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Uri Avnery: Sisyphus’ Triumph

Von Uri Avnery

DAVID BEN-GURION wurde nicht in der Abteilung Große Männer der Nation auf dem Nationalfriedhof in Jerusalem begraben, sondern neben seiner Frau in Sede Boker, der Siedlung im Negev, die er liebte.

Sein Schüler und Nachfolger Schimon Peres wurde nicht neben seiner Frau in Ben Schemen begraben, dem Ort, den sie liebte. Sondern auf dem Grundstück der Großen der Nation.

Das ist der ganze Unterschied.

ICH NAHM am Wirbel um das Begräbnis nicht teil. Alles in allem war es ziemlich lächerlich. Jeder, der ihm einmal die Hand geschüttelt oder ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, fühlte sich verpflichtet, lang und breit über ihn zu schreiben und seine tiefen Einsichten auszudrücken. Das meiste davon war blanker Unsinn.

Ich bin gerne im Fernsehen. Aber dieses Mal lehnte ich Dutzende von Einladungen von Fernsehen, Radio und wer weiß was ab. Ich hatte einfach keine Lust, in den Chor einzustimmen.

Neben allem anderen gab es da ein Paradox: die Hunderte Grabredner, darunter Dutzende aus dem Ausland, sprachen, um einen Mann des Friedens zu preisen. Die ganze Veranstaltung war jedoch ein Propaganda-Triumph der Netanjahu-Regierung, der Regierung der Besetzung.

DIE SINTFLUT von Artikeln über den Verstorbenen erinnerte mich an die alte Geschichte von einer Gruppe blinder Männer, denen ein Elefant über den Weg lief. "Der Elefant ist eine Pfeife", sagte einer, der den Rüssel befühlte. "Der Elefant ist rund und spitz", sagte einer, der die Stoßzähne fasste. "Er ist wie ein Teppich", sagte einer, der die Ohren befühlte und so weiter.

Schimon Peres hatte viele Facetten. Nur alle zusammen machen den realen Mann aus; den sahen die Grabredner nicht. Fast alles, was sie sagten und schrieben, war Unsinn.

Sie alle ignorierten den realen Elefanten, der mitten im Raum stand: die Besetzung.

ALS ER vom Schlag getroffen wurde, schrieb ich einen Artikel. Ich habe mich jetzt entschlossen, ihn mit einigen Ergänzungen, die mir wichtig oder wenigstens interessant erscheinen, noch einmal zu veröffentlichen. Tut mir leid, wenn er ein bisschen lang geraten ist.

Schimon Peres war ein Genie. Ein genialer Poseur.

Sein Leben lang hat er an der Darstellung seiner Person in der Öffentlichkeit gearbeitet. Das Image ersetzte den Menschen. Fast alle Grabreden  handelten von der imaginären Person, nicht von der realen. Der reale Mensch wurde begraben, möge seine Seele in Frieden ruhen. An den imaginären Mann werden sich noch künftige Generationen erinnern.

OBERFLÄCHLICH gesehen, gibt es einige Ähnlichkeiten zwischen ihm und mir.

Er war nur 39 Tage älter als ich. Er kam ein paar Monate nach mir ins Land, als wir beide 10 Jahre alt waren. Ich wurde in das Genossenschaftsdorf Nahalal geschickt. Er wurde in das Landwirtschafts-Jugenddorf Ben Schemen geschickt.

Was wir gemeinsam hatten, waren Optimismus und beständige Aktivität.

Hier enden die Ähnlichkeiten.

ICH KAM aus Deutschland, wo wir eine wohlhabende Familie gewesen waren. In Palästina büßten wir sehr schnell all unser Geld ein. Ich wuchs in äußerster Armut auf. Er kam aus Polen. Seine Familie war auch in Palästina wohlhabend. Ich behielt einen deutschen Akzent. Er behielt einen sehr starken polnischen. Die meisten dachten, sein Akzent sei jiddisch, aber das leugnete er vehement. Damals wurde Jiddisch im Land gehasst und verabscheut.

Schon in seiner Kindheit hatte er etwas an sich, das in der jüdischen Schule seiner kleinen Geburtsstadt den Ärger seiner Mitschüler auf ihn lenkte. Sie verdroschen ihn oft. Sein jüngerer Bruder Gigi verteidigte ihn. Gigi erzählte später, dass Schimon ihn gefragt habe: "Warum hassen sie mich so?"

