarbeiteten landwirtschaftlichen Produkten bis heute den Reichtum Europas. Der globale Kampf transnationaler Unternehmen und einzelner Staaten, geführt um Absatzmärkte, Anlagesphären, Rohstoffe und Ressourcen, wirkt sich unmittelbar auf die Entstehung von Fluchtmigrationen aus. Migration ist insofern nur die Kehrseite einer militärisch abgesicherten kapitalistischen Globalisierung. Ein großer Teil der Weltbevölkerung wird absehbar nicht mehr in den wirtschaftlichen globalen Produktions- und Kapitalverwertungsprozess aufgesogen und eingebunden werden können, er wird "überflüssig". Migration ist eine individuelle und kollektive Überlebensstrategie, angepasst an eben diesen weltweiten kapitalistischen Krisenprozess. In den globalen Wanderungsbewegungen wird der Kampf um Bewegungsfreiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aus der Peripherie zurück in die Metropolen getragen. Sie setzen die Frage der Menschenrechte, europäisch an orientierendem Einfluss verloren, wieder auf die Tagesordnung. World at war.

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Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.

Quelle: FriedensForum 3/2016.

Veröffentlicht am

30. Mai 2016

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