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Konstantin Wecker: Jetzt nicht Flüchtlinge bekämpfen, sondern dieses System

Auch Konstantin Wecker hat der Anschlag in seiner Heimatstadt München erschüttert. Aber seine Schlussfolgerungen sind andere: Versuchen wir uns einzufühlen, selbst in die Täter, denn nur aus Verstehen können Strategien erwachsen, die dergleichen künftig vielleicht verhindern. Lassen wir uns von der Unmenschlichkeit in der Welt nicht unsere eigene Menschlichkeit verdunkeln! Bekämpfen wir jetzt nicht unschuldige Flüchtlinge, sondern ein schuldiges System, das auf Menschen einen unerträglichen Druck ausübt! Und betrachten wir die Anschläge, so schlimm sie sind, in den richtigen Größenverhältnissen - denn wie viele Menschen sterben durch die Kriege, Drohnenangriffe und die Massenverelendungspolitik der "Guten"? Wenn es schon kaum mehr zu verhindern sein wird, dass die öffentliche Meinung im Sinne posthumanistischer Härte "umgedreht" wird, müssen wir wenigstens verhindern, dass dieser Ungeist bis in unsere Seelen hineinweht und sie deformiert.

Von Konstantin Wecker

Liebe Freunde,

gerade schrieb mir mein Freund Roland Rottenfußer, der Redakteur meines Webmagazins "Hinter den Schlagzeilen":

"Es ist schwer, sich derzeit nicht in eine ‘politische Depression’ hineinsinken zu lassen, auch in eine Ratlosigkeit, die zur Lähmung führt. Trotzdem geht alles weiter, draußen springt einen das Blühen an, und ich lese so viele besonnene Aussagen guter und vernünftiger Menschen. Es ist so wichtig, sich in allem die Mühe differenzierter Betrachtung zu machen und sehr entschlossen, ja stur, an seiner eigenen Menschlichkeit festzuhalten, an den Bürgerrechten und an einfachen Erkenntnissen, die heute nicht weniger wahr sind als früher: etwa dass man die Tat des einen ‘Ausländers’ nicht allen anderen anlastet."

Auch ich hatte für Momente bei den Nachrichten über Amok laufende Flüchtlinge das Gefühl, diese fallen mir in den Rücken bei meinen Versuchen, öffentlich für ihre Rechte einzutreten. Aber dies gilt, wenn überhaupt, nur für diese wenigen. Alle anderen brauchen weiterhin unseren Schutz, unser Verständnis, unsere Willkommenskultur. Wir dürfen von den Errungenschaften nicht lassen, die uns die ‘milde’ Nachkriegszeit gelehrt hat: bei Verbrechen geduldig nach den Ursachen zu suchen - auch solchen gesamtgesellschaftlicher Natur, Heilung eher als Strafe und Härte anzustreben und immer nur den Einzelmenschen zu bewerten, nicht Kollektive. Diese Erkenntnisse sind heute nicht weniger wahr als gestern, wir dürfen sie nicht dem schärferen Wind opfern, der uns vielleicht jetzt ins Gesicht bläst.

Selbstverständlich kann ich den ungeheuren Schmerz nachfühlen, den Verwandte und Freunde ermordeter Menschen empfinden. Darüber hinaus aber sollte man sich, als nicht direkt Betroffener, Gedanken machen. Zwei junge Menschen - einer davon, der Münchner Attentäter fast noch ein Kind - nehmen sich das Leben und beschließen andere mit in den Tod zu reißen. Wie groß muss die Verzweiflung sein, die jemanden zu so einer schrecklichen Tat veranlasst? Der eine ein von Mitschülern gehänseltes und ausgeschlossenes Kind, der andere ein abgelehnter Asylbewerber, der wohl alle Hoffnung verloren hat im Land seiner Träume Fuß zu fassen.

Auf unglaublich ekelhafte Weise versuchen nun gewissenlose Populisten, das für ihre eigenen abstrusen Ideologien auszuschlachten. Udo Ulfkotte, der David S. penetrant als Ali S. bezeichnet, macht auf der Seite des rechten Verschwörungsverlages Kopp schamlos Werbung für sein neues Buch und erkennt auf einem im Fernsehen gezeigten Video angeblich, dass der Schiit Ali türkische Sunniten hasse, die ihn "gemobbt" hätten. Und schon wird aus einer ausländerfeindlichen Tat prompt ein islamistischer Anschlag.