Das war vielleicht der Ursprung davon, dass er sich sein Leben lang nach Liebe, Bewunderung und Verehrung von Menschen sehnte. 

In Ben Schemen hieß er noch Persky. Einer seiner Lehrer empfahl ihm, einen hebräischen Namen anzunehmen, wie wir es damals fast alle taten. Er schlug den Namen Ben Amoz, den Beinamen des Propheten Jesaja, vor, aber diesen Namen schnappte ihm sein Mitschüler Musia Tehilimsager, der dann auch als Dan Ben-Amoz berühmt werden sollte, vor der Nase weg. Da schlug ihm der Lehrer den Namen des großen Vogels Peres vor. In einer anderen Geschichte heißt es, dass Schimon auf einer Wanderung im Negev einen Geier sah und dessen Namen annahm.

ZUM ERSTEN MAL trafen wir uns, als wir 30 Jahre alt waren. Er war schon Generaldirektor des Verteidigungsministeriums, ich war Chefredakteur einer Zeitschrift, die das Land verstimmte.

Er lud mich ins Ministerium ein, um von mir zu verlangen, ich solle einen investigativen Artikel nicht veröffentlichen (über das Versenken eines Schiffes mit illegalen Flüchtlingen im Hafen von Haifa durch die Hagana vor der Gründung Israels). Unsere Begegnung war eine Geschichte gegenseitiger Abneigung auf den ersten Blick. Er mochte mich nicht. Ich mochte ihn überhaupt nicht.

Ich mochte ihn schon vor der Begegnung nicht. Im Krieg von 1948 (dem "Unabhängigkeitskrieg") gehörte ich zu einer Kommando-Einheit. Alle Kampfsoldaten in diesem Krieg verabscheuten alle die Mitglieder unserer Altersgruppe, die sich auslebten, während überall um uns herum die Kameraden fielen.

Einer von denen, die nicht dienten, war Schimon Peres. David Ben-Gurion schickte ihn ins Ausland, um dort Waffen zu kaufen. Das war eine wichtige Aufgabe - aber eine, die ein 60jähriger ebenso gut hätte erledigen können.

Diese Tatsache hing sehr lange wie eine Wolke über seinem Kopf. Sie erklärt, warum Angehörige seiner Altersgruppe ihn verabscheuten und warum sie Jitzchak Rabin, Jigal Alon und deren Kameraden liebten. Der Dichter der Eliteeinheit Palmach schrieb ein Lied über ihn: "Wie ist es der Wanze gelungen, so hoch zu steigen?"

SCHIMON PERES war seit seiner Kindheit Politiker - ein wahrer Politiker, ein vollkommener Politiker, ein Politiker und weiter nichts. Keine anderen Interessen, keine Hobbys.

Es fing schon in Ben Schemen an. Peres war dort ein Außenseiter, ein Neueinwanderer, der anders als all die sonnenverbrannten athletischen einheimischen Jungen war. Sein unschönes Gesicht und sein starker Akzent machten die Sache nicht besser. Trotzdem fand ihn Sonja, die Tochter des Tischlereilehrers, anziehend und wurde seine Frau.

Er lechzte von ganzem Herzen danach, als "einer aus der Gang" angesehen zu werden. Deshalb trat er der Jugendorganisation der allmächtigen Gewerkschaft Histadrut "Arbeitsjugend" bei und wurde mit der ganzen riesigen Energie, die er schon damals besaß, dort aktiv. Da die in Israel aufgewachsenen Jungen, die Sabras, politische Aktivität nicht mochten, stieg Peres in ihren Reihen auf und wurde schon bald Ausbilder.

Die erste Gelegenheit kam für ihn, nachdem er seine Ausbildung in Ben Schemen abgeschlossen hatte und in einen Kibbuz der Arbeitspartei (Mapai) eintrat. Mapai regierte die jüdische Gemeinschaft mit eiserner Faust. Die Partei spaltete sich auf und ebenso die Jugendorganisation. Fast alle jungen Führer traten "Fraktion B", der Oppositionsgruppe, bei. Peres war fast der Einzige, der der Haupt-Fraktion die Treue hielt. Auf diese Weise zog er die Aufmerksamkeit der Partei-Führer und besonders Levi Eschkols auf sich.

