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Türkei: Zahme Vögel, wilde Vögel

In Zeiten fehlender Parkplätze und Feuerlöscher ist es um die deutsch-türkischen Beziehungen nicht zum besten bestellt. Noch mehr Provinzialität könnte ein Ausweg sein

Von Lutz Herden

Zahme Vögel singen von Freiheit, wilde Vögel fliegen, hat John Lennon gedichtet. Fände sich damit die deutsche Türkei-Politik treffend beschrieben, wäre zu Beginn dieser Sentenz das "z" durch ein "l" ersetzt?

Die Annahme erscheint nicht abwegig. Manches deutet auf Schübe von Masochismus, wenn man sich in Berlin durch Tiraden aus Ankara demütigen und denunzieren lässt. Ist der Bundesregierung alles recht, was weh tut? Will sie - vor allem muss sie - büßen für Halbheiten, Opportunismus und Erkenntnisdefizite, die eine auf Flüchtlingsdeals und Rechtsstaatsbelehrungen verengte Türkei-Politik seit geraumer Zeit prägt?

Wilde Vögel wurden da nie losgelassen, eher Spatzen in der hohlen Hand gefüttert, in der Hoffnung, sie bleiben verfressen und wissen zu schätzen, was ihnen Gutes geschieht. Wissen sie offenbar - und wollen trotzdem mehr. Zum Beispiel mehr Parkplätze in Gaggenau und mehr Feuerlöscher in Hamburg. Worauf jetzt nicht eingegangen werden kann, um eine provinzielle Verengung deutscher Türkei-Politik zu verhindern. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel, pfeifen - schon wieder - die Spatzen von den Dächern.

Kemalistische Bastionen

Aber sie haben recht, nicht wegen eines vielleicht bald hinfälligen Flüchtlingsabkommens, sondern aus anderen Gründen. Recep Tayyip Erdogan und die AKP verkörpern mit ihrer Politisierung des Islam eine so wirkungsmächtige Strömung an der Grenze zwischen Okzident und Orient, dass Bündnis- und Wertesysteme davon mehr in Frage gestellt sind als von Auftritten prominenter AKP-Politiker in Gaggenau oder Hamburg. Ihr Projekt, einer Präsidialautokratie den Boden zu bereiten, spart die Diaspora nicht aus.

Auch die soll davon erfahren, wie sehr eine türkische Machtpartei davon beseelt ist, Religion und Staat zu verschränken, auf dass eine Gesellschaft entsteht, in der sich Frömmigkeit und Modernität keineswegs als Antipoden begegnen. Dabei gilt für die Phase des Vollzugs eine autoritäre Administration als unumgänglich. Sie soll das als untauglich empfundene kemalistisch-säkulare Muster abschütteln. Nicht zufällig richtete sich die Repression nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 gegen kemalistische Bastionen wie Armee und Staatsapparat. Sie zu schleifen, hieß, dem erstrebten Glaubens- und Gottesstaates zu genügen.

Tatsächlich unterscheiden sich AKP und Islamischer Staat (IS) in der Radikalität ihres Handeln und der Brachialität ihrer Methoden, nicht im Motiv - der Islamisierung von Staatlichkeit.

Simulierte Beitrittsgespräche

Das hat Konsequenzen. Wenn sich die NATO noch als westliche Allianz versteht, hat die Türkei darin nichts mehr zu suchen. Oder das Bündnis wird zur Summe divergierender Möglichkeiten, was auf Dauer zum Bruch führen wird. Noch lohnt es sich, die Türkei als Brückenkopf des Westens zu halten, um Einfluss auf die geostrategische Neuordnung einer Region zu nehmen, wie sie Libyen und Syrien erfasst hat, im Irak so unvermeidlich ist wie die regionale Macht des Iran.

