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Vernichtungskrieg: “Kein Kommentar”

Selbst 75 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion will die Bundesregierung diesen nicht als Beginn eines rassistischen Vernichtungskrieges bezeichnen. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion hervor. Demnach handelt es sich beim Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 nach offizieller Lesart "um einen unprovozierten Angriffskrieg des ‘Dritten Reiches’" - andere "rechts- oder geschichtswissenschaftliche Auffassungen" werde man "nicht kommentieren". Die Haltung Berlins ist umso skandalöser, als zahlreiche verbrecherische Befehle der NS-Führung überliefert sind, in denen unmissverständlich die "Ausrottung" der "jüdisch-bolschewistischen Intelligenz" in der UdSSR angeordnet wird. Gleichzeitig weigern sich die deutschen Regierungsparteien, die von der Naziwehrmacht internierten sowjetischen Kriegsgefangenen als Opfer des NS-Regimes anzuerkennen; über einen entsprechenden Antrag der Linksfraktion im Deutschen Bundestag wurde bis heute nicht entschieden. Mehr als drei Millionen gefangene Rotarmisten kamen im deutschen Gewahrsam ums Leben - sie starben an Hunger, vermeidbaren Krankheiten oder wurden gezielt ermordet. Insgesamt forderte der von Deutschland ausgehende Krieg auf sowjetischer Seite 27 Millionen Opfer, davon etwa 18 Millionen Zivilisten.

Jüdisch-bolschewistische Intelligenz beseitigen"

Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Deutschen Bundestag hervorgeht, weigert sich Berlin, den deutschen Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 als Beginn eines rassistischen Vernichtungsfeldzugs zu bezeichnen. Auf die Frage der Abgeordneten, ob die Bundesregierung die Auffassung teile, "dass der Überfall auf die Sowjetunion ein Angriffskrieg war, den Nazideutschland ‘ohne jede Not eröffnet’ und von ‘vornherein als rassenideologischen Vernichtungskrieg’ konzipiert hatte", hieß es Ende Mai wörtlich: "Nach Einschätzung der Bundesregierung handelte es sich bei dem Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 um einen unprovozierten Angriffskrieg des ‘Dritten Reiches’. Im Übrigen ist es nicht Aufgabe der Bundesregierung, rechts- oder geschichtswissenschaftliche Auffassungen zu kommentieren."Deutscher Bundestag. Drucksache 18/8532, 25.05.2016. Die Haltung Berlins spricht den Ergebnissen der geschichtswissenschaftlichen Forschung Hohn, die immer wieder auf den verbrecherischen und eliminatorischen Charakter des deutschen Krieges gegen die UdSSR aufmerksam gemacht hat. So erklärte Hitler selbst schon Anfang März 1941, die "jüdisch-bolschewistische Intelligenz" in der Sowjetunion müsse durch den kommenden Krieg "beseitigt werden".Zitiert nach: Israel Gutman u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1995.

"Sofort mit der Waffe erledigen"

Es folgte eine ganze Reihe von verbrecherischen Befehlen, die die Wehrmachtsführung noch vor dem von ihr als "Unternehmen Barbarossa" bezeichneten Überfall auf die UdSSR erließ. Gemäß den auch als "Kommissarbefehl" bezeichneten "Richtlinien für die Behandlung der politischen Kommissare" vom 6. Juni 1941 waren die politischen Instrukteure der Roten Armee im Falle ihrer Ergreifung "sofort mit der Waffe zu erledigen". Der "für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz" finde auf sie "keine Anwendung", hieß es.Zitiert nach: Israel Gutman u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1995. Der "Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa" vom 13. Mai 1941 verfügte, dass von Wehrmachtsangehörigen gegen Zivilisten begangene Straftaten "nicht unter Verfolgungszwang" gestellt werden durften, und erklärte damit die sowjetische Bevölkerung de facto für vogelfrei.Zitiert nach: Wigbert Benz: Der Hungerplan im "Unternehmen Barbarossa" 1941. Berlin 2011. Die "Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland" vom 19. Mai 1941 schließlich verpflichteten die deutschen Soldaten auf den "Kampf … gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden".Zitiert nach: Wigbert Benz: Der Hungerplan im "Unternehmen Barbarossa" 1941. Berlin 2011. Zusammen mit dem vorgenannten "Kriegsgerichtsbarkeitserlass" führte der Befehl dazu, dass Hunderttausende Bürger der Sowjetunion ohne jeden Bezug zu Kampfhandlungen willkürlich ermordet wurden.

