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Krieg und Frieden - von Leo Tolstoi bis in unsere Zeit

Von Ullrich HahnVortrag von Ullrich Hahn, Präsident des Deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes, gehalten am 27.1.2014 vor der Psychologischen Gesellschaft in Basel.

"Krieg und Frieden" ist nicht nur der Titel der wohl berühmtesten Schrift Tolstois, sondern eines seiner wichtigsten Anliegen, die ihn sein Leben lang beschäftigt haben.

Ich will im Folgenden darstellen, was er hierzu gesagt und geschrieben hat, welche Wirkung er zu seiner Zeit, d.h. bis kurz vor Beginn des 1. Weltkrieges und der russischen Revolution 1917 hatte und inwieweit seine geschriebene und gelebte Botschaft - zumindest für mich - auch heute noch aktuell ist.

Ich fange von hinten an, d.h. bei mir:

Während meiner Militärzeit in Deutschland, die ich von 1968 bis 1970 beim damals kasernierten und mit Kriegswaffen ausgerüsteten Bundesgrenzschutz an der Grenze zur DDR verbracht hatte, las ich aus einem mehr kulturellen als religiösen Interesse das Neue Testament und erfuhr dabei eine Art Umkehr in meinem bis dahin gültigen Denken: die Botschaft Jesu leuchtete mir ein; ich empfand sie weniger als ein Gebot des Glaubens als vielmehr der Vernunft und kündigte als erste Konsequenz meine freiwillig eingegangene Verpflichtung zum Waffendienst.

Während des dann begonnenen Studiums verweigerte ich noch nachträglich als Reservist den Kriegsdienst.

Für mich bedeutete diese Kriegsdienstverweigerung kein Mittel zur Vermeidung irgendwelcher Reserveübungen, sondern eine Lebensentscheidung zum Verzicht auf Gewalt in allen ihren Formen.

Interessiert las ich deshalb damals alle Schriften Gandhis, die ich in deutscher Sprache erhalten konnte.

In seiner Autobiographie schreibt er aus der Zeit vor 1910, als er als Rechtsanwalt in Südafrika politisch gegen die Apartheid kämpfte:

"Tolstois ‘Das Reich Gottes ist inwendig in euch’ überwältigte mich. Vor der Unabhängigkeit des Denkens, der tiefen Moralität und Wahrheitsliebe dieses Buches schienen alle mir von Mr. Coates gegebenen Bücher zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen."

Und später:

"Ich studierte ferner intensiv Bücher Tolstois. Die ‘Kurze Darlegung der Evangelien’, ‘Was sollen wir tun?’ und andere Bücher machten tiefen Eindruck auf mich. Mehr und mehr begann ich, die unbegrenzten Möglichkeiten universaler Liebe zu erfassen."

Damit hatte ich für mich Tolstoi entdeckt und zwar zunächst nicht sein schriftstellerisches Werk, sondern seine religiösen, sozialkritischen und politischen Schriften, die heute fast ganz in Vergessenheit geraten und vom Büchermarkt verschwunden sind.

Das war bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 noch anders:

1911, ein Jahr nach seinem Tod, schreibt ein deutscher Verleger im Vorwort zu mehreren Erzählungen aus dem Nachlass Tolstois:

"Es ist wohl denkbar, dass die große Trilogie ‘Anna Karenina’, ‘Krieg und Frieden’ und ‘Auferstehung’ eines Tages vergessen sein wird, Tolstois Lehre aber steht auf festerem Grund und hat die Herzen von Tausenden gewonnen … er hat die Menschen gelehrt, die durch die kalte Vernunft gezogenen Grenzen zu überfliegen, sich über die Wirklichkeit zu erheben und den Sinn des Lebens in der Liebe zu finden. Es war seine Mission, die moralischen Geschwüre unserer Gesellschaft bis auf die Wurzeln zu sondieren und Ideale, die im Sterben zu liegen schienen, aus dem Staub empor zu heben und neu zu beleben. Die geistige Freude, von der er schrieb,  … war wirklich und wahrhaft in ihm und sie war die Quelle des hohen Idealismus, die ihn nicht nur zum Gewissen Russlands, sondern der ganzen zivilisierten Welt machte."

