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Überlebensgefährdung durch das neoliberale Finanzsystem

Von Werner Gebert - Impuls beim 18. Hinterzartener Kamingespräch am 23.-25. Sept. 2016

Ein paar Zitate zu Beginn, vor allem aus der Zeit der Finanzkrise 2007/09:

Kanzlerin A. Merkel: "Es ist unverständlich, dass Banken, denen der Staat unter die Arme greift, in vielen Fällen gleichzeitig riesige Bonussummen auszahlen." (Spiegel 8/2009, S. 61)

Bundespräsident H. Köhler: "Die Finanzmärkte sind zu einem Monster geworden" (Stern 21/2009, S. 40)  -  "ein Konglomerat aus Finanzkapital und Politik, das die Welt an den Rand des Ruins trieb." (SPIEGEL 20/2009, S. 98)

A. Turner, Chef der britischen Finanzaufsicht, sagt, das Finanzgeschehen habe sich von der Wirklichkeit gelöst, besitze aber die Kraft, die Werte anderer Industrien und ganzer Völker zu zerstören. (SPIEGEL 48/2009, S. 79)

Ex-Goldman-Sachs-Banker John Talbott: "Wenn eine Gruppe von Bankern hunderte Milliarden Dollar an Boni dafür kassieren, dass sie weltweit Billionen Dollar an Vermögen und hunderte Millionen Arbeitsplätze vernichten, dann gibt es dafür nur eine Bezeichnung: kriminell" (SPIEGEL 3/2010, S, 69)

Paul Woolley, Multimillionär, jetzt an der London School of Economics tätig, will beweisen, wie gefährlich die Finanzmärkte sind. "Es ist wie ein Krebsgeschwür, das immer weiter wächst". Es sei durch nichts zu rechtfertigen, dass diese Industrie in guten Jahren 40% aller US-Unternehmensgewinne einfährt, die höchsten Gehälter zahlt - und in schlechten Jahren von der Allgemeinheit gerettet wird, sagt er. (SPIEGEL 34/2011)

Die Finanzindustrie hat sich ein sprachliches Waffenarsenal geschaffen, das wohl in erster Linie der Abschreckung dient. Das funktioniert in etwa so: Wer sich nicht auskennt bei Derivaten, Leerverkäufen, Futures, Libor-Zinssatz, Arbitrage-Geschäften, Leverage Hebeln, Turbo-Zertifikaten, Credit Default Swaps, CDS Spread, Long/Short Equities, Collateralized Debt Obligations und Global Macro Hedgefonds-Strategien usw. hat sich von vorneherein disqualifiziert, hat also kein Recht mitzureden. Er oder sie kann unmöglich wissen, wie das Finanzsystem funktioniert. Die meisten Menschen lassen sich abschrecken. Dabei geht es bei diesen Begriffen um das Funktionieren des Finanzsystems. Zum Trost sei gesagt: Wie das Finanzsystem funktioniert, wissen viele Spezialisten, die sich selbst mit zum Teil zweistelligen Millionen-Boni ausstatten, insbesondere Investmentbanker, auch nicht. Sie setzen immer wieder Milliarden in den Sand. Manche Banken machen Pleite. Im September 2008 traf es die US-amerikanische Großbank Lehman Brothers. Großbanken wie die Deutsche Bank und die Commerzbank kämpfen heute mit überlebensbedrohlichen Schwierigkeiten. Zur Banken-Rettung muss dann der Steuerzahler einspringen.

Manche Analysten machen die Super-Boni der "Bankster" mitverantwortlich für die Finanzkrise 2008. Für 2007 erhielt der neue Chef der Merrill Lynch Bank Boni im Höhe von 83 Mill. US-$ (SPIEGEL 8/2009, S. 70). Die Spitzenverdiener stammen aus der Hedgefonds-Branche. 2006 gab es mindestens drei Hedgefonds-Manager (T. Boone Pickens, James Simons und John D. Arnold) die in einem Jahr über einer Milliarde US-$ "verdient" haben (SPIEGEL 16/2007, S. 88).