Es war eine glänzende politische Taktik. Seine einstmaligen Kameraden verachteten ihn, aber nun stand er mit der Spitze der Parteiführung in Verbindung. Eschkol machte Ben-Gurion auf ihn aufmerksam, und als 1948 der Krieg ausbrach, schickte ihn der Leiter in die USA, um dort Waffen zu kaufen.

Von da an war Peres Ben Gurions rechte Hand, bewunderte ihn und - was besonders wichtig war - wurde sein politischer Nachfolger.

Im Wirbel der Grabreden wurde Peres "der letzte der Gründer Israels" genannt. Das ist vollkommener Unsinn. Der Staat wurde von den Soldaten von 1948 gegründet, von den getöteten, den verwundeten und ihren Kameraden. Nicht in irgendeinem Büro in Tel Aviv, sondern auf den Schlachtfeldern von Negba und Latrun. Ben-Gurion und die Politiker prägten den Staat und nicht zum Besseren. Peres war nur ein Junior-Assistent.

BEN-GURION PRÄGTE dem neuen Staat seinen politischen Stempel auf und man kann sagen, dass der Staat sich noch heute in eben den Gleisen bewegt, die er legte. Peres war einer seiner Haupthelfer.

Ben-Gurion glaubte nicht an Frieden. Seine Ansichten gründeten sich auf die Annahme, dass die Araber niemals Frieden mit dem jüdischen Staat schließen würden, denn der war schließlich auf dem Land erbaut, das einmal ihnen gehört hatte. Es würde keinen Frieden geben, jedenfalls viele künftige Generationen lang nicht, wenn überhaupt. Darum brauchte der neue Staat eine starke Westmacht als Verbündeten. Die Logik schrieb vor, dass ein solcher Verbündeter nur aus den Reihen der imperialistischen Mächte kommen könne, die den arabischen Nationalismus fürchteten.

Es war ein Teufelskreis: (1) Um sich gegen die Araber zu verteidigen, brauchte Israel einen kolonialistischen anti-arabischen Verbündeten. (2) Eine solche Allianz würde den Hass der Araber auf Israel nur verstärken. (3) Und so weiter bis zum heutigen Tag.

Der erste in Aussicht stehende Verbündete war Britannien, der Urheber der "Balfour-Deklaration". Aber das wurde nichts: Die Briten zogen den arabischen Nationalismus vor. Im richtigen Augenblick erschien jedoch ein anderer möglicher Verbündeter auf der Bildfläche: Frankreich.

Die Franzosen hatten in Afrika ein ausgedehntes Imperium. Algerien, das offiziell ein französisches Département war, erhob sich 1954. Beide Seiten kämpften mit äußerster Grausamkeit.

Die Franzosen konnten es nicht fassen, dass ihre Algerier sich gegen sie erheben würden, und schoben die Schuld auf den neuen Führer, der in Kairo an die Macht gekommen war. Aber kein Land war bereit, ihnen bei ihrem "schmutzigen Krieg" beizustehen. Keines außer einem: Israel.

Ben-Gurion wurde schon alt und fürchtete sich vor dem neuen panarabischen Führer Gamal Abd-al-Nasser, der im Begriff war, die arabische Welt zu einen. "Nasser" war jung, voller Energie, sah gut aus und hatte Charisma. Er war ein mitreißender Redner und ganz anders als die alten arabischen Honoratioren, die Ben-Gurion gewohnt war. Als "Nasser" die algerischen Freiheitskämpfer unterstützte und die Franzosen Israel die Hand hinstreckten, ergriff Ben-Gurion sie mit großem Eifer.

Es war wieder der alte Teufelskreis: (1) Israel unterstützte die Franzosen bei ihrer Unterdrückung der Araber, (2) der Hass der Araber auf Israel nahm zu und (3) Israel brauchte daher die kolonialen Unterdrücker umso mehr.

Vergeblich warnte ich vor diesem verhängnisvollen Prozess. Als Abd-al-Nasser an die Macht kam, zeigte er Bereitschaft zu Gesprächen mit Israel. Er lud einen meiner Freunde, einen hochrangigen ehemaligen Armeeoffizier ein, den er im Krieg von 1948 kennengelernt hatte, zu einem geheimen Besuch nach Kairo ein. Außenminister Mosche Scharett verbot ihm, nach Kairo zu fahren. Ich glaube, dass damals eine historische Gelegenheit verpasst wurde. Israel tat das Gegenteil.