Doch zurück ins 19. Jahrhundert:

Leo Tolstoi, 1828 in einer Familie des russischen Hochadels geboren, wird früh Waise, wächst bei seinen Tanten auf und wird seiner Gesellschaftsschicht entsprechend von französischen und deutschen Hauslehrern erzogen. In drei frühen Erzählungen hat er seine "Kindheit, Knabenalter, Jugendjahre" dichterisch verarbeitet.

Nach erfolglosem Studium begleitet er, 23 Jahre alt, seinen Bruder in den Kaukasus, wo die russische Armee schon damals Tschetschenen und andere dem Islam angehörende Bergvölker zu unterwerfen sucht.

In mehreren Erzählungen schildert er seine ersten Kriegserfahrungen. Ihn bewegt die Frage, wie die Menschen das Töten und die Angst vor dem eigenen Tod verarbeiten. Zu Beginn seiner Erzählung "Der Überfall" schreibt er 1851:

"Der Krieg hat mich immer interessiert. Krieg nicht im Sinne der Kombinationen großer Feldherren, - meine Fantasie weigerte sich stets, solchen großen Unternehmungen zu folgen; ich verstand sie nicht. Mich interessierte die Tatsache des Krieges an sich, das gegenseitige Töten. Es interessiert mich mehr, wie und von welchen Gefühlen getrieben ein Soldat den anderen tötet, als wie die Armeen bei Austerlitz oder Borodino verteilt waren."

Nach Beginn des Krimkrieges (1853 - 1855) erlebt er als Artillerieoffizier die einjährige Belagerung der russischen Festung Sewastopol durch englische, französische und osmanische Truppen und schreibt drei Berichte aus der eingeschlossenen Stadt, die ihn in Russland berühmt machen.

Es geht ihm darum, den Krieg nicht mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel, sondern in seiner Realität des Leidens und Sterbens zu beschreiben. Die Art seiner Darstellung ist neu, realistisch. Er erzählt nicht nur das Geschehen im Stellungskrieg unter dauerndem Artilleriebeschuss vor der Stadt, sondern auch das Leiden im Lazarett, die Amputationen ohne Betäubung, aber auch die Eitelkeiten der höheren Offiziere, denen es auf der Promenade hinter der Front um Ruhm, Orden und Beförderung geht.

Am Ende des zweiten Berichts, "Sewastopol im Mai 1855", schreibt er:

"Der Held meiner Erzählung aber, den ich mit der ganzen Kraft meiner Seele liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit darzustellen bemüht war und der immer schön war, schön ist und schön sein wird, ist - die Wahrheit."

Nach dem für Russland verlorenen Krieg kehrt Tolstoi 1855 auf sein Gut zurück. Bevor er etwa 1862 mit der Arbeit an seinem Werk "Krieg und Frieden" beginnt, beschäftigt er sich mehrere Jahre intensiv mit Pädagogik und Erziehung. Er gründet auf seinem Gut eine freie Schule für die Kinder "seiner" Bauern (erst 1861 wird in Russland die Leibeigenschaft aufgehoben). Auf zwei Reisen nach Westeuropa hospitiert er in vielen Schulen, besucht berühmte Pädagogen dieser Zeit und gibt eine eigene pädagogische Zeitschrift heraus.

Seine unmittelbare Erfahrung als Lehrer der Bauernkinder erstreckt sich zwar nur auf wenige Jahre, aber die Arbeit an der Volksbildung verbindet sich mit seinem ganzen späteren Werk. Mit seinen "Russischen Lesebüchern" und dem "Neuen ABC" lernt bis zur Revolution 1917 ein Großteil aller russischen Schüler Lesen und Schreiben. Nach 1880 wird er mit seinen politischen Schriften und seinen Volkserzählungen schließlich zum Aufklärer des russischen Volkes.

Etwa sechs Jahre, von 1862 - 1868 arbeitet Tolstoi an "Krieg und Frieden". Für die darin beschriebene Epoche von 1806 - 1813 mit dem großen Krieg zwischen Russland und Napoleon legt er eigens eine Bibliothek mit etwa 700 Büchern an.

Nach Tolstois ausdrücklicher Erklärung ist "Krieg und Frieden" kein Roman. Mit dem realen Ablauf der politischen Geschichte verbindet sich zwar das romanhaft gestaltete Leben einer Reihe von russischen Adelsfamilien. Das Buch enthält aber auch eine historisch sehr genau recherchierte Geschichte dieser Zeit, außerdem philosophische Betrachtungen über die Ursachen der geschilderten politischen Ereignisse, immer in Wechsel mit Erzählungen über das Alltagsleben der höheren Gesellschaft, aber auch der einfachen Menschen, insbesondere im Militär.

