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Amoklauf: Fenster der Verwundbarkeit

Nicht nur die polizeiliche Reaktion auf den Gewaltakt in einem Münchner Einkaufzentrum zeigt, wie sehr Deutschland längst im Anti-Terror-Modus lebt

Von Lutz Herden

Eine Großstadt wird für einen Abend und fast eine ganze Nacht stillgelegt. Nach dem Amoklauf eines jungen Deutsch-Iraners, wie die Polizei ermittelt hat, ist das öffentliche Leben vollends unterbrochen. Weder nach der Geiselnahme israelischer Sportler bei den Olympischen Sommerspielen im Jahr 1972 noch beim Attentat auf das Münchner Oktoberfest Ende September 1980 hat es eine derart drastische Reaktion gegeben, die eine ganze Stadt dem vorübergehenden Ausnahmezustand unterwirft. Es gab zehn Todesopfer inklusive des Täters, der sich selbst erschossen haben soll.

Die Polizei ist rings um das Olympia-Einkaufszentrum zu keinem Großeinsatz schlechthin ausgerückt - sie schaltete sofort in den Anti-Terror-Modus um. Der Deutschland oft prophezeite große Anschlag mit vielen Opfern liegt so lange schon in der Luft, dass es offenkundig kein anderes Handlungsmuster mehr geben kann. Es wird dem herrschenden Zeitgeist und -gefühl gerecht, in Worst-Case-Szenarien zu denken. Sie suchen den Abgleich mit den Terroranschlägen, wie sie Madrid 2004, London 2005, Paris 2015 und Brüssel 2016 - und wie oft Bagdad oder andere irakische Städte? - heimsuchten.

Gesetz der Serie?

Damit ist die Dimension vorgegeben, wie auf Gewaltverbrechen reagiert wird, die einen terroristischen Hintergrund haben können, aber nicht müssen. Das mag nachvollziehbar sein, birgt jedoch die verstörende Erfahrung, dass aus den Angeln gehoben ist, was hierzulande als "savoir vivre" geschätzt wird. Zumal die mediale Flankierung der großen Verunsicherung eine potenzierende Wirkung entfaltet und zugleich Teil derselben ist, wie das am Abend des 22. Juli einem phasenweise entprofessionalisierten Sendeablauf der ARD zu entnehmen war. Da wirkte selbst die professionelle Bestürzung nur noch schlecht gespielt, abgesehen von überforderten Reportern, zu Moderatoren umfunktionierten Nachrichtensprechern, häufigen Fehlschalten und der Präsentation längst bekannter Informationen in Endlosschleife. Wer sich ins Anti-Terror-Geschehen einklinkt, sollte sich darauf besser vorbereiten und nicht den Eindruck erwecken, im Feierabend- und Urlaubsmodus böse überrascht worden zu sein.

Außerdem gehört kein Gleichheitszeichen zwischen polizeiliche und mediale Tatkraft. Wer in einem Ausmaß berichtet, als sei die Berliner Mauer noch einmal gefallen, der verhindert nicht, der schafft auch einen Nährboden für Terrorismus oder zu allem entschlossene Gewaltverbrecher. Nachahmungstäter werden angeregt, einmal den großen Wurf zu landen und sich zum Maß dieser Maßlosigkeit zu erheben. Es wäre schon so viel erreicht, würde jetzt nach Nizza, Würzburg und München bitteschön kein Gesetz der Serie bemüht.

Opfer ihrer selbst?

Um auf die Sicherheitskräfte zurückzukommen - wer den größtmöglichen Einsatz fährt, hinterlässt eine größtmögliche Wirkung - das sei ausdrücklich nicht wertend gesagt, sondern sollte als Fazit und Beschreibung eines Dilemmas verstanden werden. Das sich nach München weiter aufbauende Gefühl der permanenten Bedrohung ist dazu angetan, das eigene Leben, aber auch den persönlichen Umgang mit einer überaus offenen, teils entgrenzten Gesellschaft zu beeinflussen - sprich: anders zu konditionieren als bisher. Es bleibt vollkommen unklar, wie sich dieser Bedrückung auf absehbare Zeit wieder entkommen lässt. Der mörderische Wahn von München, der Schauplatz, der Zeitpunkt, der jugendliche Täter und seine teils jugendlichen Opfer sind auch als Code zu nehmen. Wer ihn entschlüsselt, und das fällt nicht weiter schwer, wird das bestätigt finden, was nach 9/11 in New York und Washington zur Gewissheit wurde: Es gibt für hochkomplexe, moderne Gesellschaften ein sich weiter öffnendes Fenster der Verwundbarkeit. Auf Dauer lassen sich diese weder technisch, noch polizeilich, noch militärisch, noch rechtlich und politisch ausreichend schützen. Man muss nicht soweit gehen, diese Gesellschaften als Opfer ihrer selbst zu definieren, aber allein die urbane, unbeschwerte, oft hedonistische Lebensweise - das hat der 13. November 2015 in Paris gezeigt - birgt Sicherheitsrisiken. Staatliche Autorität kann den Menschen keinen Schutzumhang überwerfen, wie das wünschenswert erscheinen mag. Zumal die aufgeklärte Bürgergesellschaft ihr gewohntes Leben nicht im Hochsicherheitstrakt genießen will. Also muss sie mit dem leben, was dieses Leben immer weniger lebenswert macht. Welche Aufschlüsse die Ermittlungen zum Münchner Amokschützen auch immer geben werden, daran lässt sich schwerlich rütteln. 

Quelle: der FREITAG vom 23.07.2016. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

24. Juli 2016

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