Anstatt von den Bankgeschäften auszugehen, also von Funktionieren oder Nicht-Funktionieren des Finanzsystems, kann man ja auch von den Wirkungen dieses Systems ausgehen. Ein Weg dahin mag die Allgemeinfrage sein, die viele Menschen bewegt: Was ist die größte Bedrohung für das Überleben der Menschheit? Darauf gibt es viele Antworten, z.B. die Atombombe, die Hochrüstung, aggressiver Fundamentalismus, Terrorismus, die Gentechnologie, die Naturzerstörung, Hunger und Elend, der Klimawandel, der Kapitalismus, die ungerechte Einkommensverteilung, die Gier, der Zinseszins, die Wachstumsideologie und anderes mehr. Das derzeit herrschende Finanzsystem wird zwar auch als bedrohlich empfunden, aber nicht direkt als überlebensgefährdend. Das liegt wohl daran, dass die Finanzökonomie in der heutigen Form des Geldkapitalismus (Diefenbacher, Wohlstand, S. 25) - wie gesagt - als sehr kompliziert und undurchschaubar gilt. Außerdem haben die Menschen mit durchschnittlichem oder auch etwas überdurchschnittlichem Einkommen und Vermögen keine Erfahrung mit Anlagemöglichkeiten, die wirklich hohe Renditen ermöglichen. Das neoliberale Finanzsystem gerät aus dem Blickfeld.

Um seine Gefährlichkeit zu erkennen, ist es notwendig, den Zusammenhang zwischen den oben aufgezählten Zivilisationsbedrohungen und dem Finanzsystem herausarbeiten. Bei manchen Bedrohungen kann man schnell erkennen, dass sie direkt oder indirekt vom Finanzsystem verursacht wurden.

Offensichtlich ist das bei der Gentechnologie. Sie trägt überhaupt nichts bei zu einer ausreichenden und gesunden Ernährung, geschweige denn zur Ernährungssouveränität. Sie dient nur dazu, die Gewinne der großen Saatgutkonzerne zu erhöhen.

Deutlich ist der Bezug auch bei der Hochrüstung. Selbst die Militärs wissen: Mittels Waffen und Kriegen kann kein Konflikt gelöst werden. Die Rüstungsindustrie aber drängt die Politiker zur Anschaffung immer zerstörerischer Waffen und der Modernisierung der vorhandenen. Die Politiker inszenieren dafür eine äußerst prekäre Sicherheitslage und bedienen das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung mittels hochqualifizierter Ausrüstung des Militärs. Dabei könnte mit dem Geld für die Rüstung eine Menge sozialer Probleme gelöst werden.

Ebenso deutlich ist der Bezug zum Finanzsystem bei der Naturzerstörung. Die Boden-schätze und andere Naturschätze werden von Unternehmern aller Art als kostenfrei von der Natur zur Verfügung gestellte Rohstoffe betrachtet, die ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeitserwägungen ausgebeutet werden dürfen. Im Blick auf fossile Brennstoffe, Metalle und seltene Erden spricht man von einer Extraktionsökonomie, die große, ehemals fruchtbare Gebiete in Wüsten verwandelt hat. Die Regenwälder wurden in den letzten 50 Jahren halbiert, zum Teil wegen der Tropenhölzer, zum Teil wegen der Anbauflächen für Futtermittel und Bio-Treibstoffe. Das Haupt-Motiv für die Naturzerstörung ist Gewinnmaximierung.

Die heutigen ökologischen Probleme sind nur ein Beispiel für die Wirkungsweise des Kapitalismus. Er macht alles zur Ware. Warenbearbeitung und -handel dienen nur dem Ziel, Mehrwert zu erzeugen. Der neoliberale Kapitalismus macht auch das Geld zu Ware. Um das zu erreichen, wurde der Finanzsektor systematisch dereguliert.

Beim Klimawandel ist der Bezug zum Finanzsystem komplizierter. Mächtige Energiekonzerne wehren sich mit aller Kraft und leider auch mit gewissem Erfolg gegen die Energiewende, die sowohl nuklear erzeugten Strom als auch Strom aus fossilen Brennstoffen ablehnt. Weil die deutschen Energieriesen relativ wenig in erneuerbare Energien investiert haben, verlangen sie von der Politik längere Laufzeiten für Kernkraftwerke, Konzessionen für den Braunkohleabbau, die Einfuhr großer Mengen an Kohle, Öl und Gas und hohe Entschädigungen. Mit ihrer Marktmacht verhindern sie den schnellen Umstieg auf erneuerbare Energien und tragen so zum schnellen Anstieg der Erderwärmung bei.