Das Buch hat nicht nur einen roten Faden, sondern viele, die sich im Fortgang der Erzählung zu einem Geflecht verbinden.

Diese dezentrale Form im Aufbau entspricht der damit verbundenen Botschaft:

Die menschliche Geschichte wird für Tolstoi entgegen der noch bis in unsere Zeit üblichen Darstellung nicht durch die "großen Männer" bestimmt. Tolstoi entthront sowohl Zar Alexander als auch Napoleon und die ganzen höchsten Kreise, die sich als Lenker der Geschichte verstehen, ohne zu begreifen, dass sie es sind, die ihrerseits durch die Bewegung der jeweiligen Zeit getrieben werden:

"Napoleon, den wir uns als Führer dieser ganzen Bewegung vorstellen (wie sich der Wilde vorstellt, dass die Figur, die an der Bugspitze eines Schiffes ausgesägt ist, die Kraft ist, die das Schiff führt), Napoleon war in dieser ganzen Zeit seiner Aktivität wie ein Kind, das sich einbildet, es lenke seinen Wagen, weil er sich an den Bändern hält, die im Inneren des Wagens angebracht sind." (DTV, 2. Auflage 2013, Band 2 Seite 717).

Der Antiheld des russischen Krieges gegen die Armee Napoleons ist gerade der in der russischen Geschichtsschreibung bis Tolstoi als Zauderer geschmähte alte Feldherr Kutusow, der nach Möglichkeit allen Schlachten ausweicht, mit dem russischen Heer zurückweicht, sogar Moskau preisgibt und auch beim Rückzug Napoleons seine ganze Kraft darauf verwendet, die Offiziere seiner Truppen von unnützen Gefechten gegen die sich von selbst auflösende und fliehende Armee des Gegners zurückzuhalten.

"Sie müssen doch begreifen, dass wir nur verlieren können, wenn wir offensiv agieren. Geduld und Zeit das sind meine Kriegshelden!, dachte Kutusow. Er wusste, dass man den Apfel nicht abreißen sollte, solange er grün ist. Er fällt von selbst, sowie er reif ist. Wenn du ihn aber grün abreißt, verdirbst du den Apfel und den Baum und selbst bekommst du ein stumpfes Gefühl im Mund." (Band 2 S. 746).

Der Entthronung der "großen Männer" entspricht dann auch die Eigenverantwortung jedes einzelnen Menschen. Bei der Beschreibung der Schlacht von Borodino vor Moskau schreibt Tolstoi:

"Und nicht Napoleon hat den Gang der Schlacht angeordnet, denn nichts von seiner Disposition wurde ausgeführt, und während der Schlacht wusste er nicht, was vor ihm geschah. Also auch, auf welche Art und Weise diese Menschen einander töteten, geschah nicht nach dem Willen Napoleons, sondern unabhängig von ihm, nach dem Willen von hunderttausenden von Menschen, die am allgemeinen Kampf teilnahmen. Napoleon kam es nur so vor, dass die ganze Angelegenheit nach seinem Willen geschah." (Band 2 S. 327).

Tolstoi vertritt in diesem Buch noch keine radikale Position des Gewaltverzichts: der Krieg wird zwar als großes Verbrechen gebrandmarkt, aber von den Menschen im Buch als ein unvermeidliches Geschehen erlebt und wohl auch von ihm bis zu dieser Zeit noch so empfunden:

"Am 12. Juni überschritten die Streitkräfte Westeuropas diese Grenzen und es begann ein Krieg, d.h. es vollzog sich ein Geschehen gegen die menschliche Vernunft und wider alle menschliche Natur. Millionen Menschen begingen so unzählige Verbrechen aneinander - Betrug, Verrat, Diebstahl, Fertigung und Verbreitung falscher Banknoten, Raub, Brandstiftung und Mord -, dass sie auch in Jahrhunderten von der Chronik sämtlicher Gerichte der Welt nicht gesammelt werden können und von den Menschen, die sie begingen, in dieser ganzen Zeit nicht als Verbrechen angesehen wurden." (Band 2 S.7)

Und doch ist eine Tendenz zu dem später von Tolstoi ergriffenen Pazifismus zu erkennen: er schaut in seinem Werk hinter die Fassaden der Uniformen und auch der Masken der höheren Gesellschaft, ebenso auch schon hinter die Fassaden der gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen.