Ben-Gurions Abgesandter nach Frankreich war Schimon Peres. Der junge Mann, der schlecht französisch sprach und einen schlecht sitzenden blauen Anzug trug, wurde in Paris zu einer vertrauten Gestalt. Mit seiner Hilfe erreichte der Prozess nie erträumte Höhen. Zum Beispiel: Als die UN über den Vorschlag debattierten, die Haftbedingungen des algerischen Führers Ahmed Ben Bella in Frankreich zu verbessern, war Israel das einzige Land in den UN, das dagegen stimmte. (Die Franzosen selbst boykottierten das Treffen.)

Diese unheilige Allianz erreichte 1956 im Suez-Krieg ihren Höhepunkt. Damals griffen Frankreich, Britannien und Israel gemeinsam Ägypten an. Diese Operation wurde weltweit einmütig verurteilt; die USA und Sowjetrussland machten gemeinsame Sache und die drei Verschwörer mussten sich zurückziehen. Israel musste die ganze große Sinai-Halbinsel zurückgeben.

Damals gründete ich den "Israelischen Rat für ein freies Algerien". Ich traf mich mit Mitgliedern der "provisorischen algerischen Regierung". Diese wollten, dass wir die algerischen Juden überzeugten, dass sie, nachdem ihre Heimat unabhängig geworden war, dort blieben.

Die Franzosen riefen Charles de Gaulle noch einmal zurück an die Macht und ihm war klar, dass er dem sinnlosen Krieg ein Ende machen musste. Peres pries die Allianz weiterhin, die, so verkündete er, nicht bloß auf Interessen, sondern auf tiefempfundenen gemeinsamen Werten beruhe. Er veröffentlichte diese Rede Satz für Satz und ich widerlegte sie Satz für Satz. Ich sagte voraus, dass Frankreich, wenn der Krieg in Algerien erst einmal vorüber sei, Israel wie eine heiße Kartoffel fallen lassen und seine Verbindungen mit der arabischen Welt wieder anknüpfen werde. Und eben das geschah dann natürlich auch. (Israel nahm anstelle Frankreichs die USA.)

Bevor Frankreich Algerien verließ, gründeten die französischen Siedler die Untergrundbewegung OAS gegen die Freiheitskämpfer und gegen de Gaulle. Damals wurde ein Schiff voller Waffen auf hoher See entdeckt. Es fand sich, dass das Schiff auf dem Weg zu den algerischen Siedlern war. Alle hatten Peres in Verdacht. Außenministerin Golda Meir, die Peres ohnehin hasste, war wütend. Damals lieferte Peres’ Verteidigungsministerium Waffen an viele der schmutzigsten Diktaturen auf der Erde.

Eine der Früchte des Suez-Abenteuers war der Atomreaktor in Dimona. In Israel hält sich die unaustilgbare Legende, dass Peres "der Vater der Bombe" sei.

In Wirklichkeit gehörte der Reaktor zum Preis Frankreichs für den unschätzbar wertvollen Dienst, den Israel Frankreich im Suez-Krieg erwiesen hatte. Er gab auch der französischen Industrie Aufschwung. Einige der notwendigen Materialien wurden durch Diebstahl und Betrug von vielen Orten zusammengeholt.

Alles in allem schadete Israel seine Verstrickung mit Frankreich. Die Kluft zwischen Israel und der arabischen Welt wurde abgrundtief. 

(Im Unterschied zu meinen Freunden im israelischen Friedenslager habe ich mich niemals gegen Israels Atomwaffen ausgesprochen. Die Bombe könnte den Israelis ein Gefühl von Sicherheit geben, das als Dach für die Friedensbemühungen dienen könnte. Ich habe Peres nie für die Rolle, die er bei dieser Sache gespielt hatte, angegriffen.)

PERES’ Karriere erinnert an die Sage von Sisyphus aus der griechischen Mythologie. Er war von den Göttern verdammt worden, einen schweren Felsbrocken auf einen Berg zu wuchten, und jedes Mal, wenn er seinem Ziel nahe war, glitt ihm der Felsbrocken aus den Händen und stürzte den Berg wieder runter.

