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Vom verwandelten Jesus und von Christen im Abseits

Vor 125 Jahren, am 14. Januar 1892, wurde Martin Niemöller in Lippstadt geboren. Er war U-Bootkommandant im Ersten Weltkrieg, Pfarrer, führender Vertreter der Bekennenden Kirche, persönlicher Gefangener Adolf Hitlers, Kirchenpräsident sowie Präsident im Weltrat der Kirchen und ein leidenschaftlicher Friedensaktivist. Martin Niemöller, der am 6. März 1984 in Wiesbaden starb, führte ein Leben im Widerstand und mit Widersprüchen. Anlässlich seines 125. Geburtstags erinnern wir an diese bedeutsame Persönlichkeit nachfolgend mit einer Predigt von Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Marquardt in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem zu Martin Niemöllers 100. Geburtstag am 14. Januar 1992.

Vom verwandelten Jesus und von Christen im Abseits

Von Friedrich-Wilhelm Marquardt

Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, und führte sie beiseits auf einen hohen Berg. Und er ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie ein Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm. Petrus aber antwortete und sprach zu Jesu: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so wollen wir hier drei Hütten machen: dir eine, Mose eine und Elia eine. Da er noch also redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören! Da das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! Da sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand denn Jesus allein. Und da sie von dem Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt dies Gesicht niemand sagen, bis des Menschen Sohn von den Toten auferstanden ist.   

Matthäus 17, 1-9


Liebe Geschwister,

oft erzählen die Evangelisten ihre alten Geschichten in der Gegenwartsform. "Nach sechs Tagen nimmt Jesus den Petrus und den Jakobus und dessen Bruder Johannes und führt sie abseits auf einen hohen Berg." Das geschah damals. Es kann auch - geb’s Gott - uns heute geschehen; haltet es nach zweitausend Jahren immerhin für möglich.

Freilich passiert es nicht jedem: Von zwölf Jesus-Freunden gerade nur dreien, den drei Fischern vom See Genezareth. Sie zieht Jesus ins Abseits - und das schon zum zweiten Mal. Zuerst hatte er sie ja weggezogen von Beruf, Vaterhaus und Freundschaft, hatte ihnen einen Bruch mit ihrer bürgerlichen Lebenswelt zugemutet, um sie zu seinen Mitläufern zu machen. Aber nun greift er ein zweites Mal ein, auch in ihr neues Lebensgefüge: heraus aus dem Mitläuferkreis Jesu; statt zwölfen müssen nun zwei oder drei dafür genügen, dass er mitten unter ihnen ist. Erst ein bürgerliches Abseits. Und nun gleich auch noch ein kirchliches hinterher.

Wir wollen uns mit Matthäus vor allem für dies zweite, schärfere Abseits interessieren: das von der Kirche. Wie haben die drei es erlebt?

Zuerst bekamen sie es mit einem verwandelten Jesus zu tun: "Und er wurde vor ihnen verwandelt." Plötzlich war er nicht mehr einer von ihnen. Ihre Gesichter: wahrscheinlich doch von Glück und Schmerzen ihres neuen Berufes - der Menschenfängerei - gezeichnet, wie das seine; aber nun plötzlich leuchtete das seine wie die Sonne. Ihre Kleider: Arbeitskleidung, die Mäntel zugleich die Schlafrollen der Wandernden, die nichts anderes haben, wo sie ihr Haupt niederlegen können, schmutzig vom Erdenstaub; aber nun plötzlich wurden seine Kleider weiß wie Licht. Er verlor alles ihnen Vertraute, Familiäre, Freundschaftliche, Gemeinsame. Genauer: Das alles wurde überblendet von Unbekanntem. Er wurde ihnen fremd.