Im Übrigen konnten sich Diktaturen schon während des Kalten Krieges in der NATO geborgen fühlen. Das galt für Spanien, Portugal und Griechenland, auch die Türkei, als dort zwischen 1980 und 1989 unter General Evren ein Obristenregime herrschte, das weiter war, als Präsident Erdogan bisher ist. In dieser Zeit wurden politische Gegner zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Woran es der deutschen Türkei-Politik gebricht, das ist die Fähigkeit, verschlissene Raster aufzugeben und - gemessen am Phänomen des Staatsumbaus durch die AKP - nach adäquaten Umgangsformen zu suchen. Stattdessen werden seit über einem Jahrzehnt in Brüssel Beitrittsgespräche simuliert, obwohl längst klar ist, dass es den EU-Debütanten Türkei bis auf weiteres nicht geben wird.

Keine Frage, die EU könnte der türkischen Ökonomie eine attraktive Perspektive bieten, von der einiges abhanden kommt, muss ein geringerer Status als der eines Vollmitglieds hingenommen werden.

Es sind kaum Regierungen in Ankara als solche der AKP und Recep Tayyip Erdogans denkbar, die sich dieser Brüskierung mit gleichem Ungestüm entgegenstellen und daraus so viel politisches Kapital wie möglich schlagen wollen. Weil diese Überzeugungstäter gar nichts anders können, als ihren Stolz und ihren ideologischen Firnis herauszukehren.

Vollends destruktiv

Nur, wenn das so ist - und wer kann das ernsthaft bestreiten -, lässt sich mit einem solchen System bestenfalls ein Verhältnis rivalisierender Partnerschaft unterhalten, der die von deutscher Außenpolitik gern bedienten Freund-Feind-Schemata freilich nicht (mehr) gewachsen sind.

Es fehlt der Sinn für eine Balance zwischen Werteexegese und Realpolitik, die eigene Interessen bedient. Da kann inzwischen manches so misslingen, dass es vollends destruktiv wird und ins kulturchauvinistisch Rassistische abdriftet wie die "Böhmermann-Affäre" gezeigt hat.

Hier wurde das Label Satire missbraucht, um sich in Fäkalsprache an Erdogan abzuarbeiten. Als wäre das nicht kümmerlich genug, lässt sich die Bundesregierung auch noch auf einen Diskurs über Kulturfreiheit ein, anstatt klar zu sagen, dass es sich mit jenem "Gedicht" um eine ästhetische Entgleisung handelt, die mit Kunst nichts zu tun hat.

Wieder war Erdogan - wie bei der EU-Aufnahmefarce - um politischen Prestigegewinn bemüht und hatte Erfolg. Er revanchierte sich mit einem Besuchsverbot für deutsche Parlamentarier bei in seinem Land stationierten Bundeswehrsoldaten, was Berlin kleinlaut bis ergeben hinnahm, statt mit dem sofortigen Abzug zu ahnden, was nicht hinnehmbar ist. Aber zahme Vögel singen eben nur von Freiheit.

Prompt reagiert

Eine Abkehr von diesem Mix aus Erziehungswahn und Kapitulantentum erscheint wünschenswert. Die Türkei führt in ihrem geopolitischen Portfolio längst das Prinzip der flexiblen, wechselnden Arrangements oder temporären Partnerschaften, wie die Syrien-Deals mit Russland und dem Iran zeigen. Ankara hat prompt reagiert, als sich mit der Einnahme Aleppos im Dezember die Kräftebalance in Syrien zugunsten des Baath-Regimes verschob, und bot als Junktim an: Wir tolerieren den von Assad geführten Rumpfstaat und dürfen im Gegenzug einen Kurdenstaat militärisch verhindern.

Einst bestand Weltpolitik in Kanonenbooten, B-52-Geschwadern und Bodentruppen. Als diese Mittel zu viel Unberechenbares produzierten, wurde auf Demokratie, Wirtschaftsliberalismus und Menschenrechte zurückgegriffen, um sich weltpolitisch Geltung zu verschaffen. Das hat in der Ukraine zu letzten Mal halbwegs geklappt mit bis heute nicht ausgestandenen Folgen. Gegenüber der Türkei lässt sich damit so wenig anfangen wie mit Kanonenbooten. Sie ist auf dieser und doch aus einer anderen Welt. Das auszuhalten und damit umzugehen, wäre überfällig.

Quelle: der FREITAG vom 07.03.2017. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

08. März 2017

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