Die Verbindung zwischen dem Terrorismus und dem Finanzsystem ist schwer erkennbar. Terroristen geht es nicht in erster Linie um Geld. Ihr erstes Motiv ist Rache für Demütigungen und Geringschätzung. Doch sie wollen auch die herrschenden Machtverhältnisse umstürzen. Sie wollen mindestens genau so mächtig werden wie die heute Mächtigen. Der IS beweist, dass Terroristen durchaus in der Lage sind, sich beträchtliche Finanzmittel zu verschaffen, um ihr großes Ziel, mächtiger als die jetzt Mächtigen zu werden, zu erreichen. Falls ihnen das gelänge, würden sie auch den Finanzsektor dominieren.

Was die ungerechte Einkommensverteilung - weltweit und national - betrifft, so ist das jetzige Finanzsystem die Ursache. Es begünstigt die Reichen und schröpft die Mittelschicht. "Den reichsten 10 % der Deutschen gehören rund zwei Drittel der Fabriken, Immobilien und Wertpapiere im Land. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung dagegen besitzt so gut wie nichts oder hat Schulden." (SPIEGEL 11/2016, S. 11) Das liegt in Deutschland vor allem am Steuersystem. Erben, Aktionäre, Hochvermögende und Immobilienbesitzer zahlen wenig bis gar keine Steuern, während bei der Lohn- und Einkommenssteuer ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von € 53.666 42 % an den Fiskus abgeliefert werden müssen. Als besonders ungerecht wird empfunden, dass Kapitalerträge mit nur 25 % besteuert werden.

Hunger und Elend auf der Welt sind zu einem beträchtlichen Teil Folge des neoliberalen Finanzsystems. Viele Ökonomen bestreiten zwar vehement, dass wachsender Reichtum Armut erzeugt, doch kann kaum bestritten werden, dass die Verschuldung großer Teile der Menschheit in den armen wie in den reichen Ländern den Kreditgebern eine Menge Zinsen und Schuldenrückzahlungen in die Kassen spült. Wer da hat, dem wird gegeben… Zudem entwickeln die Reichen überaus raffinierte Methoden, um den Armen weiteres Geld aus der Tasche zu ziehen.

Die Forderung fast aller Parteien nach mehr ökonomischem Wachstum erweist sich zunehmend als Ideologie, weil sie wachsenden Wohlstand für alle verspricht. Ökonomisches Wachstum wird bisher lediglich mit dem Maßstab Bruttoinlandsprodukt (BIP) ermittelt. Da jedoch die Kosten für die Beseitigung der negativen Folgen des Wirtschaftswachstums wie z.B. Unfälle, Krankheiten, Tornados und andere Umweltschäden, aber auch der Konsum von Alkohol und Tabak sowie Rüstungsausgaben positiv für das BIP zu Buche schlagen, erhöht sich das Wirtschaftswachstum umso stärker, je größer sein Zerstörungspotenzial wird. Kurzum: Wohlstand lässt sich nicht mit der Messlatte BIP messen. Dazu noch ein Ausspruch von Robert F. Kennedy: "Wir können unsere nationale Leistung nicht anhand des Bruttosozialprodukts messen. (…) Es misst alles, außer diejenigen Dinge, die das Leben lebenswert machen." (Diefenbacher, Wohlstand, S. 43)

Zur Ermittlung des Bruttonationalglücks im Himalayastaat Bhutan werden auch gemessen: der Lebensstandard, Gesundheit, psychisches Wohlbefinden, Bildung und Ausbildung, ökologische Vielfalt, Intensität des gemeinschaftlichen Lebens, Zeitnutzung, Kultur sowie gute Regierungsweise. Da sollen eben auch noch ganz andere Dinge wachsen als die in Geld messbare Wirtschaftsleistung.