Liebe Gemeinde, wir können spüren, was das heißen mag. Wir haben ja schon lange auf Luthers Rat gehört und Jesus "tief ins Fleisch gezogen", in unser Fleisch, versteht sich. Wir haben ihn eingewickelt in unsere Bedürfnisse. Seine Gnade ist uns nicht so nahe wie seine "Solidarität". Dass er heilig lebt, befremdet uns mehr, als dass er sich mit Zöllnern, Sündern und Huren an einen Tisch setzt. Dass er treulich die Gebote der Tora tut, Zizit trägt und den
Gebetsmantel, stößt uns so ab, dass wir uns lieber Theologenmärlein erzählen lassen, wo alles er in seiner Freiheit angeblich das Gesetz gebrochen habe. Dass er unbefangen mit reichen Leuten verkehrt, finden wir an ihm nicht so gut, wie dass er sicher ein Parteigänger der Armen ist.

Seinen ersten Jüngerinnen und Jüngern ist es da gar nicht sehr anders gegangen als uns. Was haben nicht auch sie alles in ihn hineinprojiziert! Auf jeden Fall hatte er im engsten Kreis Freunde mit nationalen Befreiungserwartungen: "Wann wirst du für Israel das Reich wieder herstellen?" Und unbestritten ist, dass er im engsten Kreis Zeloten hatte, die ihn auch in gewaltsame, bewaffnete Pläne hineinziehen wollten - ein gefundenes Fressen für die Behörden des römischen Staates. Zwei von diesen Gewaltmenschen unter seinen Freunden waren die Brüder Jakobus und Johannes, die er - sie sehr kränkend - die "Donnersöhne" nannte. "Radaubrüder" würden wir sagen. Gerade sie nahm er mit ins Abseits, gerade auch vor ihnen wurde er verwandelt; ihr Jesus-Bild brauchte diese Verwandlung - so wie alle unsere Liebhaber-Projektionen das brauchen. Denn wenn Jesus wirklich - wie sein Name sagt - Gottes Hilfe für uns sein soll, müssen wir lernen, ihn bei anderen Namen zu rufen als denen, mit denen wir unsere seelische, gesellschaftliche, politische, nationale oder internationale Nestwärme ausdrücken. Die Kirche der Mitläufer Jesu ist gut; sie schafft sich und den Leuten solche Nestwärme um ihn herum. Aber Jesus muss dann zuweilen wenigstens einige von uns nestflügge machen und selbst ein verwandelter Jesus werden, damit außer den Menschen auch Gott etwas an ihm hat: Dann muss Jesus selbst brechen mit seiner uns so vertrauten Menschengestalt, muss ins Gotteslicht treten und wenigstens einigen von uns zum ganz Anderen werden, uns gegenübertreten können.

Die wenigen, denen das widerfährt, werden davon ganz beschattet. "Er redete noch, siehe: da überschattete sie eine lichte Wolke." Während die meisten davon gar nichts merken und immer noch im Licht ihrer ersten Berufung - weg von ihrer bürgerlichen Umwelt, in der Wärme der Jesus-Freundschaft - wandeln, geraten die paar anderen ins Dunkle. Die einen leben dann im Licht, die anderen aber im Dunkeln. Für sie, die wenigen, wird ihre Jesusnachfolge etwas Fürchterliches. "Sie fürchteten sich sehr." Sie müssen dann lernen, den ihnen so schmerzlich verwandelten Jesus durchzustehen, ihn: in seiner ganzen Fremdheit, in der sie ihn gar nicht mehr wiedererkennen können.

Ein Entfremdeter - ein Radikaler, ein bis auf die Wurzel Beschnittener, Zurückgeschnittener. Dann wird Jesus das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben, und keine anderen Ereignisse, Mächte, Gestalten und Wahrheiten können dann noch berücksichtigt werden: keine volkskirchlichen Traditionen, wirtschaftlichen Notwendigkeiten, nationalen Glücksfälle, aber auch keine Kriegssirenen vom Golf, keine gerechte, allzu gerechte Vergangenheitsbewältigung. "Als sie aber ihre Augen erhoben, sahen sie niemand als Jesus allein." Das ist alter Protestanten-Radikalismus: solus Christus. Das ist der Radikalismus jeder bekennenden Kirche: einer die nicht vermittelt und nicht Brücken baut. Die nichts im Blick hat als Jesus allein. Die Kinder-Kirche: "Soll niemand `drin wohnen als Jesus allein." Die Martin-Niemöller-Kirche also.