Erstrebenswert ist nicht die Teilhabe an der höfischen Gesellschaft in Petersburg mit ihrem Reichtum und dem Glanz der Uniformen, sondern das Leben auf dem Land, nicht ein der eigenen Eitelkeit gewidmetes Heldentum im Krieg, sondern die Gestaltung des Friedens im wirklichen Leben.

Nach einer Passage über die politischen Ereignisse im Jahre 1808 und 1809, die von den "höchsten Kreisen Petersburgs" mit besonders lebhaftem Interesse verfolgt werden, fährt Tolstoi fort:

"Unterdessen verlief das Leben, das eigentliche Leben der Menschen mit ihren existenziellen Interessen an Gesundheit, Krankheit, Arbeit und Erholung, mit ihren geistigen Interessen an Wissenschaft, Poesie, Musik, Liebe, Freundschaft, Hass und Leidenschaften, wie eh und je unabhängig davon, ungeachtet der politischen Freundschaft oder Feindschaft mit Napoleon Bonaparte und ungeachtet aller möglichen Reformen." (Band 1 S.733)

Zur Wirkung dieses Buches auf die russische Gesellschaft schreibt ein anderer (ehemaliger) Angehöriger des russischen Adels, Fürst Peter Kropotkin, im Rahmen einer Vortragsreihe über russische Literatur in den USA etwa im Jahr 1900:

"Es braucht kaum gesagt zu werden, dass "Krieg und Frieden" eine machtvolle Verurteilung des Krieges bedeutet. Die Wirkung, die der große Schriftsteller in dieser Beziehung auf seine Generation ausgeübt hat, lässt sich tatsächlich in Russland verfolgen. Sie trat bereits während des großen türkischen Krieges von 1877 und 1878 zutage … (in der Beschreibung der Kriegsgeschehnisse) … Der allgemeine Charakter des russischen Kriegskorrespondenten war völlig umgeformt worden und während desselben Krieges tauchten Männer auf, … die ihre Lebensaufgabe darin sahen, den Krieg zu bekämpfen."

Zehn Jahre nach dem Erscheinen von "Krieg und Frieden" schlägt Tolstois Schaffen eine neue Richtung ein:

Am Ende einer tiefen Sinnkrise, die sich bereits in seinem Gesellschaftsroman "Anna Karenina" in der Person des Gutsbesitzers Lewin andeutet, entdeckt er für sich das Neue Testament und die Lehre Jesu, wie sie in der Bergpredigt ihren konzentriertesten Ausdruck findet.

Tolstoi kehrt sich schriftlich und praktisch von seinem bisherigen Leben ab, er schreibt seine "Beichte", mehrere sozialkritische Bücher - "Was sollen wir denn tun", "Über die Volkszählung in Moskau", überträgt das Eigentum an seinem Gut auf seine Frau, verzichtet auf sein Urheberrecht an den künftigen Werken, arbeitet mit den Bauern auf dem Feld, lernt das Schusterhandwerk und schreibt religiöse Bücher: "Mein Glaube", "Das Reich Gottes ist in euch" und andere, die auch in aller Welt gedruckt und verbreitet werden bis nach Südafrika, wo Gandhi von ihnen wichtige Anstöße erfährt und nach einem Briefwechsel mit Tolstoi seinen ersten Ashram, die erste von ihm gegründete Gemeinschaft, "Tolstoi-Farm" nennt.

In Russland werden alle diese Schriften von der Zensur verboten, aber illegal verbreitet.

Der Bergpredigt entnimmt Tolstoi fünf Gebote, darunter das Gebot, dem Unrecht nicht mit Gewalt zu widerstreben, sondern ihm nicht zu gehorchen.

In der Konsequenz verwirft Tolstoi die Teilhabe an jeder Form der staatlichen Gewalt und befürwortet die Kriegsdienstverweigerung.