Zu den offensichtlich negativen Wirkungen des herrschenden Finanzsystems gehört natürlich auch die Vernichtung von Anlagevermögen in Billionenhöhe - man schätzt so um die 30 Billionen US-$ bei der Krise 2007/09 - und der Abbau von Arbeitsplätzen in Millionenhöhe.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das neoliberale Finanzsystem ein Konstrukt ist, das als Umverteilungsmechanismus geschaffen wurde mit dem Ziel, die Gier der Reichen nach immer mehr zu befriedigen. Gier ist Habsucht. Gierige wollen immer mehr Besitz, Geld, Titel, Statussymbole, Auszeichnungen haben. Sie kriegen aber nie genug davon. Gier ist eine seelische Krankheit, eine Suchtkrankheit. Die Diagnose lautet: Maßlosigkeit, gepaart mit dem Verlust der Empathiefähigkeit. Das zeigt sich an den Urteilen der Erfolgreichen über die Armen. Die Armen sind selbst schuld an ihrem Schicksal. Und: Soziale Maßnahmen sind gesellschaftsschädigender Sozialismus. So wird nicht nur in den USA gedacht.

Wie man das herrschende Finanzsystem zähmen könnte, ist relativ klar. Die vorgeschlagenen Maßnahmen von den kritischen Finanz- und Wirtschaftsexperten gehen alle in dieselbe Richtung: Weniger Spekulationskapital und Bankenkontrolle, darunter:

  • Verbot von Derivaten und Leeverkäufen, Verbot von Hedgefonds
  • Einführung einer Finanztransaktionssteuer
  • Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln
  • Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken, Zerschlagung systemrelevanter Banken
  • Bankenkontrolle, Finanz-TÜV für neue Finanzprodukte
  • Keine Schattenbilanzen (Auslagerung von infizierten Papieren in bad banks)
  • Erhöhung des Eigenkapitals der Banken (Mindestreserven)
  • Keine Verbriefung von Krediten
  • Verbot von Transaktionen in und von Steueroasen
  • Erhöhung des Spitzensteuersatzes, der Erbschaftssteuer, Wiedereinführung der Vermögenssteuer, höhere Besteuerung von Kapitaleinkommen

Die Frage hier ist nicht, welches die effektivsten Zähmungsmethoden sein könnten, sondern wie man sie durchsetzen kann. Ulrich Duchrow setzt am Ende seines Buches "Gieriges Geld" auf wachsende Minderheiten in den Glaubensgemeinschaften, die auf dem Weg sind, der kapitalistischen Wirtschaft eine klare, öffentliche Absage zu erteilen. Damit entziehen sie dem herrschenden zerstörerischen System Energie.

Ein Beispiel für eine solche öffentliche Absage ist die Sao Paulo Erklärung "zum Bau einer neuen Wirtschafts- und Finanzarchitektur" aus dem Jahr 2012. Darin heißt es: "Im Licht unserer Berufung in die Jüngerschaft Jesu erkennen wir die Zeichen der Zeit. Daher bemühen wir uns um die Überwindung des Kapitalismus, dessen Wesen und Logik, um diesen durch ein auf weltweiter Solidarität basierendes System zu ersetzen…" (s. Kairos Europa-Heft "Wirtschaft(en) im Dienst des Lebens. Von den Rändern her in Richtung globale Transformation. "Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens, S. 32)

Es waren aber keineswegs nur Glaubensgemeinschaften, die der kapitalistischen Wirtschaft eine klare öffentliche Absage erteilten. Ich fand es verblüffend, dass mit der Finanzkrise 2007-09 auf einmal der lange Zeit verfemte Begriff Kapitalismus sogar in bürgerlichen Blättern wieder aufgetaucht ist, und zwar durchweg mit negativen Konnotationen. Ein schönes Beispiel: Im SPIEGEL-Titel vom 11. Mai 09 "Das Prinzip Gier" hieß die Unterzeile: "Warum der Kapitalismus nicht aus seinen Fehlern lernen kann".