Nach dem Sinai-Krieg erreichte Peres’ Schicksalslinie neue Höhen. Der "Architekt der Beziehungen zu Frankreich", "der Mann, der den Atomreaktor bekommen hatte", wurde zum Stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt und er war auf dem besten Weg, ein bedeutendes Kabinettsmitglied zu werden, als plötzlich alles zusammenbrach. Ben-Gurion wollte unbedingt eine abscheuliche Sabotage-Affäre in Ägypten aufdecken und seine Kollegen setzten ihn daraufhin ab. Er bestand darauf, die neue Partei Rafi zu gründen. Peres war, ebenso wie Mosche Dajan, sehr zu ihrer beider Missvergnügen gezwungen, ihr beizutreten. Ben Gurion bestimmte über ihr Leben.

Ben-Gurion war nicht aktiv, Dayan tat wie gewöhnlich nichts und so blieb es an Peres hängen, den Wahlkampf zu führen. Mit seiner wie gewöhnlich unermüdlichen Energie pflügte er das Land um, aber bei den Wahlen gewann die Partei trotz allen ihren glänzenden Stars nur 10 Sitze in der Knesset mit ihren 120 Abgeordneten und ging in die  ohnmächtige Opposition. Peres’ Felsbrocken stürzte den Berg runter.

Und dann kam die Wiedergutmachung - jedenfalls fast. Abd-al-Nasser schickte seine Armee auf die Sinaihalbinsel, in Israel brach Panik aus. Die Rafi-Partei trat der Notstands-Regierung bei. Peres erwartete, zum Verteidigungsminister ernannt zu werden, aber im letzten Augenblick bekam der charismatische Dajan das begehrte Amt. Israel gewann in sechs Tagen einen durchschlagenden Sieg und der Mann mit der schwarzen Augenklappe wurde zur Weltberühmtheit. Der arme Peres musste sich mit einem geringeren Ministerium zufriedengeben. Wieder war der Felsbrocken ganz unten.

Rafi schloss sich erneut der Arbeitspartei an. Als ich Peres in der Knesset traf, fragte ich ihn, wie er sich fühle. "Ich will mit einem Witz antworten", antwortete er. "Ein Mann heiratet und seine Kollegen fragen ihn nach seiner Frau. ‚Es ist eine Geschmacksfrage’, antwortete der Mann, ‚sie ist nicht nach meinem Geschmack.’"

Sechs Jahre lang schmachtete Peres, während sich Dajan in der Bewunderung der Männer und noch mehr der Frauen der Welt sonnte. Und dann wandte sich ihm das Glück wieder zu. Am Jom Kippur  überquerten die Ägypter den Suez-Kanal und gewannen einen unglaublichen Anfangssieg, Dajan zerbröckelte wie ein Götzenbild aus ungebranntem Ton. Einige Zeit später waren sowohl Golda Meir als auch Dajan gezwungen zurückzutreten.

Und wer folgte Golda als Ministerpräsident? Peres war eindeutig der Kandidat für dieses Amt. Er hatte nichts mit den Fehlern zu tun, die zu dem Krieg geführt hatten. Er war Verteidigungsexperte. Er war jung und vielversprechend. Der Felsbrocken näherte sich dem Gipfel des Berges, als wieder etwas Unglaubliches geschah: Aus dem Nichts tauchte Jitzchak Rabin auf, der im Land geborene Junge, der Sieger des Sechs-Tage-Krieges. Er schnappte Peres die Krone genau vor der Nase weg. Aber er war gezwungen, Peres, den er nicht mochte, zum Verteidigungsminister zu ernennen. Der Felsbrocken war wieder zur Hälfte oben.

Die folgenden Jahre waren für Rabin die Hölle. Der Verteidigungsminister hatte nur ein Ziel im Leben: den Ministerpräsidenten zu schwächen. Das wurde zu einer Vollzeitbeschäftigung.

Die Feindschaft zwischen den beiden, die im Krieg von 1948 ihren Anfang genommen hatte, verwandelte sich in regelrechten Hass. Rabin hatte seine Freude an Peres’ Misserfolgen. Zum Beispiel: Als Verteidigungsminister war Peres für die besetzten Gebiete zuständig. Eines Tages ordnete er Wahlen für die Stadtgemeinden an. Er war sicher, dass harmlose alte Honoratioren gewählt würden. Aber stattdessen wählten die Palästinenser junge Pro-PLO-Aktivisten. Als ich Rabin zufällig am folgenden Tag besuchte, feierte er das.