In einer Flugschrift "Karthago delenda est" von 1898 schreibt er:

"Das Mittel zur Abschaffung des Krieges besteht darin, dass die Menschen, die den Krieg nicht brauchen, die eine Teilnahme am Krieg als Sünde betrachten, nicht mehr in den Krieg ziehen. … Allein die aufgeklärten Friedensfreunde denken nicht daran, dieses Mittel vorzuschlagen, ganz im Gegenteil, sie können es nicht ertragen, wenn es auch nur erwähnt wird, und so oft man davon spricht, tun sie, als hörten sie es nicht. … Es heißt: Missverständnisse zwischen den Regierungen würden durch Gerichtshöfe oder ein Schiedsgericht bereinigt. Aber die Regierungen wollen ja gar keine Bereinigung der Missverständnisse: Im Gegenteil, die Regierungen erfinden Missverständnisse, wenn es keine gibt, denn nur Missverständnisse mit anderen Regierungen liefern ihnen einen Vorwand, die Armee zu unterhalten, auf der ihre Macht beruht. … Die Regierungen können und müssen die Kriegsdienstverweigerer fürchten und fürchten sie auch, denn jede Verweigerung erschüttert die Wirksamkeit der Lüge, mit der die Regierungen die Bevölkerung täuschen, die Kriegsdienstverweigerer dagegen haben nicht den geringsten Grund, eine Regierung zu fürchten, die von ihnen Verbrechen fordert."

Die Ursache der Gewalt sieht er - ähnlich wie Jahrhunderte vor ihm Franz von Assisi - im Eigentum. Tolstois angestrebtes Ideal ist ein einfaches, auf Landwirtschaft und Handwerk beruhendes Leben, welches im Verhältnis zu anderen Menschen ausschließlich auf Liebe und Vergebung setzt.

So verwirft er nicht nur Militär, Polizei und Justiz, sondern auch die industrielle Massenproduktion.

Mit der sozialistischen Bewegung seiner Zeit, die er durchaus zur Kenntnis nimmt, verbinden ihn zwar einige Ziele, er lehnt aber jede gewaltsame Revolution und jeden Zwang und damit auch den politischen Weg der marxistischen Sozialisten ab. In "Das Ende eines Zeitalters" (etwa 1905) schreibt er:

"Und der Umstand, dass die Mehrzahl der Revolutionäre als ihr Ideal die sozialistische Staatsordnung aufstellt, die nur durch die härteste Vergewaltigung erreicht werden kann, und die, wenn sie irgendwann wirklich erreicht würde, den Menschen das letzte Überbleibsel von Freiheit nehmen würde, dieser Umstand beweist nur das eine, dass diese Leute gar keine neuen Ideale haben. Das Ideal unserer Zeit kann nicht eine Änderung der Form der Gewalt sein, sondern nur eine völlige Ausschaltung der Gewalt, die dadurch zu erreichen ist, dass die Menschen der Macht nicht mehr gehorchen."

In seinem letzten großen Roman "Auferstehung" fasst er seine Justiz- und Staatskritik in literarischer Form zusammen. Die russische Zensur nimmt etwa 500 Streichungen vor. Das Buch wird aber wie seine anderen Schriften weltweit ein großer Erfolg. In Frankreich erfährt es schon im ersten Jahr des Erscheinens 15 Auflagen, in Deutschland 12. Mit dem Erlös aus diesem Buch finanziert Tolstoi die Auswanderung der russischen Duchoborzen, einer damals etwa 15.000 Menschen umfassenden Religionsgemeinschaft, die ein urchristliches Leben führen, auch Kriegsdienst und Eid ablehnen und deshalb vom Staat heftig verfolgt werden. Tolstoi bezahlt den Landkauf in Kanada und die Überfahrt dorthin, wo diese Gemeinschaften heute noch leben.

In den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens besitzt Tolstoi nicht nur einen gewaltigen Einfluss auf die geistige und politische Entwicklung Russlands, sondern wird sowohl mit seinem literarischen Werk als auch mit seinen religiösen und sozialkritischen Schriften durch eine Fülle von Übersetzungen in allen großen Sprachen wahrgenommen.

In Russland werden seine Anhänger verfolgt, während die Polizei nicht wagt, ihn auch nur anzufassen. Man sagt, es gebe in Russland zwei Zaren, einen in St. Petersburg und einen in Jasnaja Poljana, mit dem Unterschied, dass der in Peterburg dem anderen nichts tun könne, der in Jasnaja Poljana aber den Petersburger Zar stürzen werde.