Wenn wir die Zeichen der Zeit erkennen wollen, dann sollten wir heutzutage feststellen, dass der nach wie vor herrschende Kapitalismus mit seinem neoliberalen Finanzsystem in eine Legitimationskrise geraten ist. Ein Indiz dafür ist der Ansehensverlust der Banker und der Ökonomen und Politiker, die auf Wachstum, Wachstum, Wachstum setzen. Die Zivilgesellschaft hat die zerstörerischen und selbstzerstörerischen Wirkungen des Kapitalismus sehr detailliert herausgearbeitet. Junge Leute gehen heute scharenweise zu Degrowth-Konferenzen. An der Weltsozialgipfel-Konferenz in Kanada nahmen 30.000 Menschen teil. Die Demonstrationen in sieben deutschen Großstädten gegen CETA und TTIP am letzten Wochenende brachten über 300.000 Menschen auf die Beine. Es soll heute in Deutschland schon etwa 1 Million VeganerInnen geben. Die Millionen, die sich für Flüchtlinge engagieren, wissen ziemlich genau, dass die Fluchtursachen in kapitalistischer Habgier zu suchen sind, einerseits in der militärischen Absicherung von Rohstoffquellen, und andererseits in den durch die Weltwirtschaft ausgelösten Verelendungsprozessen. Hinzu kommt, dass das Paradepferd der deutschen Industrie, die Autoindustrie, sich als Kapitalverbrecher in Sachen Klimasünde erwiesen hat. Hoher Profite wegen setzen die Autobosse die Gesundheit der heute Lebenden und die Zukunft unsere Nachkommen eiskalt aufs Spiel.

Und immer deutlicher wird die Frage gestellt: Wie lange wollen wir die gefährlichen Machenschaften des neoliberalen Systems noch hinnehmen? Ist der Mensch tatsächlich so stark von Habgier geprägt, dass er für höheren Konsum seinen Untergang bzw. den seiner Kinder und Enkel in Kauf nimmt?

An dieser Stelle würde ich gern einen kleinen Exkurs zur AfD einschieben. Die Wahlentscheidungen ihrer Anhänger werden meistens mit den Flüchtlingen in Zusammenhang gebracht. Weil sie Angst vor Überfremdung hätten, würden sie AfD wählen. Ich will nicht bestreiten, dass das bei vielen AfD-Wählern ein Motiv ist, aber so ängstlich kommen sie mir gar nicht vor. Ich vermute eher ein Neidmotiv. Sie glauben, die Flüchtlinge erhielten hohe Aufmerksamkeit und Zuwendung, während die Menschen vor allem in ländlichen Gebieten tatsächlich immer schlechtere Zukunftsperspektiven haben. Landflucht setzt ein; vor allem die Jungen wandern ab. Die soziale Infrastruktur bröckelt. Die Ursachen dafür liegen zum großen Teil in unserer kapitalistischen Wirtschaftsweise. Da diese von den Regierungen einschließlich der EU systematisch gefördert wird, richtet sich der Zorn gegen die Regierenden in Gestalt der Protestwahl für die AfD. SPD-Parteichef Gabriel hat dies nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern irgendwie erkannt, ohne allerdings das kapitalistische System für Missstände verantwortlich zu machen. Immerhin ist er mit einer unerwartet neuen Idee an die Öffentlichkeit getreten. Er forderte einen Sozialpakt für die Bevölkerung in Deutschland. "Wir müssen dafür sorgen, dass niemand in Deutschland den Eindruck hat, wir würden Geld für Banken oder für Flüchtlinge ausgeben, aber für die Alltagssorgen der Menschen sei kein Platz", sagte Gabriel. "Man darf das alles nicht nur den Zuwanderern zur Verfügung stellen."

Es gibt Anzeichen dafür, dass sich das Blatt wendet. Der Druck, den die Zivilgesellschaft einschließlich der Kirchen mittels Expertisen, Massen-Petitionen, Verfassungsklagen etc. ausübt, zwingt die Politik zum Handeln. Und immer öfter fragen sich auch Politiker und Politikerinnen in aller Öffentlichkeit: Wer hat denn in unserem Land und in der EU eigentlich das Sagen? Sind es die Banken und Großunternehmen oder wir, die wir dazu da sind, die Rahmenrichtlinien für Wirtschaft und Soziales festzulegen und dort Leitplanken einzuziehen, wo größere Abstürze drohen? Selbst der "SPIEGEL" hat kürzlich in einem Leitartikel die "Zeit für eine Bändigung" ausgerufen. Zitat: Es geht darum, dass der Staat beweist, wer im Zweifel das Sagen hat. Dass er sich die Spielregeln nicht von internationalen Konzernen aufdrängen lässt." (Der SPIEGEL 36/2016, S. 6)

