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Zum Leben von Andreas Buro: Politische Lernprozesse

Von Roland Roth - Trauerrede

Wir trauern heute gemeinsam um den Verlust eines ungewöhnlichen und großartigen Menschen. Andreas Buro war dies nicht nur für seine Nächsten und Freunde, sondern er hat - wie kaum ein anderer - über fast 60 Jahre hinweg außerparlamentarische Politik in der Bundesrepublik mitgeprägt. (…)

Worin besteht das Geheimnis seines Durchhaltevermögens und seiner enormen politischen Produktivität? Wie ist dieses dauerhafte politische Engagement für zentrale Lebensthemen, wie Frieden und Menschenrechte einerseits, und die Bereitschaft, immer neue Gruppen und Initiativen mitzugründen und zu prägen andererseits, miteinander verknüpft? Ein Schlüssel liegt sicherlich in einem von Andreas für sich selbst und seine politischen Netzwerke immer wieder reklamiertes Konzept: "soziale und politische Lernprozesse". Er hat sich und uns immer wieder die Frage gestellt, wie emanzipatorische gesellschaftliche Lernprozesse unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen möglich werden können, welche widerständigen Motive aufzugreifen sind. Dazu braucht es, davon war Andreas überzeugt, immer erneuter Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Akteure, die auf Veränderungen drängen. Es braucht die Bereitschaft, nach den jeweils angemessenen politischen Formen zu suchen, die emanzipatorische Lernprozesse ermöglichen. (…)

Zum Nachdenken über Lernprozesse gehört es auch, wie z.B. im Falle Vietnams, enttäuschte Hoffnungen zu bearbeiten. Andreas hat sich früh für einen Internationalismus eingesetzt, der nicht revolutionaristisch und identifikatorisch kurzschließt, sondern sich nur im Austausch über wechselseitige Abhängigkeiten und Rückwirkungen entwickeln kann. Globales Denken und Handeln waren für ihn selbstverständlich, lange bevor "Globalisierung" zur Signatur einer Epoche wurde. Andreas war nicht nur bis zuletzt der friedenspolitische Sprecher des Komitees, sondern auch sein "Außenminister".

Sozialistisches Büro und die Zeitschrift "links"

Bei der Gründung des Sozialistischen Büros und der Zeitschrift "links" ging es Andreas und den anderen Initiatorinnen und Initiatoren darum, die politisch-kulturellen Aufbrüche der außerparlamentarischen Opposition, die bereits die letzte Phase der Ostermarschbewegung geprägt hatten, zu bewahren: Eine neue politische Kultur, die auf Selbstorganisation und Selbstveränderung, auf Konsensprinzip statt auf Übermächtigung und Fraktionierung setzte. Als Beitrag "zur besseren Kommunikation der unabhängigen Linken" "ohne Monopolanspruch" (links 0-Nummer 4/1969) setzte das Sozialistische Büro einen Kontrapunkt zu den neugegründeten proletarischen Parteien und anderen Dogmatisierungen und Radikalisierungen im Zerfallsprozess der ApO. "Links" trat an gegen "den Konsum revolutionär anmutender Euphorien". Auch im Rückblick erscheint das Sozialistische Büro als "Insel der Vernunft".

Aber die Gründung lebte auch vom Schwung der ApO. Auf die selbstgestellte Frage, "warum machen wir ‘links’ - eine sozialistische Zeitung" in der ersten Ausgabe heißt es: "Anders als noch vor einigen Jahren ist die Frage nach einer unabhängigen sozialistischen Bewegung heute in der Bundesrepublik aktuell". Ihre Entwicklung "kann nur Prozesscharakter haben". Gefordert war zudem eine neue, nicht autoritäre Antwort auf die Frage nach der internationalen Kooperation der Linken.

In dieser Ausgabe begründete Andreas, wieso er die "Kampagne für Demokratie und Abrüstung", die "Ostermarschbewegung", die er wesentlich mitgeprägt hat, an ihr Ende gekommen sah. Es handelte sich aus seiner Sicht um wichtige Sammelbewegungen zu einer einzigen Thematik. Mit deren Ausweitung und Vertiefung war es nicht mehr möglich, mit einer Stimme zu sprechen, da sich ein erhoffter Lern- und Annäherungsprozess der beteiligten Gruppen nicht eingestellt hatte und die vorhandenen Widersprüche spätestens nach der militärischen Niederschlagung des "Prager Frühlings" nicht mehr zu überbrücken waren. Dabei gibt er zu Bedenken: "An bestimmten Konzeptionen, die bisher die Arbeit der Ostermarschbewegung bestimmt und diese Bewegung aus vielen anderen Versuchen der Vergangenheit positiv herausgehoben haben, wäre freilich festzuhalten: So vor allem an der Einsicht, dass oppositionelle Aktionen nicht der Bestätigung scheinbarer oder echter eigener Radikalität, sondern der Ausweitung oppositionellen Bewusstseins und oppositionellen Engagements zu dienen haben. Oppositionelle werden sich in der Aktion weiterhin auf zwei vielbelächelte Verhaltensweisen einrichten müssen: auf Frustrationen und auf Kompromisse."