Ihr lieben predigt-erfahrenen Leute habt es schon längst bemerkt: Auch Martin Niemöllers Geschichte erzähle ich, wenn ich von Petrus und den beiden Donnersöhnen spreche. Diese alte Geschichte ist in seinem und seiner Freunde Wegen zu einer Gegenwartsgeschichte in unserer Generation geworden.

Er und ein paar andere mit ihm wurden von Jesus anders und deutlicher als andere mitgenommen. Losgerissen aus der Familie und der Gemeinde, am 1. Juli 1937. Aber ja vorher schon hingerissen von Jesus allein. Als hätte er es geahnt, hatte er schon in seiner Dahlemer Antrittspredigt im Juni 1931 gesagt, er wisse sich von der Gemeinde gewählt zu der "heilig einseitigen Aufgabe eines evangelischen Predigers, das alte Evangelium zu predigen von dem Herrn Jesus Christus." Heilig-einseitig. Er wusste schon, dass damit eine Kirche des Ausgleichs und der Neutralität, wie er sie nannte: eine "gemäßigt gläubige christliche Kirche", zusammenstoßen müsste; und er wusste, dass dies die Art der verfassten Kirche überhaupt sein würde. Gerade als hessischer Kirchenpräsident konnte er ermessen, was es heißt: "Das praktische Handeln der Kirche bewegt sich nicht mehr in der Sphäre des Glaubens, sondern im Rahmen des Möglichen." Es geschah ihm, dass Jesus ihn aus dem Kirchenrahmen, dem Rahmen des Möglichen, herausriss. Ihm geschah es, und einigen neben und mit ihm auch.

Aber nicht allen Christen. Auch hier in Dahlem blieben viele, seiner Predigt zum Trotz, im Rahmen des Möglichen. Am erschütterndsten sichtbar, als im Frühling und Sommer 1945 zweihundert Dahlemer Gemeindeglieder Selbstmord begingen; es hat den Pfarrer von Dahlem nie losgelassen, dass er Jesus-allein nicht so hat bezeugen können, dass das die Angst vor den Russen und ihren Untaten hätte bannen können oder gar das Schuldgefühl von Nationalsozialisten in der Gemeinde, die mit Hitlers Tod ihr eigenes Ende wählten. Wer im Rahmen des Möglichen bleibt, stößt schnell an die Grenze und scheitert am Unmöglichen. Jesus-allein verwandelt beides: Das Mögliche und das Unmögliche. Aus der Moabiter Untersuchungshaft ließ er über seine Frau Else den Dahlemern ausrichten: "Wir haben nicht zu fragen, wieviel wir uns zutrauen, sondern wir werden gefragt, ob wir’s Gott zutrauen, dass es Gottes Wort ist und tut, was es sagt."

Freilich gab es in Dahlem auch andere, die dem Jesus-allein auch über die Kampfzeit hinaus in der Russenzeit eine neue Form geben und es so beglaubigen konnten. Im März 1946 hat Niemöller folgendes erzählt: "Ich war Ende Oktober für zwölf Tage in meiner Dahlemer Gemeinde, in die ich bislang nicht habe zurückkehren können… Als ich in meinem halbzerschossenen Pfarrhaus am Morgen zum Frühstück in die Küche herunterkam, fand ich ein ausgebombtes junges Mädchen damit beschäftigt, das Frühstück zu richten. Sie hielt einen Brotlaib in den Händen, den meine Frau und ich aus Braunschweig mitgebracht hatten, und sie fing an, das Brot zu schneiden. Die erste Schnitte legte sie auf die Seite. Ich sagte: Geben Sie mir nur ruhig das Stück Brot, ich bin nicht so verwöhnt, dass ich das Brot nicht essen könnte, das auf einer Seite etwas angetrocknet ist. Darauf guckte sie mich groß an, lachte und sagte: Herr Pastor, Sie verstehen mich diesmal falsch. Die erste Schnitte Brot gehört den Flüchtlingen. - Ich fragte weiter und erfuhr, dass es eine Sitte ist in meiner Gemeinde, dass sämtliche Haushaltungen die erste Schnitte Brot auf die Seite legen. Die jungen Mädchen kommen dann und sammeln diese Schnitten Brot und gehen damit auf die Bahnhöfe und Landstraßen und verteilen die Brotschnitten an die Flüchtlingsmassen, die zu Zehntausenden herumliegen und für deren Verpflegung von Amts wegen keine Vorsorge getroffen war… Ja, meine lieben Freunde, diese Gemeinde war einmal die reichste Gemeinde im deutschen Vaterland. Sie brachte jedes Jahr 800.000 RM Kirchensteuer auf." Industrielle, Generaldirektoren, Bankdirektoren, große Künstler, Filmschauspieler, Chemiker, sehr bekannte und berühmte Ärzte und dergleichen Leute mehr. Diese Menschen müssen jetzt selbst von der Sterbekarte leben und "geben morgens die erste Schnitte Brot weg für Leute, die im Prozess des Verhungerns noch einen Schritt weiter sind als sie selber… Diese Schnitte Brot besagt, dass die Liebe des Herrn Jesus Christus, wenn sie in uns wirksam ist, stärker ist als der Tod".