Zwei Beispiele für Erfolge der Zivilgesellschaft:

1. Kurz vor dem G20-Gipfel in China (im Sept. 2016) haben die zwei größten CO2-Emittenten der Welt, nämlich die USA und China, das Pariser Klimaschutzabkommen ratifiziert. Dieses Abkommen wäre wohl ohne die sehr entschlossene, kompetente und fantasievolle Arbeit von Hunderten von Klima-NGOs nicht zustande gekommen. Und nun kann es viel früher in Kraft treten als erwartet. Dass China hier vorgeprescht ist, liegt sicher auch daran, dass hunderte von Millionen ChinesInnen ihrer Regierung sehr deutlich zu verstehen gegeben haben, dass sie nicht länger im Smog leben wollen.

2. Die EU-Kommission will Apple und andere Großkonzerne zwingen, Steuern zu zahlen. Gegenüber Apple besteht sie auf die Nachzahlung von 13 Milliarden US- $. Dass die EU einen solchen Machtkampf wagt, liegt auch daran, dass die Mitgliedsstaaten nicht permanent als Verlierer dastehen wollen. Befördert wird ihr Widerstand durch die Zivilgesellschaft, die Ungerechtigkeiten in dieser Größenordnung nicht mehr hinnehmen will. Fast überall werden Sozialprogramme gekürzt, während gleichzeitig die Großkonzerne nicht mehr wissen, was sie mit ihren -zig oder gar hunderten von Milliarden anfangen sollen. Immer mehr PolitikerInnen wollen nicht mehr die Lakaien des Großkapitals sein.

Es gibt auch ein schönes Beispiel, das noch nicht von Erfolg gekrönt ist, ein Beispiel für das Blatt, das sich wendet. Ich meine die Protestbewegung gegen Stuttgart 21, den Tiefbahnhof.

Die meisten Protestierenden wissen, dass sie den Bau des Tiefbahnhofs wohl nicht mehr aufhalten können. Trotzdem protestieren sie weiter, Hunderte, manchmal Tausende. Am 19. September 2016 fand die 339. Montagsdemonstration gegen dieses Projekt statt. Die Veranstalter haben eine Volkshochschule daraus gemacht. Sie informieren über die Risiken bei den Tunnel-Bauten, die horrenden Verteuerungen und die Sicherheitsrisiken des Unternehmens. Und sie gewinnen Architekten und andere Fachleute für gut geplante Alternativ-Konzepte. Sie lassen es sich nicht mehr länger bieten, dass Baufirmen, vor allem Tunnel-Bohrer satte Profite machen zu Lasten der Steuerzahler und dass die Immobilien-Spekulanten, die hinter dem Projekt stehen, ungeschoren davonkommen. Stuttgart 21 stellt eine neue hartnäckige und intelligente Form des Protests dar. Der Protest ist verbunden mit der Forderung nach nachhaltigem Wirtschaftswachstum, nachhaltigen Konsum- und Produktionsmustern und nach sozialer Gerechtigkeit. Damit ist er zugleich eine heftige Kritik an den kapitalistischen Entwicklungsstrategien und Wirtschaftsformen. Die Nachhaltigkeitsforderung stellt den prinzipiell nicht nachhaltigen und asozialen Kapitalismus grundsätzlich in Frage. Sie kratzt nicht nur an ihm; sie ist bis zu einem gewissen Grad ein Gegenmodell, das von der Erkenntnis ausgeht, dass man nicht weiterwirtschaften darf wie bisher. Dieser Protest könnte auch das Ende von größenwahnsinnigen, aus dem Ruder laufenden Großprojekten bedeuten.

Welche Schlüsse Ihr aus diesen Entwicklungen ziehen wollt, bleibt Euch überlassen. Vielen Dank für Eure Geduld.

Veröffentlicht am

27. Oktober 2016

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