"Sonderaufgaben im Auftrag des Führers"

Durch die am 13. März 1941 erlassenen "Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung Barbarossa" erhielt zudem der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, besondere Vollmachten für "Sonderaufgaben im Auftrag des Führers, die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme ergeben".Zitiert nach: Wigbert Benz: Der Hungerplan im "Unternehmen Barbarossa" 1941. Berlin 2011. In der Folge stellte das Reichssicherheitshauptamt der SS vier "Einsatzgruppen" aus Angehörigen des Sicherheitsdienstes der SS (SD), der Polizei und der Waffen-SS auf. Ihre Aufgabe bestand darin, unmittelbar hinter der vorrückenden Wehrmacht alle als "jüdisch-bolschewistische" Feinde definierte Menschen umzubringen. Allein zwischen Ende Juni 1941 und April 1942 ermordeten die "Einsatzgruppen" mehr als 500.000 sowjetische Bürger, zumeist Juden. Dabei kooperierten sie eng mit dem deutschen Militär, wie das Massaker in der Schlucht Babi Jar Ende September 1941 zeigt. Zunächst druckte die Propagandakompanie der 6. Armee 2.000 Plakate, auf denen die Juden der ukrainischen Hauptstadt Kiew aufgefordert wurden, sich zur "Umsiedlung" einzufinden. Mehr als 33.000 Menschen leisteten dem Aufruf Folge; sie wurden in die Schlucht eskortiert und dort von der SS erschossen. Heerespioniere der 6. Armee sprengten danach die Wände der Schlucht ab, um die Leichenberge zu verdecken.

"Unnütze Esser"

Die Vernichtung der sowjetischen Juden war eingebettet in einen ausgeklügelten Hungerplan der deutschen Besatzer, den der Karlsruher Historiker Wigbert Benz präzise beschrieben hat. Siehe dazu unsere Rezension: Wigbert Benz: Der Hungerplan im "Unternehmen Barbarossa" 1941 . Demnach sollten die von der Wehrmacht okkupierten Gebiete der UdSSR "um Millionen ‘unnütze Esser’ bereinigt werden, um Nahrungsmittel für deutsche Interessen frei zu machen".Wigbert Benz: Der Hungerplan im "Unternehmen Barbarossa" 1941. Berlin 2011. Schon Anfang Mai 1941 legten die Staatssekretäre aller wirtschafts- und sozialpolitisch relevanten Ressorts bei einer Besprechung mit dem Chef des Wirtschafts- und Rüstungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht, General Georg Thomas, folgendes fest: "1. Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. 2. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird."Zitiert nach: Wigbert Benz: Der Hungerplan im "Unternehmen Barbarossa" 1941. Berlin 2011. Dieser Strategie entsprach auch das Vorgehen der deutschen Armee in Bezug auf die sowjetischen Großstädte: Sie wurden nicht etwa erobert, sondern eingeschlossen und gezielt ausgehungert, was alleine etwa eine Million Leningrader das Leben kostete.Nach Aussage des russischen Präsidenten Wladimir Putin zählte auch seine Mutter zu den in Leningrad von der Wehrmacht Eingeschlossenen. Wladimir Putin: Das Leben ist eine einfache und grausame Sache. www.faz.net 09.05.2015. Oftmals gingen Hungerpolitik und Holocaust Hand in Hand, wie Benz am Beispiel Sewastopols ausführt: "Die Hungersituation wurde vom dortigen Wirtschaftskommando bereits Anfang Dezember 1941 zum Anlass genommen, die ‘sofortige Lösung der Judenfrage’ zu fordern - und prompt wandte sich daraufhin das Oberkommando der 11. Armee an die SS-Einsatzgruppe, die Durchführung der Judenmorde zu beschleunigen."Wigbert Benz: Der Hungerplan im "Unternehmen Barbarossa" 1941. Berlin 2011.