Eine Geschichte, wie für jetzt geschehen und erzählt. Sagen wir statt der Schnitte Brot: das leerstehende Bischofshaus Scharf Am Hirschsprung 35. Sagen wir statt Flüchtlinge: Asylanten, die unsere Gemeinde dort unterbringt. Sagen wir statt Bahnhof und Landstraße: Hoyerswerda. Sagen wir statt Oktober 1945: Oktober 1991. Was Glieder unserer Gemeinde für möglich, andere leider auch für unmöglich halten - und doch bezeugt sich Jesus-allein in Dahlem: auch jetzt.

Jesus leuchtet aber auch noch anders in dieser Geschichte. Der Herr Pastor meinte, er sollte geschont, ihm sollte trockenes Brot erspart bleiben - wie das ein Mann in patriarchalen und bürgerlichen Verhältnissen so meint. Und nun muss er von einer jungen Frau aus seiner Gemeinde lernen. Sie kann ihm auch noch etwas von Jesus beibringen: den Bruch mit der bürgerlichen Lebenswelt.

Vom U-Boot zur Kanzel war er schon geführt worden. Aber zu einem Abschied von Hitler musste Jesus auch ihn erstmal extra begleiten, vom Hospiz St. Michael in der Vorderen Wilhelmstraße, wo vier Bischöfe, ein Synodalpräses und er noch eine Loyalitätserklärung für ein Gespräch mit dem Führer entwarfen, die paar Schritte bis zum Wilhelmsplatz, in Hitlers Arbeitszimmer, am 25. Januar 1934, wo er - unter dem erstarrten Schweigen der anderen - Hitler ins Gesicht widerstand: "Weder Sie noch sonst eine Macht in der Welt sind in der Lage, uns als Christen und Kirche die uns von Gott auferlegte Verantwortung für unser Volk abzunehmen." Vom Kaiserlichen und Nationalen zum Demokraten und Ökumeniker. Vom Militaristen zum Pazifisten. Vom Herrn Pastor zur Stimme der Gemeinde. Vom zentralen "Mann der Kirche" zuerst zum "Bruder Martin" und dann zum Geschwisterkind.

Ein von Jesus Mitgenommener. Das kann einen, dem das passiert, schroff machen. Wenn er Jesus-allein sah, ließ er alles Verbindliche fallen. Was er sagte, klang anstößig, abstoßend. Er hat dann nicht nur die Nazis geärgert. Auch Adenauer, auch die CDU, auch den Papst. Vor allem immer wieder die evangelischen Synodalen und Kirchenführer. Er verdunkelte sich dann für seine Feinde, mehr noch für seine Freunde. Und das zehrte am meisten an ihm selbst, seinem Gesicht. Er hat einmal gesagt, dass Jesus auch für ihn "ein unerträglicher Reisegeselle" sei. Aber er konnte nicht anders, er "musste", und ließ sich tragen von ihm, den auch er nicht erträglich fand.

Jesus-allein - Jesus-radikal - Jesus-ohne-Rückversicherung - Jesus-gegen-unseren-Geschmack - Jesus: jenseits des bürgerlich und kirchlich Möglichen und Unmöglichen - der trägt.