Was sich bei der Gründung bereits motivisch ankündigt, machte Andreas Buro ein Jahrzehnt später konzeptionell deutlicher. Er bekräftigte das Ziel, qualitativ neue gesellschaftliche Strukturen hervorzubringen. Der Weg dorthin werde durch soziale, emanzipatorische Massenlernprozesse ermöglicht, und die Aufgabe sozialistischer Politik sei es, diese zu fördern und zu ermöglichen. "Lernprozesse bedeuten, sich einzulassen auf Unbekanntes, Unsicherheit auf sich zu nehmen, und Vertrautes, das bisher Umwelt und Identität konstituierte, fahren zu lassen." Solche Lernprozesse seien deshalb keineswegs selbstverständlich, sondern bedürften eines motivierenden Anlasses. Die Kenntnis dieser Motivation sei der Schlüssel für emanzipatorische Lernprozesse. Andreas nannte in diesem Zusammenhang verschiedene Motivquellen, wie z.B. eine unmittelbare Betroffenheit, die den Anlass für Bürgerinitiativen bietet, die Ausbreitung postmaterialistischer Werte wie Partizipation und Selbstverwirklichung, aber auch Verletzungen der moralischen Identität, der Normen und Werte einer Gesellschaft durch eine Politik, die z.B. den Völkermord in Vietnam als Verteidigung der Freiheit verkaufte. Nicht zuletzt erinnerte er an die Eindämmung durchaus vorhandener gesellschaftlicher Möglichkeiten, die bereits Herbert Marcuse in den 60er Jahren als "surplus repression" gegeißelt hatte.

Solche Protestmotive können sich verbrauchen und herrschaftlich umgebogen werden. Um zu dauerhafter emanzipatorischer Motivation zu gelangen, braucht es deshalb, so Andreas, positive neue Einbindungen: die "Entfaltung alternativer Lebenszusammenhänge, Projekte und Umgangsformen". Es gehe dabei nicht nur um eine abstrakte Gesellschaftsveränderung in der Zukunft. "Dem Einzelnen geht es immer auch und völlig zu Recht um seine Selbstverwirklichung." Die Übermacht der Verhältnisse, die Deformationen und Kompromisse, die uns allen aufgezwungen sind, lassen die Idee quasi automatischer Krisenlernprozesse, davon war Andreas überzeugt, illusionär werden. Lernprozesse können ihre emanzipatorische Orientierung nur bewahren, wenn sie offen angelegt und durch ständige Kritik analytisch begleitet werden. Die Lernprozesse seien dabei in sich selbst widersprüchlich. "Ungleichzeitigkeit und Ungleichmäßigkeit der Lernprozesse waren … ein bestimmender Bestandteil der Bewusstseinsänderung in Westdeutschland." Dogmatisierung, Majorisierung, schnell enttäuschte Radikalität bildeten entscheidende Blockaden.

Andreas hat in seinem Lob der politischen Lernprozesse auf Vielfalt, Pluralität und Selbstbestimmung bestanden und sich schon alleine deshalb gegen jede "Vereinheitlichung" von oben zur Wehr gesetzt: "In einer Gesellschaft, deren Veränderung entscheidend von sozialen Lernprozessen abhängt, können sehr wohl vielfältige und vielgestaltige Organisationsformen neben- und miteinander arbeiten." Gleichzeitig hielt Andreas in seinen Analysen an der Idee von notwendigen "Lernschritten" fest, wie z.B. die Absage an Gewalt und das Setzen auf ein basisorientiertes Politikverständnis. Er begrüßte die ökologische Opposition und die Anti-AKW-Bewegung als "zentrale Ergänzung" linker Gesellschaftskritik. "Hatte die außerparlamentarische Opposition der 60er und 70er Jahre eine weitreichende Kritik der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft geliefert, so scheinen jetzt aus der Ökologiebewegung heraus Ansätze entwickelbar zu sein, die Antworten auf die Frage nach der Alternative und den Wegen zu ihr in den gemeinsamen Lernprozess einbringen könnten." Hoffnung, aber auch die vielen Konjunktive sind unüberhörbar.