Mitglieder des pegidanahen BDP (Bündnis Deutscher Patrioten) schändeten mit dem Hissen ihrer Fahne die Gedenkstätte der Opfer. Auf Twitter und Facebook waren Postings der AfD und von Pegida zu lesen, die jedem fühlenden Wesen die Schamesröte ins Gesicht steigen ließen. So postete doch wahrhaftig ein AfDler eine Stunde nach den Morden in München: "Jetzt AfD wählen."

Liebe Freunde, mir ist bewusst, dass ich mit den folgenden Überlegungen bei einigen Menschen anecken werde, aber es haben nicht nur die Eltern der Opfer ein Kind verloren. Auch die Eltern des Täters. Wie werden sie jemals damit leben können? Und ich kann und werde mich eines Einfühlens in diese verirrten, verzweifelten und geistig verwirrten jungen Männer nicht erwehren.

"Das Phänomen Selbstmord breitet sich aus wie eine Epidemie und zwar als Folge des gesellschaftlichen Drucks, emotionaler Verarmung und aufgrund des unablässigen Angriffs auf unsere Aufmerksamkeit", schreibt Franco Berardi. Und weiter: "Der Weltgesundheitsorganisation zufolge ist die Selbstmordrate in den letzten 45 Jahren weltweit um 60 Prozent gestiegen (…) Es ist vielleicht kein Zufall, dass während ebendieser 45 Jahre überall auf der Welt das kapitalistische Modell weitestgehend vollständig durchgesetzt und unsere gesamte Aufmerksamkeit dem Rhythmus der ökonomischen Maschine vollständig unterworfen wurde."

Wir dürfen uns nicht instrumentalisieren lassen. Was in München passierte, ist schrecklich, aber es ist nur ein minimaler Teil des Schreckens, den die westlichen Mächte mit ihren ökonomischen Erpressungen und ihrem Staatsterrorismus im Irak, Afghanistan, Syrien und in vielen anderen Ländern mehr verursacht und verbreitet haben.

"Es ist immer einfacher, die Schuld dem IS oder unerklärlicher Geisteskrankheit anzulasten. Es ist immer unbequemer, sich vielleicht tiefer gehende, weniger offensichtliche, weniger klar beweisbare Ursachen anzuschauen: die Kriegspolitik des Westens, die Asylpolitik, die junge Menschen über Monate in einer Situation der Bewegungs- und Machtlosigkeit festhält, der unerträgliche Druck, der auf Schülern heute lastet… Bestimmte Kräfte warten doch nur darauf, den Umbau zuvor freier Gesellschaften in Polizei-, Überwachungs- und Angstgesellschaften bei jedem gegebenen Anlass voranzutreiben. Wir dürfen ihnen das nicht durchgehen lassen." (Rottenfußer)

Nein und nochmals nein: es sind nicht die "Ausländer", die "Araber", die "Afrikaner", die "Neger", die "Moslems" die uns diese Welt zu einer unsicheren, unmenschlichen, oft unerträglichen Heimat machen. Es ist ein gnadenloses System, das die Gesellschaft zum blinden Gehorsam gegenüber der Finanzakkumulation zwingt. Das gilt es zu bekämpfen, nicht die Flüchtigen, nicht diejenigen, die noch unsicherer und ärmer sind als wir.

Thomas Mann schrieb im Exil über seine "Trauer über den Abfall der Epoche vom Humanen". Diese Trauer kann uns Heutige jetzt wieder ergreifen, wir dürfen uns von ihr aber nicht lähmen lassen.

Unsere revolutionäre Antwort auf diesen Abfall vom Humanen, den Verlust des Humanismus kann nur die Zärtlichkeit sein.

Die Waffen sind im Besitz der Herrschenden.

Unsere Waffe muss die Umarmung sein.

Und die Freude am Leben.

Weiterhin.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 27.07.2016.

Veröffentlicht am

28. Juli 2016

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