Aber das ist noch nicht das Ganze der Geschichte. "Als sie vom Berge hinabstiegen" - auf den Teppich der kirchlichen und bürgerlichen Normalität zurück -, "gebot ihnen Jesus: Sagt niemandem von der Erscheinung, bis der Sohn des Menschen von den Toten auferweckt worden ist." Macht nichts aus dieser Erfahrung, zerredet sie nicht, dogmatisiert sie nicht, verkirchlicht sie nicht, feiert sie nicht. Warum nicht? Sie würde so ihr Salz verlieren, ihr Asketisches, Abzehrendes. Wer einmal zu einem Mitgenommenen Jesu geworden ist, kann nicht wieder normal werden. Die Frau, der Mann bleiben getragen, aber auch gezeichnet bis zuletzt. Sie stehen unter dem Galgen, unterm Kreuz. Jesus trägt, indem er nicht aufhört zu fragen.

"In Dachau hat gerade vor meinem Zellenfenster der Galgen gestanden. An diesen steten Anblick und auch an den Gedanken, dass ich selbst eines Tages dort hängen könnte, habe ich mich allmählich gewöhnt. Man gewöhnt sich schließlich an alles. Doch an eins konnte ich mich nicht gewöhnen, nämlich an den Gedanken, selber auf dem Schemel unter jenem Galgen zu stehen und dann vielleicht als Letztes meinen Mörder zuzurufen: ,Ihr Verbrechergesellen, es gibt noch einen Gott, der wird mich an euch rächen. ` Wenn ich dies gesagt hätte, so wäre ich im Unglauben gestorben; und ich habe oft darum gebetet, dass dies nicht geschehen möge." Die Predigt des Galgens könnte Glauben zerstören. Jesus hat Martin Niemöller davor bewahrt. Aber um den Preis, dass der tragende Jesus von da an bis zum letzten Atemzug ein fragender Jesus geworden war.

Nach der Befreiung: Else und Martin Niemöller abermals in Dachau und seitdem diese berühmte Geschichte: An einem Baum ein weiß gestrichenes Kistenbrett, von den letzten Häftlingen dort hinterlassen (mit einer schwarzen Inschrift: "Hier wurden in den Jahren 1933-1945 238.756 Menschen verbrannt." "Als ich gelesen hatte, merkte ich, dass meine Frau ohnmächtig wurde und an meinem Arm zitternd hinsank." "Ich glaubte, meine Frau wurde ohnmächtig, als sie diese Viertelmillionenzahl las. Die hatte mich nicht bewegt. Denn sie sagte mir nichts Neues. Was mich in diesem Augenblick in einen kalten Fieberschauer jagte, das war etwas anderes. Das waren die zwei Zahlen: 1933-1945, die da standen. Und ich fasste nach meinem Alibi und wusste, die zwei Zahlen, das ist der Steckbrief des lebendigen Gottes gegen Pastor Niemöller. Mein Alibi reicht vom 1. Juli 1937 bis Mitte 1945. Da stand: 1933-1945. Adam, wo bist du? Mensch, wo bist du gewesen?… Wo warst du 1933 bis zum 1. Juli 1937?

Und ich konnte dieser Frage nicht mehr ausweichen. 1933 war ich ein freier Mann. 1933… ja richtig: Hermann Göring rühmte sich öffentlich, dass die Kommunistische Gefahr beseitigt ist. Denn alle Kommunisten… sitzen nun hinter dem Stacheldraht der neu gegründeten Konzentrationslager. Adam, wo bist du? Mensch Martin Niemöller, wo bist du gewesen?, so fragte Gott aus diesen beiden Zahlen. Und es fiel mir ein: die ganze Sache hat mir keinen Eindruck gemacht; irgendwo im Winkel des Herzens habe ich vielleicht gedacht: eigentlich sind wir doch auf diese Weise die ganze Gottlosengefahr losgeworden."