Hauptsächlich um Rabin zu kränken, tat Peres etwas von historischer Bedeutung: Er schuf die ersten israelischen Siedlungen mitten im besetzten Westjordanland. Damit setzte er einen Prozess in Gang, der jetzt Israels Zukunft bedroht. Bis dahin wurden Siedlungen nur an den Rändern des Westjordanlandes gebaut. Kein Wunder, dass die Siedler bei Peres’ Beerdigung sein Loblied sangen.

Das geschah nicht zufällig. Schon am Tag nach der Besetzung, als ich dazu aufrief, sofort einen palästinensischen Staat zu gründen, stand  Peres einer neuen Organisation mit dem Namen "Das ganze Eretz-Israel" nahe. Diese befürwortete die Annektierung aller besetzten Gebiete durch Israel.

Wütend, wie er war, gab Rabin ihm den Spitznamen, der ihm seitdem anhaftet: "Der unermüdliche Intrigant".

1976 wurde beschlossen, auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda eine sehr gefährliche Operation zu unternehmen, um die entführten Geiseln zu befreien, zu denen viele Israelis gehörten. Sofort erhob sich der Streit darum, wem das Verdienst dafür zukam. Peres erhob den Anspruch, es sei sein Erfolg, da die wagehalsigen Pläne in seinem Ministerium ausgearbeitet worden seien. Rabins Bewunderer bestanden darauf, dass er die Entscheidung dafür getroffen und in aller Offenheit selbst die Verantwortung dafür übernommen habe.

Das wirft übrigens ein Licht auf eine wichtige Tatsache: Peres funktionierte immer dann am besten, wenn er die Nummer 2 war. Bei Ben-Gurion war er die Nummer 2 in der französischen Affäre. Er war in Entebbe die Nummer 2 und später in Oslo.

Ein Jahr darauf musste Rabin vorgezogene Wahlen anberaumen, weil Kampfflugzeuge, die die USA geliefert hatten, an einem Freitag in Israel ankamen und es für die Ehrengäste zu spät wurde, nach Hause zu kommen, ohne den Sabbat zu entweihen. Die religiösen Parteien rebellierten. Rabin führte natürlich die Parteiliste an.

Dann geschah etwas. Es kam ans Licht, dass Rabin, nachdem er den Posten des Botschafters in den USA verlassen hatte und bevor er Ministerpräsident geworden war, ein Bankkonto in Amerika zurückgelassen hatte - etwas, das damals verboten war. Rabins Frau wurde beschuldigt, Rabin nahm die Schuld auf sich und trat zurück, Peres wurde die Nummer 1 auf der Liste und endlich näherte sich der Felsbrocken dem Gipfel des Berges.

Am Abend des Wahltages feierte Peres bereits seinen Sieg, als das Unglaubliche geschah: Menachem Begin, den viele als Faschisten betrachteten, hatte gewonnen. Der Felsbrocken stürzte ab.

AM VORABEND des Libanon-Krieges von 1982 (in dessen Verlauf ich mich mit Jasser Arafat traf) gingen der Oppositionsführer Peres und Rabin Begin besuchen und forderten ihn auf, in den Libanon einzumarschieren.

Der Krieg endete mit dem Massaker von Sabra und Schatila und Begin verfiel in eine tiefe Depression. Sein Amtsnachfolger wurde ein weiterer ehemaliger Terrorist, Jitzchak Schamir. Es folgte so etwas wie ein Interregnum, während dessen keine der beiden großen Parteien alleine regieren konnte. Ein Rotations-Schema mit zwei Spitzen entwickelte sich. Bei einer seiner Aufgaben als Ministerpräsident gewann Peres unbestritten Lorbeeren als derjenige, der Israels dreistellige Inflation besiegte und den neuen Schekel einführte, der noch heute unsere Währung ist.

Der Felsbrocken stieg gerade wieder in die Höhe, als etwas sehr Hässliches geschah. Vier arabische Jungen entführten einen vollbesetzten Bus und fuhren damit nach Süden. Der Bus wurde gestürmt. Die Regierung versicherte, dass alle vier Entführer im Kampf getötet worden seien, aber dann veröffentlichte ich ein Foto, auf dem zu sehen war, dass zwei von ihnen lebend gefangen genommen worden waren. Es kam ans Licht, dass sie kaltblütig vom Geheimdienst hingerichtet worden waren.