Weltweit werden die Stellungnahmen Tolstois gegen Krieg und Todesstrafe, vor allem seine Proteste gegen den russisch-japanischen Krieg und gegen die Hinrichtung der Revolutionäre von 1905 in den Zeitungen außerhalb Russlands gedruckt.

Kropotin schreibt am Ende des schon zitierten Vortrags:

"Aber absolut gewiss ist, dass kein Mann seit Rousseaus Zeiten das menschliche Gewissen so tief aufgerührt hat, als es Tolstoi mit seinen moralischen Schriften tat. Er hat furchtlos die moralischen Seiten all der brennenden Fragen des Tages aufgedeckt und in einer so eindrucksvollen Form, dass jeder, der etwas davon gelesen hat, diese Fragen nicht vergessen und beiseite schieben kann; man fühlt den Drang, auf die eine oder andere Art und Weise eine Lösung zu finden. Tolstois Einfluss ist daher nicht einer, der sich nach Jahren oder Jahrzehnten messen lässt; er wird länger andauern. Er ist auch nicht auf ein einziges Land beschränkt. In Millionen von Exemplaren werden seine Werke in allen Sprachen gelesen; sie wenden sich an die Männer und Frauen aller Klassen und aller Nationen und überall bringen sie die gleiche Wirkung hervor. Tolstoi ist heute der am meisten geliebte Mann - der in der rührendsten Weise geliebte Mann - in der Welt."

In religiöser Hinsicht ist Tolstoi für den Schweizer Kirchengeschichtler Walter Nigg der Entdecker der Bergpredigt, d.h. der Entdecker eines neuen Verständnisses dieser Kapitel des Neuen Testamentes mit einer Verbindlichkeit sowohl für das persönliche als auch für das gesellschaftliche und politische Leben.

Als Tolstoi 1901 von der orthodoxen Kirche wegen seiner Kritik an der ausschließlichen Konzentration auf eine rituelle und spirituelle Praxis ausgeschlossen wird, kommentiert Rosa Luxemburg: Jetzt habe die russische Kirche ihren einzigen Christen hinausgeworfen.

In mehreren Aufsätzen hat sich auch Lenin mit Tolstoi beschäftigt: er zählt natürlich nicht zu seinen Anhängern, sondern hält ihn im Prinzip für ein Relikt aus der feudalen Zeit ohne Verständnis für die Gesetze des Fortschritts hin zu einem sozialistischen Staat. Aber er gesteht, dass die aufklärerischen sozialkritischen Schriften Tolstois die russische Revolution vorbereitet haben, dass er und nicht die marxistische Theorie das Ohr und das Herz des russischen Volkes erreicht hatte.

Diese Würdigung Lenins hatte später weitreichende Auswirkungen auf die Möglichkeit, dass auch während der sozialistischen Diktaturen Tolstoi weiterhin gedruckt werden konnte, auch mit seinen religiösen und staatskritischen Schriften. Die in den zwanziger und dreißiger Jahren erschienene russische Werkausgabe umfasst über 90 Bände. In den sechziger und siebziger Jahren wurde auch in der DDR eine zwanzig bändige Ausgabe Tolstois verlegt, darunter auch ein Band mit den philosophischen und sozialkritischen Schriften, dabei auch solche, die eine Fundamentalkritik an jedem, auch am sozialistischen Staat zum Ausdruck bringen.

Schon zu seinen Lebzeiten war Tolstoi deshalb in der deutschen Sozialdemokratie sehr umstritten. Gegenüber Angriffen von dieser Seite tritt Rosa Luxemburg für Tolstoi ein und schreibt:

"Gewiss, Tolstoi war und ist kein Sozialdemokrat, und für die Sozialdemokratie, für die moderne Arbeiterbewegung hat er nicht das geringste Verständnis. Allein es ist ein hoffnungsloses Verfahren, an eine geistige Erscheinung von der Größe und von der Eigenart Tolstois mit dem armseligen steifen Schulmaß herantreten und ihn danach beurteilen zu wollen. Die ablehnende Haltung zum Sozialismus als einer Bewegung und einem Lehrsystem kann unter Umständen nicht von der Schwäche, sondern von der Stärke eines Intellekts herrühren und dies ist gerade bei Tolstoi der Fall."