Wir haben diese Geschichte vorhin am Altar gehört. Sie kann gar nicht oft genug wiedererzählt werden. Um ihretwillen sind wir als Marburger Studenten 1946 Niemöller von Dorf zu Dorf nachgelaufen, diese Predigt zu hören, sie verstehen zu lernen, von ihr uns bewegen zu lassen. Sie sitzt bei einigen von uns fest fürs Leben. In ihrem Schatten wollten wir unsere Hütten bauen. - Und ihre Frage wiederholt sich ja gerade in diesen Wochen: Adam, wo bist du jetzt? Leider dröhnt sie nur erst unseren Ostgeschwistern in den Ohren. Aber sie meint auch uns Westmenschen, vielleicht uns sogar noch mehr. "Die kommunistische Gefahr beseitigt." "Irgendwo im Winkel meines Herzens habe ich gedacht: Eigentlich sind wir doch auf diese Weise die ganze Gottlosengefahr losgeworden."

Ja, so konnte man kirchlich denken. So denken viele auch heute wieder kirchlich, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. So zu denken, ist möglich oder unmöglich. Jesus-allein, der verwandelte Jesus aber zieht die Kirchen- und Bürgerfreude an der Ausschaltung, gar am Tod der Gottlosen infrage und liegt damit schwer im Gewissen. Adam, wo bist du jetzt?

Leider mit geringerem Nachdruck, aber doch, hat Jesus Martin Niemöller auch Gottes Steckbrief wegen der Judenmorde ausgehändigt. "Die 6 Millionen Judenmorde werden uns nicht geschenkt. Wir alle müssen daran bezahlen. Es wird sich keiner drücken können, und ein Pfui über den, der’s versucht." Schade, dass er davon nur in der Sprache des Bezahlen-müssens sprechen konnte, noch nicht in der Sprache der Erkenntnis. Dieser Steckbrief Gottes hängt bis heute aus, mit all unseren Namen. Wenn wir Jesus-allein sehen wollen, wird er auch uns alle noch zurückschneiden, zurück bis auf die Wurzel Jesse, aus der allein er lebt: Der "Sohn des Menschen", der Richter aller Schuld, auch der unseren. Und auch uns steht das noch bevor: Jesus trägt, indem er uns bis zuletzt und bis aufs Gewissen fragt: Wo bist denn du? Immer noch kalt gegen Israel - oder endlich mit ihm?

Aber nun noch einmal zurück zur Gemeinde des Pastor Niemöller. "Es ist mir aufgefallen, dass in meiner Gemeinde in Dahlem die Schuldfrage gar kein Problem ist, die Frage: wie könnt ihr die Schuld vor der Welt aussprechen?, ist dort gar keine Frage. Ich habe noch keine Gemeinde gefunden, die Gott so froh gelobt hat, wie meine verhungernde Gemeinde in Dahlem… Ich habe noch nie eine solche Opferbereitschaft gefunden… Ich glaube, das ist wirklich ein Neuanfang, der mit dem Ruf Gottes zur Buße und mit der Verheißung Gottes, seiner Gnade in Jesus Christus ernst macht. Was daraus wird, wissen wir nicht. Ob Gott sie sterben lässt oder ob er ihnen noch hilft - ich habe manchmal den Eindruck, dass das für die Christengemeinde gar nicht mehr die Hauptsache ist. Sie haben gelernt, dass es etwas gibt, das viel wesentlicher ist als das Leben; sie haben gelernt, was es heißt: keine Schuld ist so groß, dass der uns von Gott gegebene Heiland nicht damit fertig würde. Ich glaube, dass dieser Berg von Schuld noch in tausend Jahren mitten in der Welt stehen würde, wenn wir nicht darangehen, diese Schuld zum Kreuz Jesu Christi hinzutragen. Dann mag eine neue Bruderschaft unter den Menschen entstehen… Da braucht der Friede nicht organisiert zu werden, sondern da ist es wahr: Friede auf Erden bei den Menschen des Wohlgefallens."

Die Schuld ist an der Wurzel getilgt, wo Jesus einer Gemeinde die Angst um sich selbst und die Sorge für ihr eigenes Überleben nimmt.

"Und Jesus trat hinzu, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht. Als sie aber ihre Augen erhoben, sahen sie niemand als Jesus allein." Amen.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, Januar 1992, 53. Jahrgang, S. 2ff.

Veröffentlicht am

17. Januar 2017

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