Mitten in dieser Affäre trat Peres Schamirs Nachfolge an, worauf man sich zuvor geeinigt hatte. Peres begnadigte alle Mörder, darunter den Chef von Schin Bet.

RABIN ÜBERNAHM wieder die Macht und Peres wurde Außenminister. Eines Tages wollte Peres mich sehen. Das war ungewöhnlich, da die Feindschaft zwischen uns schon sprichwörtlich geworden war.

Peres hielt mir eine Vorlesung über die Notwendigkeit, Frieden mit der PLO zu schließen. Da dies seit vielen Jahren das Hauptziel meines Lebens war, konnte ich mich kaum eines Lachens erwehren. Dann erzählte er mir im Geheimen von den Verhandlungen in Oslo und bat mich, meinen Einfluss zu nutzen, um Rabin zu überzeugen.

Peres hatte also gewiss einen Anteil an der Vereinbarung, aber es war Rabin, der die folgenreiche Entscheidung traf - und dafür mit dem Leben bezahlte.

Ich stelle mir vor, wie der Mörder mit der geladenen Pistole am Fuße der Treppe wartete, Peres ein paar Schritte entfernt vorübergehen ließ und auf Rabin wartete, der ein paar Minuten später die Treppe runterkam.

Das Nobelpreis-Komitee beschloss zuerst, Arafat und Rabin mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen. Peres’ Bewunderer in aller Welt setzten Himmel und Hölle in Bewegung, bis das Komitee Peres Namen der Liste hinzufügte. Die Gerechtigkeit hätte gefordert, dass auch Mahmoud Abbas ausgezeichnet worden wäre, der gemeinsam mit Peres unterschrieben hatte. Aber die Statuten lassen nur drei Preisträger zu. Deshalb wurde Abbas kein Nobelpreisträger. Er protestierte nicht dagegen. 

Nach Rabins Tod wurde Peres vorläufiger Ministerpräsident. Wenn er sofort Wahlen ausgeschrieben hätte, hätte er einen erdrutschartigen Sieg errungen. Aber Peres wollte nicht an den Rockschößen eines Toten hängen. Er wollte aufgrund seiner eigenen Verdienste gewinnen. Er verschob die Wahlen um einige Monate.

Das war die große Gelegenheit seines Lebens. Endlich war er Ministerpräsident und konnte selbst Entscheidungen treffen. Es war eine Katastrophe.

Zuerst gab er Befehl, den "Ingenieur", einen berühmten palästinensischen Kämpfer ("Terroristen"), zu töten. Die Folge war, dass im ganzen Land Busse in die Luft gesprengt wurden. Dann marschierte er im Libanon ein. Die Operation endete mit dem schrecklichen (unabsichtlichen) Massaker in Kafr Kanna.

Die darauf folgenden Wahlen verlor er an Benjamin Netanjahu.

(Das veranlasste mich zu dem Scherz: "Wenn eine Wahl verloren werden kann, wird Peres sie verlieren. Wenn eine Wahl nicht verloren werden kann, wird Peres sie trotzdem verlieren.")

ICH HABE Peres nie gehasst. Ich glaube, dass auch er mich nicht hasste. Die Feindschaft zwischen uns war rein politisch.

Von Zeit zu Zeit liefen wir einander über den Weg. Einmal luden der berühmte Dirigent Zubin Mehta und seine Frau meine Frau und mich zum Abendessen in sein Haus ein. Als wir dort ankamen, überraschte uns die Entdeckung, dass außer uns nur noch Schimon Peres und seine Frau Sonja dort waren. Es war ein interessanter Abend. Peres erwies sich als amüsanter Unterhalter voller sardonischem Humor. Er beschrieb lang und breit ein Treffen des Kabinetts mit Henry Kissinger. Dabei stellte er nacheinander das Verhalten eines und des anderen Ministers dar: Ein Minister verbrachte das Treffen damit, sich die Fingernägel sauberzumachen, ein anderer aß die ganze Zeit über und so weiter.