Zwangsarbeiter

Parallel dazu rekrutierten die Beauftragten des von Hitler 1942 ernannten "Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz", Fritz Sauckel, Zwangsarbeiter in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Diese wurden ins Reichsgebiet deportiert; im Sommer 1944 belief sich ihre Zahl auf mehr als zwei Millionen. Oftmals kamen die sowjetischen Zwangsarbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie zum Einsatz, wo man sie ausschließlich zu äußerst schweren und gesundheitsschädlichen Tätigkeiten heranzog. Die sogenannten Ostarbeiter erhielten weit geringere Nahrungsmittelrationen als nicht-sowjetische Zwangsarbeiter; hochwertige Lebensmittel wie Käse, Milch, Eier und Butter wurden ihnen grundsätzlich vorenthalten. Zudem waren sie dem systematischen Terror von Wachmannschaften und Firmenmitarbeitern ausgesetzt. So heißt es etwa in einem offiziellen deutschen Untersuchungsbericht über die Zustände in einem Zwangsarbeiterlager des Degussa-Konzerns: "Hungrige Ostarbeiter werden wegen einiger gestohlener Kartoffeln vor den versammelten Lagerinsassen auf die unmenschlichste Art und Weise hingerichtet."Zitiert nach: Dietrich Eichholtz: Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft (unter besonderer Berücksichtigung der Rüstungsindustrie). In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln 2000.

Kriegsgefangene

Das schlimmste Schicksal traf allerdings die sowjetischen Kriegsgefangenen. Von 5,7 Millionen Rotarmisten in deutschem Gewahrsam kamen 3,3 Millionen ums Leben - sie starben an Hunger, vermeidbaren Krankheiten oder wurden gezielt ermordet. Wie der Historiker Dietrich Eichholtz urteilt, hegte das NS-Regime ihnen gegenüber eine "extreme politische Feindschaft, rassistischen Hass und eine oft unverhüllte Vernichtungsabsicht", galten sie doch offiziell als "Untermenschen".Dietrich Eichholtz: Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft (unter besonderer Berücksichtigung der Rüstungsindustrie). In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln 2000. Ihre Situation unterschied sich nicht wesentlich von der der KZ-Häftlinge; das Massenvernichtungsmittel Zyklon B, mit dem die SS allein in Auschwitz mehr als eine Million Menschen ermordete, wurde zuerst an ihnen "ausprobiert".

Nur symbolisch

Dessen ungeachtet weigert sich die Bundesregierung, die sowjetischen Kriegsgefangenen als NS-Opfer anzuerkennen. Über eine entsprechende Forderung der Linksfraktion im Deutschen Bundestag wurde bist heute nicht entschieden; die zugehörige parlamentarische Aussprache am 2. Juni dieses Jahres endete mit der "Überweisung" des Antrags an den Innen-, den Außen- und den Haushaltsausschuss.Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll 18/173, 02.06.2016. Gleichzeitig verwiesen die Redner der Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD auf die seit Mai 2015 für ehemalige sowjetische Kriegsgefangene bestehende Möglichkeit, vom Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen eine "symbolische finanzielle Anerkennungsleistung" in Höhe von 2.500 Euro zu erhalten.Anerkennungsleistung an ehemalige sowjetische Kriegsgefangene. www.badv.bund.de. Da von höchstens 4.000 "Antragsberechtigten" ausgegangen wird, beläuft sich die Gesamtsumme der zu zahlenden "Entschädigung" auf maximal zehn Millionen Euro. Zum Vergleich: 1997 stellte das Zentrum der Organisationen der Holocaust-Überlebenden in Israel fest, dass die BRD nach heutigem Wert jährlich knapp 6,5 Milliarden Euro für laufende monatliche Renten an "Kriegsopfer" zahlte - unter ihnen mehr als 78.000 ehemalige SS-Angehörige und andere NS-Verbrecher.Peer Heinelt: Die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter. Frankfurt a. M. 2008. www.wollheim-memorial.de.

Kein Gedenken

Passend dazu sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit, des heutigen 75. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die UdSSR zu gedenken. Auf die Frage der Linksfraktion im Bundestag, ob entsprechende Aktivitäten geplant seien, hieß es am 25. Mai dieses Jahres lapidar: "Weder im Inland noch im Ausland richtet die Bundesregierung entsprechende Gedenkveranstaltungen in Eigenregie aus. Damit wird die Frage nach einer Teilnahme von Regierungsvertretern hinfällig."Deutscher Bundestag. Drucksache 18/8532, 25.05.2016.

Quelle: www.german-foreign-policy.com   vom 22.06.2016.

Fußnoten

Veröffentlicht am

24. Juni 2016

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