Als sich das Sozialistische Büro zwischen dem grün-alternativen Parteiprojekt und seinen sozialistischen Parteigängern allmählich aufrieb, unterstützte er dessen Arbeit noch lange Zeit in jenen Projekten, wie den Publikationen ‘links’, ‘express’ und ‘Widersprüche’, in denen an der ursprünglichen Idee des Sozialistischen Büros festgehalten wurde.

Komitee für Grundrechte und Demokratie

"Lernprozesse" taugt auch als Überschrift für die Gründung des Komitees für Grundrechte und Demokratie, an der sich Andreas maßgeblich beteiligt hatte und dessen Sprecher er viele Jahre wurde. Zu dessen Vorgeschichte gehören der Pfingstkongress des Sozialistischen Büros von 1976 und das sich anschließende Russell-Tribunal. Dies wird in der Erklärung zur Gründung eines Komitees für Grundrechte und Demokratie von 1980 deutlich: "In einem Lande, das dazu neigt, die Staatssicherheit an die Stelle der Sicherheit aller Bürger zu setzen, muss mehr denn je für Grundrechte und Demokratie als praktische Rechte für jeden einzelnen geworben und gekämpft werden."

Politische Ausgangspunkte waren die Gefährdungen der Grund- und Menschenrechte und der Abbau der Demokratie in einer "zweiten Restaurationsphase" der Bundesrepublik. Einige der Stichworte dürften heute vergessen oder selbstverständlich geworden sein: Berufsverbote, Hochsicherheitstrakte, die Situation in den Gefängnissen, Einschränkungen des Demonstrationsrechts, ein expansiver Verfassungsschutz und dazugehörige Geheimdienstskandale. Jedenfalls ist sich das Komitee in den 35 Jahren seiner Arbeit in diesen Zielsetzungen treu geblieben. Die Themen haben zwar vielfältige technologische Modernisierungen und politische Zuspitzungen erfahren, aber nichts an grundlegender Aktualität verloren, wenn wir uns die Skandale von NSA bis NSU und solche Diagnosen wie Postdemokratie oder "monitory democracy" anschauen.

Wer sich an das Engagement des Komitees - nicht zuletzt von Andreas - in der neuen Friedensbewegung erinnert, an die Präsenz des Komitees in vielen anderen Protesten vom Wendland bis zu Occupy, generell an dem Versuch, Menschenrechtspolitik mit den Mitteln sozialer Bewegungen zu betreiben und zivilen Ungehorsam in der Bundesrepublik heimisch zu machen, kann unschwer erkennen, dass hier erneut Elemente früherer Protest- und Bewegungsphasen im Sinne politischer und sozialer Lernprozesse bewahrt wurden. Neue Initiativen kamen hinzu, wie z.B. Friedens- und Verständigungsprozesse inmitten von "heißen" Kriegen wie in Ex-Jugoslawien ("Ferien vom Krieg") oder in akuten Konflikten durch die Organisation von Begegnungen zwischen palästinensischen und israelischen jungen Menschen.

Andreas hat ein großes politisches Freundschafts- und Engagementnetzwerk hinterlassen. Lasst uns daran arbeiten, so viel wie möglich davon zu erhalten, zeitgemäß weiterzuentwickeln und junge Leute zu gewinnen. Seine Grundidee, auf soziale und politische Lernprozesse zu setzen, ist ebenso wenig obsolet wie sein zentrales Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Frieden, Menschenrechte und Demokratie zur ihrer DNA geworden sind. Er hinterlässt uns die Aufgabe, nach aktuellen emanzipatorischen Lernchancen und politischen Projekten auf der Grundlage sorgfältiger Analysen zu suchen - auch wenn Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Sozialismus aktuell keine oder nur wenig Konjunktur haben - aber das macht diese Aufgabe umso dringlicher.

Roland Roth war bis 2015 Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Magdeburg - Stendal, gemeinsames politisches Engagement mit Andreas Buro u.a. im Sozialistischen Büro und im Komitee für Grundrechte und Demokratie.

Quelle: FriedensForum 2/2016 - Sonderbeilage zum Gedenken an Andreas Buro.

Veröffentlicht am

14. März 2016

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