Und sie zieht daraus den Schluss:

"Namentlich kann es keine erzieherisch bessere Lektüre für die Arbeiterjugend geben als die Werke von Tolstoi."

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges bricht Tolstois politischer Einfluss in Ost und West spürbar ab. Seine Schriften gegen Militär und Krieg werden jetzt auch in Deutschland von der Zensur verboten und nach dem Ersten Weltkrieg werden bis heute fast nur noch seine Erzählungen und Romane gedruckt und gelesen.

Den Nachhall seiner ganzen geistigen Bedeutung auf die Vorkriegsgeneration bringt Thomas Mann in einer Rede zum hundertjährigen Geburtstag Tolstois im Jahr 1928 zum Ausdruck, die er mit den Worten beginnt:

"Er hatte das Format des 19. Jahrhunderts, dieser Riese, der epische Lasten trug, unter denen das soviel schmächtigere und kürzer atmende Geschlecht von heute zerknicken würde. … Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre 14 die scharfen durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären. War das kindlich gedacht?"

Ist es kindlich gedacht und stehen wir im politischen Abseits, wenn wir heute, hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg noch immer in einer hochgerüsteten und von Kriegen geplagten Welt an die Botschaft Tolstois erinnern?

Gegen die tolstoische Zumutung der Bergpredigt antwortete schon der deutsche Reichskanzler Bismarck mit seiner oft zitierten Ablehnung:

"Mit der Bergpredigt kann man keinen Staat regieren."

1982 berief sich auch der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt auf dieses Zitat, als er gegen die heftige Kritik der Friedensbewegung an der Aufstellung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen in Deutschland festhielt.

Damals druckte sogar die eher linke "Frankfurter Rundschau" zur Aufklärung ihrer Leserschaft, um was es bei dieser Auseinandersetzung gehe, kommentarlos und ungekürzt die ganze Bergpredigt ab.

1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, setzte sich der deutsche Soziologe Max Weber in zwei Hochschulvorträgen unter den Titeln "Politik als Beruf" und "Wissenschaft als Beruf" auch mit Tolstoi auseinander.

Dessen Haltung galt ihm als eine zwar respektable, aber doch für die Führung der Gesellschaft unbrauchbare "Gesinnungsethik", der er eine für die praktische Politik erforderliche "Verantwortungsethik" gegenüber stellte.

Zum Verständnis der Begrenztheit dieser Gegenüberstellung ist allerdings wesentlich, dass Max Weber ganz selbstverständlich von einer auf den jeweils eigenen Nationalstaat begrenzten politischen Verantwortung ausging.

Für Tolstoi - ebenso wie für den von ihm sehr geschätzten Immanuel Kant - war aber nicht der Nationalstaat, sondern die Menschheit, repräsentiert in jedem einzelnen Menschen, der Bezugsrahmen für unsere Verantwortung.

In diesem Bezugsrahmen hat aber die übliche politische Logik mit ihrer Rüstung und dem Militär, den immer wieder geführten Kriegen, dem Kampf um Einflusssphähren und Ressourcen für die jeweils eigene Seite, der Trennung von arm und reich im Weltmaßstab und innerhalb der Gesellschaft, dem Verbrauch und der Zerstörung von Lebensgrundlagen für kommende Generationen deutlich versagt.

Dem gegenüber kann der Bergpredigt kaum noch die ihr innewohnende Vernunft abgesprochen werden. Allerdings hat sie gegenüber der herkömmlichen Politik einen anderen Zeit - und Handlungsrahmen:

Ohne die Mittel der Gewalt und des Zwanges ist sie auf Einsicht und Überzeugung angewiesen, eine Einsicht, die nicht nur durch eine entsprechende Bildung, sondern auch durch die unbewusste Erziehung des Vorbildes vermittelt wird.

Tolstoi schildert solche Bildungs- und Erziehungsprozesse nicht nur in seinen pädagogischen Schriften, sondern auch in "Krieg und Frieden" in den Prozessen der Veränderung der von ihm beschriebenen Personen.

Das gilt nicht nur für den Feldherrn Kutusow mit seinen Kämpen "Geduld und Zeit"; alle positiven Entwicklungen hin zu einem Frieden erfolgen außerhalb gewaltsamer Wege in dem offenen Raum, den ein Verzicht auf Gewalt erst möglich macht.

Fußnoten

Veröffentlicht am

15. Februar 2014

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