Eine der Legenden, die keine Mühe hatte, sich zu verbreiten, war, dass er ein eifriger Leser gewesen sei, der alle wichtigen Bücher sofort nach Erscheinen las. Die New York Times feierte ihn als "Politiker-Philosoph". Die Wahrheit ist, dass er überhaupt keine Bücher las. Sein enger Assistant Boas Appelboim teilte mit, dass es seine Aufgabe gewesen sei, Bücher zu lesen und eine kurze Zusammenfassung für Peres herzustellen. Er sollte ein oder zwei Zitate hinzufügen, die es Peres ermöglichen würden, in einem Gespräch eine kenntnisreiche Bemerkung fallenzulassen. Das machte dann tiefen Eindruck.

Das wird durch eine einfache Beobachtung bestätigt. Wenn jemand Bücher liest, spiegelt sich das auf die eine oder andere Weise in seinen Äußerungen wider. In Peres’ unzähligen Reden ist nichts dergleichen zu entdecken. Alle seine Reden waren politisch, flach und trocken.

(Tatsächlich hat kein aktiver Politiker Zeit zum Lesen. Auch Peres’ Mentor Ben-Gurion tat immer so, als wäre er ein Mann des Buches, ein Bibel-Kommentator und Erneuerer der hebräischen Sprache. Er erzählte uns, er habe Spanisch mit dem einzigen Zweck gelernt, den Don Quijote im Original zu lesen. Auch Ben-Gurion war Politiker - ein politisches Genie, aber nichts außer Politiker.)

Eine von Peres’ wirklichen Begabungen war seine Fähigkeit, kluge Redewendungen zu prägen. Es gibt Hunderte davon, vom "neuen Mittleren Osten", einer Redewendung, der jede Substanz abgeht, bis zum "schweinischen Kapitalismus", einer Redewendung, die ihn nicht davon abhielt, sich mit den Reichen der Welt zu verbrüdern.

WÄHREND seiner Wahlkämpfe wurde Peres verflucht und beschimpft. Die Leute warfen faule Tomaten nach ihm. Einmal beschwerte er sich über "ein Meer von (obszönen) Gesten der Orientalen". Das machte ihn bei den Bürgern orientalischer Herkunft noch unbeliebter.

In dieser Zeit tat Peres etwas Kluges: Er unterzog sich einer Schönheitsoperation. Sein Aussehen verbesserte sich in bemerkenswerter Weise.

Die endgültige Schmach erlitt Peres, als er sich für das Amt des Staatspräsidenten zur Wahl stellte. Der Präsident ist ein Repräsentant ohne wirkliche Macht und wird von der Knesset gewählt. Doch Peres verlor gegen eine Person ohne jegliche Bedeutung, einen Mitläufer der Likud-Partei mit Namen Mosche Katzav. Das schien eine endgültige Kränkung zu sein.

Aber wieder geschah das Unglaubliche. Mosche Katzav wurde verhaftet und wegen Vergewaltigung verurteilt. In der folgenden Wahl wählte die Knesset Peres in etwas wie einem Anfall kollektiver Reue.

Der Felsbrocken war auf dem Gipfel des Berges angekommen. Schließlich hat Sisyphus mit seiner unermüdlichen Energie gewonnen. Der lebenslange Politiker, der niemals eine Wahl gewonnen hatte, war nun Präsident - und über Nacht wurde er unglaublich beliebt, der Liebling der Massen. Es war ein Wunder.

Er nutzte seine neue weltweite Berühmtheit dazu, Netanjahus Regierung und dessen Politik der Besetzung und Unterdrückung als Feigenblatt zu dienen. Währenddessen wurde er im Ausland als Mann des Friedens verehrt.

Peres waren einige Jahre vergönnt, die neu gewonnene Liebe des Volkes zu genießen, die zu gewinnen sein ganzes Leben hindurch sein Ziel gewesen war. Und dann erlitt er einen Schlaganfall.

Sein Begräbnis wurde zu einer nationalen und internationalen Veranstaltung erster Klasse. Peres wurde zu einem der großen Männer der Welt gekrönt, zum ultimativen Mann des Friedens, zum Gründer des Staates Israel und zum großen Denker. Er hätte eine Figur in einem Shakespeare-Drama sein können.

Sisyphus wurde begraben. Aber der Felsbrocken bleibt oben auf dem Berg.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

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Veröffentlicht am

08. Oktober 2016

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